Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 14: Zugeschlagene Türen

Mia war ziemlich weich gelandet. Sie war nämlich bäuchlings auf Wilhelm gefallen. Der hatte leider weniger Glück gehabt und war mit der Stirn auf einer Kante aufgeschlagen. Dass Mia jetzt auf ihn fiel, hatte die Situation nicht verbessert. Sein Schädel dröhnte. Mia kletterte von ihm herunter und sah ihn an. „Willi?“, fragte sie. Da hob er langsam den Kopf. Seine Brille saß schief auf seiner großen Nase, einer der Bügel war ziemlich verbogen, aber sonst schien es ihm gutzugehen. Mia atmete erleichtert auf und lächelte Wilhelm an.

Der hatte nach einer kurzen Orientierungsphase bereits festgestellt, dass die zwei wieder im Bücherschrank gelandet waren. Für einen Moment fragte er sich, warum der Ausstieg aus den Büchern immer auf so unsanfte Weise erfolgen musste, wenn sie so einfach durch Türen zu betreten waren. Dann sah er aber ein, dass es wenig Sinn machte, Zauberei zu hinterfragen. Er nahm seine Brille ab und bemühte sich, den krummen Bügel wieder geradezubiegen.

Mia hatte inzwischen ihre Handschuhe aus dem Rucksack genommen und reichte Wilhelm seinen Schal. Dann trat sie an die Acrylglasscheibe der Bücherschranktür heran. Draußen war es hell und zu ihrem Entsetzen lag dort kein Schnee.

„Willi! Der Schnee ist weg!“, rief sie und drückte ungläubig die Nase gegen das Glas, „Wir haben Weihnachten verpasst!“. Man hörte, dass sie gleich anfangen würde zu weinen. Wilhelm trat hinter sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Nein, haben wir bestimmt nicht.“, sagte er, „Siehst du, alle Fenster sind geschmückt, da vorne steht ein Weihnachtsbaum. Ich glaube, ich kann sogar Lebkuchen riechen!“. Der letzte Teil war geflunkert gewesen, aber Wilhelm konnte seine kleine Freundin einfach nicht traurig sehen. Offensichtlich war es die Notlüge wert gewesen, denn Mia sah schon viel weniger unglücklich aus. „Ja, stimmt. Ich bin froh, dass du da bist, Willi!“, sagte sie und umarmte ihn.

Eine Weile beobachteten sie, was um den Bücherschrank herum vor sich ging. Sie hatten so viele unglaubliche Dinge erlebt, dass ihnen diese ganz normale Welt jetzt völlig verrückt vorkam. Zwischendurch war eine Gruppe Schulkinder an ihnen vorbeigelaufen, die sich über ihre Wunschzettel für das Christkind unterhalten hatten. „Nur noch zehn Mal schlafen!“, hatte eins von ihnen freudig gerufen. Wilhelm, der schon immer ein besonders helles Köpfchen gewesen war, hatte so herausgefunden, dass heute der vierzehnte Dezember sein musste. Mia war sehr beeindruckt.

Eilig hatte Wilhelm die Schriftrolle aus dem Rucksack geholt und sie komplett ausgerollt. „Hab ich’s mir doch gedacht!“, rief er schließlich triumphierend. Mia hatte ihn schon die ganze Zeit neugierig beobachtet. „Was denn?“, fragte sie jetzt. „Inzwischen ist etwas mehr als die Hälfte des Blattes weiß. Ziemlich genau Vierzehn Vierundzwanzigstel, würde ich sagen!“, antwortete er und sah Mia erwartungsvoll an, blickte aber in ein verständnisloses Gesicht. Wilhelm, der sich noch nicht ganz daran gewöhnt hatte, Dinge vereinfacht zu erklären, dachte kurz nach. „Bis Heiligabend müssen wir die BOKX geöffnet haben, das sind noch zehn Tage.“, sagte er schließlich.

„Was ist denn sonst?“, fragte Mia mit leiser Stimme. Wilhelm sah sie an. „Das weiß ich auch nicht, aber wir sollten es nicht riskieren.“, sagte er dann. In den meisten Geschichten, die er kannte, wurden Flüche dauerhaft, wenn sie nicht gebrochen wurden, aber er wollte Mia nicht weiter verunsichern. „Wir haben ja noch Zeit, am besten gehen wir sofort in das nächste Buch!“, sagte er stattdessen. Er rollte die Schriftrolle wiederzusammen und verschloss sie mit dem roten Band. Dann steckte er sie zurück in den Rucksack. Mit gerunzelten Augenbrauen betrachtete er einige Sekunden lang die BOKX darin.

Mia war inzwischen einige Schritte an den Buchrücken entlanggelaufen und hatte ein Buch entdeckt, das ihr besonders gefiel. Es war etwas kleiner als die meisten anderen und hatte einen hübschen Einband mit goldenen Verzierungen. Sie sah Wilhelm fragend an, der ihr zunickte und hinter sie trat. Dann drückte sie sachte die Klinke herunter.

In diesem Buch war es dunkel. Nur ein einziger Scheinwerfer erhellte den Raum. Sein gleißender Lichtstrahl ruhte auf einer jungen, rothaarigen Frau. Sie saß mit dem Rücken zu ihnen an einem großen, tiefschwarzen Konzertflügel und hatte sich leise geräuspert, bevor sie nun den Kopf tief senkte. Als sie ihn einige Sekunden danach wieder hob, begannen ihre schlanken, weißen Finger wie Lichtpunkte auf einer spiegelnden Wasseroberfläche über die Tasten zu tanzen und Musik erfüllte den Raum. Die Melodie, die sie spielte, hatte ganz zart und langsam begonnen. Nun aber schwollen die Töne zu einer solchen Intensität an, dass Mia sich fühlte, als würde sie plötzlich ein ganzer Ozean wohlklingender Gefühle umspülen. Sie wollte gerade ihre Augen schließen, um sich vollkommen darin treiben zu lassen, als Wilhelm sie ruckartig aus dem Türrahmen zog und die Tür ins Schloss fallen ließ. Für einige Sekunden klangen noch dumpfe Töne aus dem Buch, die nun leise verebbten.

„Das sind nur Klaviernoten. Das bringt uns nicht weiter.“, sagte Wilhelm schroff und vermied es, Mia direkt anzusehen. Mit einer unauffälligen Bewegung wischte er sich über die Augenwinkel. „Aber es war doch schön!“, antwortete Mia verwundert. Sie hatte noch nie verstehen können, warum die Erwachsenen sich keine Zeit für schöne Dinge nahmen und warum sie glaubten, dass das ihnen „nichts brächte“, wie sie immer sagten.

Sie schob ihre kleine Unterlippe vor und streckte trotzig die Hand nach dem Türgriff aus. „Mia. Bitte.“, sagte Wilhelm. Seine Stimme hatte zwar drohend, aber auch ganz schwach geklungen. „Aber warum nicht?“, fragte Mia. Sie hatte die Unterlippe noch immer vorgeschoben, aber sie merkte, dass sie Wilhelm jetzt lieber nicht ärgern sollte. Er sah traurig aus. „Nur fünf Minuten! Du hast doch gesagt, wir haben noch zehn Tage Zeit!“, versuchte sie es noch einmal. Aber Wilhelms Gesicht hatte inzwischen einen versteinerten Ausdruck angenommen.

„Es tut mir leid, aber wir gehen weiter.“, sagte er. Sein Tonfall war so harsch, dass Mia fast zusammengezuckt wäre. So kannte sie ihn gar nicht – er war zwar immer irgendwie grummelig gewesen, aber eine Bitte hatte er ihr noch nie abschlagen können. Sie verstand nicht, warum, aber sie fühlte in ihrem Herzen, dass es nicht richtig wäre, ihn weiter überreden zu wollen. Stattdessen nahm sie seine Hand. „Ich wollte dich nicht wütend machen.“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Ich bin auch nicht wütend.“, antwortete Wilhelm nachdenklich. Dann gingen die beiden Hand in Hand die Buchreihen entlang und schwiegen eine ganze Zeit lang.

„Wie wäre es mit diesem?“, fragte Wilhelm nach einer Weile. Er zeigte auf ein Buch, das ganz am Ende der Reihe stand. Es lehnte leicht schief an seinem viel größeren Nachbarn. Mia nickte, dann öffnete Wilhelm die Tür und sie steckten ihre Köpfe hinein.

Sie sahen auf eine große, sandbedeckte Fläche. Entfernt erhoben sich einige rote Felsen aus der Landschaft. Ein paar vereinzelte Kakteen und trockene Pflanzen standen in der glühenden Sonne herum. Mia und Wilhelm drehten ihre Köpfe nach links, von wo sie lautes Hufgetrappel hörten. Eine Staubwolke nahte am Horizont heran. Dann ritt rasend schnell ein Mann an ihnen vorbei. Er hatte einen nackten Oberkörper und trug sein glänzendes schwarzes Haar zum Zopf gebunden. Ohne Sattel saß er auf seinem Pferd und preschte mit lautem Geheul vorüber.
Plötzlich fielen Schüsse.

Wilhelm zog Mia aus der Tür und knallte sie vor ihrer Nase zu. „Das ist bestimmt ein Buch von Karl May.“, sagte er, „Viel zu gefährlich!“. Mia machte große Augen und nickte energisch. Dann zeigte sie auf das Buch, das gleich danebenstand.

Wilhelm öffnete die Tür.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder

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