Was ist Zeit?

Jetzt standen sie also zu dritt auf einer Straße, irgendwo in einem Buch, von dem keiner wusste, welches es war. Wilhelm schaute zu Kalle hinüber und konnte sehen, wie verzweifelt er war. Obwohl Kalle sich große Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen. „Kalle, Kopf hoch, du darfst jetzt nicht aufgeben. Wir werden es schaffen!“ Kalle dachte nur: „Du hast gut reden, alter Mann. Deine beste Freundin ist ja auch nicht in der Hand eines Mörders.“, und versuchte, sich selbst Mut zu zu sprechen. Wie heißt es so schön: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

Mia sah die beiden an und hielt sich raus, aber auch sie hatte gemerkt, dass Kalle immer weniger daran glaubte, dass er in sein Buch zurückkam und Eva-Lotta retten könnte. Schließlich sagte sie: „Wir müssen so schnell wie möglich weg. Es darf uns niemand sehen. Auch wenn wir den Vergessenzaubertrank haben, können wir nicht jedem, dem wir begegnen, welchen geben. Wir müssen ihn sorgsam verwenden.“ Wilhelm wusste, dass Mia Recht hatte. Sie sollten, soweit wie möglich, sich an diese magische Regel halten. Aber wie weiter? „Wilhelm, wie bist du überhaupt in dieses Buch gekommen? Du kannst es dir ja nicht gewünscht haben, sonst wüsstest du doch, wie es heißt.“ Wilhelm dachte nach, aber er wusste nur noch, dass er sich gewünscht hatte zu Dumbledore zu kommen und dann plötzlich vor dem Kamin in dem Arbeitszimmer stand. Was war da schiefgelaufen? Warum war er da gelandet, wo er gelandet war? Fragen über Fragen, und er wusste keine Antwort. Er wünschte sich so sehr, dass er endlich hinter das Rätsel der Magie kommen würde, denn dann wären sie schon ein großes Stück weiter

Als Ältester hatte er die Verantwortung für die Kinder. Daher riss er sich zusammen und sagte zu den Beiden: „Wir müssen weiter. Hat einer von euch eine Idee, wie wir aus diesem Buch rauskommen? Und das möglichst schnell.“ „Kannst du uns nicht einfach rauslesen?“ fragte Mia. „Mia, manchmal bist du wirklich zu dumm!“. In dem Moment, wo Kalle es gesagt hatte, tat es ihm auch schon leid. „War nicht so gemeint!“ „Wir wissen, dass Mia nicht dumm ist, aber ich kann uns tatsächlich nicht rauslesen. Das Buch ist so groß, dass ich nicht lesen kann, was am Seitenanfang steht. Um vorlesen zu können, muss ich ein Buch in der Hand halten können.“ Alle drei grübelten weiter, bis Wilhelm schließlich sagte: „Es sieht so aus, als ob unsere einzige Chance ist, dass wir eine Tür finden, durch die wir rausfinden. Auf geht’s, lass uns suchen!“ „Aber wie soll hier eine Tür sein? Wir stehen mitten in einer Landschaft. Da gibt es keine Türen“, antwortete Kalle gereizt. „Manchmal findest du Türen, wo du sie gar nicht vermutest. Und jetzt los. Wir haben nicht ewig Zeit!“ Jeder von ihnen ging in eine andere Richtung und schaute ganz genau, ob nicht irgendwo eine Tür zu sehen sei. Mia lief über die Weide, welche rechts von der Straße war. Als sie schon eine Weile gesucht hatte, ging sie noch ein kleines Stück weiter und stieß plötzlich an etwas. Was war das? Es war nichts zu sehen, aber ganz offensichtlich wurde ihr Weg von etwas versperrt. „Kalle, Wilhelm kommt her! Ich glaube, dass ich etwas gefunden habe.“, rief sie ganz aufgeregt. Die beiden kamen und ziemlich schnell stand fest, dass sie wohl vor einer unsichtbaren Mauer standen. „Wenn hier eine Mauer ist, dann muss hier auch eine Tür sein. Kalle betrachtete eine Sonnenblume, die vor ihm stand. Vielleicht war es ja gar keine echte Sonnenblume, sondern nur ein Bild auf der unsichtbaren Mauer. Vielleicht war ja die schwarze Mitte der Blume ein Türknauf. Vorsichtig bewegte er seine Hand so als ob er einen Knauf einer Tür berühren wollte. In dem Augenblick wo er die Mitte der Sonnenblume erreichte spürte er den Knauf und drehte ganz langsam. „Mia, Wilhelm! Ich habe die Tür gefunden. Kommt, lass uns wieder in den magischen Bücherschrank gehen.“ Als die beiden bei Kalle waren, drehte dieser den Knauf und die Tür ging auf.

So schnell wie sie konnten, waren sie durch die Tür hindurch gegangen. Vielleicht hätten sie erst schauen sollen, wohin die Tür ging. Denn dann hätten sie vielleicht gemerkt, dass die Tür nicht in die BOKX führte. Nun standen sie Mitten in einer Winterlandschaft. Für Wilhelm und Mia war es nicht so ein Problem wie für Kalle. Denn sie hatten ja Winterkleidung an, aber Kalle, der im Sommer aus dem Buch gefallen war, fror entsetzlich. Doch das konnte Wilhelm nicht mit ansehen. Er gab Kalle seinen Mantel. „Gut, dass ich heute tatsächlich mal mein Jackett angezogen habe“, dachte Wilhelm und holte für sich trotzdem die Decke aus seinem Lederbeutel, den er seit dem Sommernachtstraum bei sich trug. Alle drei schauten sich jetzt um.  Sie konnten sagen, dass Tag war und es musste tiefster Winter sein, bei den Schneemassen um sie herum. Vielleicht sollten sie zunächst einmal einen Platz suchen, der windgeschützt war. Denn der Wind blies ihnen eisig um ihre Nasen.

Nicht weit von ihnen entfernt standen vier Kiefern ganz dicht beieinander, so dass es den Anschein hatte, als ob die Äste ein natürliches Dach bildeten. Und tatsächlich, als sie zwischen den Bäumen standen, war kein Schnee zu sehen. Dafür war der Boden mit einer dicken Schicht Kiefernadeln bedeckt. Und anscheinend waren sie nicht die ersten, die hier Schutz suchten. Irgendjemand hatte drei Baumstümpfe aufgestellt und zwischen ihnen stand ein etwas größerer Stumpf, auf dem eine große Holzplatte lag. „Da hat aber jemand mitgedacht. Jetzt lass uns erst einmal hinsetzten und dann beraten wir, wie es weiter gehen soll.“ Wilhelm setzte sich an einen der drei Baumstümpfe und war glücklich, dass er sitzen konnte. Es viel ihm immer schwerer lange zu stehen oder zu laufen. Das waren die Momente, wo er sein Alter spürte. Aber er hütete sich davor, sich zu beklagen. Nach anfänglichem Zögern nahmen auch Mia und Kalle Platz. „Wilhelm, wo sind wir?“, kam es leise von Mia. „Mia, ich habe absolut keine Ahnung. Aber irgendwie erinnert es mich an etwas. Lass mich mal einen Augenblick nachdenken!“ Mia und Kalle warteten voller Spannung und es war kaum auszuhalten. Warum brauchte er nur so lange? Oder lag es an seinem Alter, dass er nicht zu Potte kam? Mia rutschte schon ganz unruhig auf ihrem Baumstumpf hin und her. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus: „Mensch, Wilhelm, wie lange brauchst du denn um nachzudenken?“ „Nicht so ungeduldig, ich habe doch gerade erst angefangen nachzudenken.“ Normalerweise würde Kalle ihm jetzt zustimmen. Denn er war ja schon die ganze Zeit der Meinung, dass Mia viel zu ungeduldig war. Aber jetzt war nicht „normalerweise“. Seine Zeit wurde immer knapper und Wilhelm versuchte sich zu erinnern, woran ihn das hier erinnerte.

Doch da schaute Wilhelm die Beiden mit einem strahlenden Lächeln an und fing zu erzählen an: „Als ich ungefähr so alt war, wie Kalle heute, bekam ich ein Buch zu Weihnachten geschenkt. Die Geschichte spielte in England während des zweiten Weltkrieges. Zu der Zeit wurden viele Kinder aufs Land geschickt. So auch die vier Geschwister, um die es in der Geschichte ging. Es waren zwei Brüder und zwei Schwestern. Ich glaube, sie kamen zu einem alten Professor, der in einem riesigen Haus zusammen mit seiner Haushälterin lebte. Es war ein Paradies für die Vier. Denn im Prinzip konnten sie machen und tun, was sie wollten. An einem Regentag spielten sie Verstecken und die Kleinste von ihnen kletterte in einen Schrank. Sie ging immer weiter nach hinten und statt der Rückwand spürte sie plötzlich Schnee unter ihren Füßen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Wie war das möglich.“ „Durch Magie!“, antwortete Mia. „Wilhelm, das ist ja genau wie bei uns. Waren die Kinder auch in einem magischen Bücherschrank?“ „Mia, du musst zuhören! Wilhelm erzählt doch die Geschichte, die er in einem Buch gelesen hat.“, fiel ihr Kalle ins Wort. Zickig, wie kleine Mädchen manchmal sind, antwortete sie: „Trotzdem ist da Magie! Stimmt doch, Wilhelm?“ „Lass mich erst mal weitererzählen.“

Als das kleine Mädchen nun so verloren dastand, wusste sie nicht, was sie tun sollte. So entschied sie sich weiter zu gehen. Nach einigen Minuten stand sie plötzlich vor einer Straßenlaterne.“ „Eine Straßenlaterne mitten im Wald? Wer soll denn so einen Blödsinn glauben?“ „Oh, Kalle, jetzt bist du aber blöd. Das ist eine Geschichte! Und in Geschichten kann alles passieren. Selbst wenn es total komisch ist und keinen Sinn ergibt.“ „Aber Mia, willst du nicht wissen, warum mitten im Wald eine Straßenlaterne steht? Das ist doch äußerst verdächtig.“ Kalle schrieb in Gedanken die Frage der Straßenlaterne auf die Liste der unbeantworteten Fragen. Um die wollte er sich kümmern, nach der erfolgreichen Befreiung von Eva-Lotta. Wobei es inzwischen wahrscheinlich „missglückten Befreiung“ heißen musste.

Doch Mia und Kalle wollten wissen, wie es weiterging und blickten gespannt zu Wilhelm. „Während die Kleine dastand, sah sie jemanden auf sich zukommen. Es war kein Mensch, aber was genau es war, wusste sie nicht. Später erfuhr sie, dass es ein Faun war. „Ein was?“, fragten Beide wie aus einem Mund. „Habt ihr noch nie etwas von einem Faun gehört?“ „Nee, dass gehört in Schweden nicht zur Schulausbildung.“, und Mia schüttelte nur den Kopf. „Oje, wie erklär ich euch das jetzt nur? Ich kann mich nämlich nicht mehr daran erinnern, wie der Faun in dem Buch beschrieben wurde. Ach, ich erzähle erst mal weiter. Um es kurz zu machen. Die Kleine und der Faun gingen zu ihm nach Hause und verbrachten viel Zeit miteinander. Aber irgendwann musste sie wieder zurück. Als sie dann durch den Kleiderschrank zurückkam, lief sie schnell zu den anderen und sagte, dass ihr nichts passiert sei. Die anderen schauten sie nur verwundert an, denn die sie hatten sie doch gerade vor einer halben Minute noch gesehen.

„Einen Augenblick mal. Wie soll das gehen? Eine halbe Minute, das sind 30 Sekunden. Nicht mehr und nicht weniger!“ „Oh, Kalle! Warum soll es nicht unterschiedliche Zeiten geben in zwei Welten?“, stöhnte Mia. „Weil die Zeit festgelegt ist. Das ist doch ganz logisch!“ „Kalle, du hast Recht. Unsere Zeit ist ganz genau definiert, aber es ist eine von Menschen gemachte Definition. Kam dir noch nie eine Stunde ewig lang vor?“ „Doch, unsere Mathestunden gehen immer ewig, obwohl jede nur eine Stunde dauern.“ Wilhelm schaute Kalle an und sagte dann: „Ja, Zeit kann man ganz unterschiedlich empfinden. Wenn man auf etwas wartet, wie zum Beispiel auf das Ende der Mathestunde, kann uns die Zeit sehr lang vorkommen. Auf der anderen Seite, wenn uns etwas ganz viel Spaß macht, ist die Zeit plötzlich vorbei und wir müssen nach Hause.“

In der Geschichte konnten die älteren Geschwister es auch nicht verstehen und hatten Angst um ihre kleine Schwester. Daher gingen sie zu dem Professor und baten ihn um Rat. Dieser meinte, dass sie ihrer Schwester vertrauen sollten. Und was das Problem mit der Zeit betraf, gab er den Kindern eine sehr kluge Antwort. Den genauen Wortlaut bekomme ich nicht mehr zusammen. Sinngemäß sagte er, dass in einer anderen Welt eine ganz andere Zeit sein könnte. So dass man Stunden in der anderen Welt verbringen würde, während in unserer Zeit nur wenige Sekunden vergangen wären.“

„Könnte es sein, dass wir schon seit Stunden oder Tagen hier im magischen Schrank sind, und dass die Zeit in Kleinköping gerade mal ein Wimpernschlag vergangen ist?“, fragte Kalle ganz aufgeregt und merkte, wie neue Hoffnung in ihm aufkeimte. „Das weiß ich nicht, Kalle.“, sagte Wilhelm ganz vorsichtig, um den Jungen nicht gleich wieder zu enttäuschen. „Um das herauszufinden müssen wir erst mal ergründen, wo wir sind. Und wenn wir das wissen, müssen wir einen Weg finden, der uns in die BOKX und zu deinem Buch führt.“