Eselskopf und Hochzeit

Wilhelm schlug die Augen auf und wusste im ersten Moment nicht, wo er war. Er lag auf einem weichen Kissen und war mit einer warmen Decke zugedeckt, aber sein Rücken tat ihm weh. In seinem Bett war er nicht, aber wo war er? Er schaute nach oben und sah ganz viel Gestrüpp über sich. Dann fiel es ihm wieder ein. Mit einem Mal war er hellwach. „Kuncz”, rief er. Keine Antwort. Hektisch griff er um sich. Der große Lederbeutel lag da. Er griff ihn und schaute rein. Die Schriftrolle und das Geldsäckchen waren weg. Blanke Panik überkam ihn. Nun war er allein in einem Wald, den er nicht kannte. In einem Buch oder besser einem Theaterstück, welches er nicht verändern durfte. Dazu ohne Schriftrolle und keine Ahnung, wie er aus diesem Schlamassel wieder rauskommen sollte. Ehe er weiter über seine vertrackte Situation nachdenken konnte, hörte er Stimmen. Er duckte sich vor lauter Schreck, hielt sich die Hand vor den Mund und lugte vorsichtig durch das Gestrüpp in Richtung Eiche.

Er hörte die Handwerker unter der Eiche ihr Stück für den Herzog proben und Wilhelm überlegte, wie diese Szene im Sommernachtstraum weiterging. Gerade unterhielten sie sich darüber, dass das Stück „Pyramus und Thisbe” zu brutal für die Hochzeitsgäste des Herzogs wäre. Er hörte eine Stimme sagen: „Ich glaube, wir müssen das Totmachen lassen”. Shakespeare hatte schon sehr komische Ausdrücke. Aber es stimmt, erinnerte sich Wilhelm, das waren ihre Überlegungen. Wie ging es weiter mit dieser Szene unter der Eiche? Wilhelm wusste noch, dass Irgendwann der Handwerker Zettel aus der Szene verschwand und später mit einem Eselskopf, welchen er dem Zauber des Elfen Pucks zu verdanken hatte, zurückkam und von Puck begleitet wurde. Dieser war für die anderen Handwerker unsichtbar. Sie sahen also nur Zettel und erschraken so, dass sie Hals über Kopf aus dieser Szene verschwanden. Wilhelm musste unbedingt unauffällig den anderen Handwerkern folgen, denn sonst wäre er mitten im „Sommernachtstraum”. Elfenkönigin Titania würde aufwachen und sich in Zettel mit dem Eselskopf verlieben und ganz viele Elfen würden an der Eiche sein. Dann entdeckt zu werden, wäre sehr wahrscheinlich und viel zu gefährlich. Außerdem wüßte er dann nicht, wie er in den Ort zurückkäme.

Während die Handwerker diskutierten, packte er Kissen und Decke in den Lederbeutel und krabbelte aus dem Gebüsch. „Man müsste noch mal 20 sein!”, dachte er während er versuchte seine steifen Gelenke zu bewegen. Er stellte sich die Frage, an welcher Stelle er auf die Handwerker warten sollte. Die Straße zum Ort war gegenüberliegend von der Lichtung. Er vermutete, dass sie in Richtung Ort verschwinden würden. Bei Aufführungen im Theater gingen sie einfach nur von der Bühne. Also ging er ganz leise ein Stück in den Wald und machte einen großen Bogen um die Lichtung herum, bis er wieder an den Weg zum Ort kam. Er versteckte sich hinter einem Baum und lauschte der Probe unter der Eiche.

„Pyramus -tretet auf. Euer Stichwort ist schon da gewesen; es ist “ermüdet auch.” Das war die eine Stimme. Prompt hörte er eine andere Stimme etwas genervt: „Uff, so treu wie´s treuste Pferd, das nie ermüdet auch”. Eine weitere Stimme sprach in einem feierlichen Ton: „Wenn, Thisbe, ich wär schön, so wär ich einzig dein.” Wilhelm dachte, dass das alles ganz schön geschwollen ausgedrückt war, aber so hat es Shakespeare nun mal geschrieben. Tja, die Sprache Shakespeares!  Der „Sommernachtstraum“ war eine Komödie. Geschrieben in einer sehr anstrengenden Sprache, aber Wilhelm fand sie trotzdem sehr lustig.

Dann hörte er die erste Stimme laut rufen: „Oh gräulich! Schrecklich! Es spukt hier. Ich bitt euch Meister lauft! Meister lauft! Hilfe!” Wilhelm sah, wie glücklicherweise von ihm angenommen, eine Gruppe von Männern in seine Richtung gelaufen kamen. Zu Wilhelms Verwunderung stoppten sie. Warum liefen sie denn nicht weiter? Sie mussten doch die Szene verlassen. So stand es geschrieben. Er wurde sehr unruhig. Sollte sein Plan doch nicht aufgehen? Jetzt wurde Wilhelm richtig panisch. Einen Plan B hatte er nicht. Er sah, dass erst ein Mann und dann noch ein zweiter Mann umkehrten. Er lauschte angestrengt, um zu verstehen, was sie sagten. Der erste Mann ging zurück unter die Eiche und jetzt konnte Wilhelm auch den Eselskopf sehen. Einen Moment war er irritiert, denn in den Aufführungen, die er vom Sommernachtstraum gesehen hatte, war der Eselskopf nur eine Maske, aber dieser Eselskopf war echt, genauso hatte er sich das immer vorgestellt.  Der Mann mit dem Eselskopf machte ein lautes „iiiiaaa” und im selben Tonfall ging es weiter: „Warum laufen sie weg? Dies ist eine Schelmerei von ihnen, um mich fürchten zu machen.” „O Zettel. Du bist verwandelt. Was sehe ich an dir?”, sagte der erste Mann, der zurückkam. Zettel antwortete sehr mürrisch „Was siehst du? Du siehst deinen eigenen Eselskopf. Nicht?“ Wilhelm fragte sich, was Zettel damit meinte, denn der andere Mann hatte keinen Eselskopf. Der Handwerker drehte sich um ging wieder zurück zur Gruppe. Jetzt schrie der zweite Mann jammernd: „Gott behüte dich, Zettel! Gott behüte dich! Du bist transferiert!”. Er liess Zettel einfach stehen und rannte auch zurück zur Gruppe.  Sie liefen in Richtung Ort und Wilhelm mit etwas Abstand hinterher. Sie waren so aufgeregt über das, was mit Zettel passiert war, dass sie zu Wilhelms Glück überhaupt nicht wahrnahmen, was hinter ihrem Rücken passierte.

Sie waren alle junge kräftige Männer, so dass es für Wilhelm sehr schwierig war, Schritt zu halten. Sein Herz klopfte bis zum Hals und er war völlig außer Atem. Der Versuch, leise zu atmen hatte zur Folge, dass ihm ganz schwindlig wurde. Also fuhr er fort, wie eine Dampflok zu schnaufen. In dem Moment war es ihm egal, ob sie ihn nun sahen oder nicht. Es ging eben einfach nicht leiser. Er war schweißgebadet und Wams und Hose aus Wolle kratzten furchtbar. Endlich sah er in der Ferne den Ort. Er war so glücklich darüber, dass er fast vor Freude aufgeschrien hätte, aber nur fast. Nun konnte er die Handwerker weiterziehen lassen.

Er hatte sich die ganze Zeit so auf diese Gruppe von Handwerkern konzentriert, dass er keine Zeit gehabt hatte, über seine ganze Situation nachzudenken. Was genau war seine Situation? Er hatte keine Ahnung, wie er aus dem Sommernachtstraum kommen sollte. Seine Idee, dass das am Ende des des gesamten Stückes passieren könnte, war als Plan nur sehr wage gewesen. Die Schriftrolle war weg. Ohne sie konnte er auf keinen Fall den Sommernachtstraum verlassen. Also selbst wenn jetzt genau hier eine Tür auftauchen würde, könnte er sie nicht benutzen. Die Schriftrolle hatte zwar mehr Fragen als Antworten aufgeworfen, dennoch hatte sie ihm Essen, Trinken, Geld, Kissen und Decke beschert. Magie war nicht vorhersehbar, also machte es ihm auch Sorgen, was wohl Kuncz mit der Schriftrolle anfangen könnte. Er spielte im Sommernachtstraum im wahrsten Sinne des Wortes keine Rolle, aber nun kam er vielleicht auf die Idee, sich in den Ablauf einzumischen, schließlich war er sauer, dass man ihn nicht für diese Aufführung vor dem Herzog eingeladen hatte. Wilhelm musste ihn so schnell wie möglich finden. Während sein Atem langsam wieder zur Ruhe kam, nahm er den Lederbeutel und suchte das kleine Pergament mit dem Gedicht. Erfreut sah er, dass es noch da war.  Er nahm es heraus. Für ihn war klar, dass das der Schlüssel zur Magie war:

Was ihr am liebsten wollt erleben

Sprich genau die zwei Worte

Den Zauber zu beleben.

Sie bringen Euch durch Zeit und Orte.

Welche zwei Worte? Es war zum Verrücktwerden. Er musste sie schon gesagt haben, denn er hatte durch die Magie der Schriftrolle Dinge erhalten, die er einem Moment wirklich brauchte oder sich sehr dringenden gewünscht hatte. Aber die Worte „dringend” und „wirklich” konnten es nicht sein. Er könnte wirklich magische Hilfe gebrauchen, aber was war, wenn Kuncz dann merkt, dass die Schriftrolle magische Kräfte hatte. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte. Er musste Kuncz finden, bevor der Vorhang für den Sommernachtstraum fallen würde.

Mit schnellen Schritten lief er über die holprige Straße zurück in den Ort. Am Ortsrand angekommen, versuchte er sich krampfhaft zu erinnern, welchen Weg er und Kuncz zum Wald gegangen waren. Dann fiel ihm wieder ein, dass Kuncz gesagt hatte, dass man ihn im Ort gut kenne. Er nahm die erstbeste Straße und hielt Ausschau nach Bewohnern. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass keine Menschenseele zu sehen war. Was war das denn jetzt wieder für eine Magie? Er blieb stehen und lauschte. In der Ferne hörte er Musik. Dann realisierte er, dass die ganzen Bewohner bei den Hochzeitsfeierlichkeiten des Herzogs waren. Das Fest hatte schon begonnen. Er musste sich beeilen. Er durfte auf keinen Fall das Ende verpassen. Er ging in die Richtung, aus der die Musik zu hören war. Sie wurde immer lauter und auf einmal sah er einen großen sehr festlich geschmückten Platz vor einer mittelalterlichen Burg, auf dem sich hunderte Menschen befanden. Sie tanzten, aßen und tranken und ein lautes Geschnatter war zu hören.  Direkt vor der Burg auf einem Podest saßen offensichtlich der Herzog Theseus mit seiner Braut. Sie beschauten sich vergnügt das Spektakel. Wilhelm war total ergriffen. Genau so hatte er sich ein mittelalterliches Fest vorgestellt. Er fing vergnügt an zu schunkeln, bis er auf einmal in dem ganzen Trubel eine bekannte Stimme raushörte. Er dreht sich nach links um und sah … Kuncz. Der amüsierte sich königlich, wahrscheinlich mit Wilhelms Goldtalern. Wilhelm ging auf ihn zu und packte ihn ganz fest am Arm. „Wo ist meine Schriftrolle?”, schrie er Kuncz ins Ohr. Kuncz versuchte sich aus Wilhelms Griff zu befreien, aber Wilhelm hatte alle seine Kraftreserven genau in diesen Griff gebündelt, zu wichtig war es, dass er die Schriftrolle wiederbekommen würde. „Die Taler kannst du behalten”, sagte Wilhelm mit lauter und fester Stimme, „aber ich brauche die Schriftrolle!” Kuncz meinte pampig: „Was wollt ihr, edler Herr, mit dem sinnlos leeren Stück Pergament?” Wilhelm stutze. Leer? Kuncz öffnete seinen eigenen Beutel und holte die Schriftrolle raus. Unwirsch drückte er die Schriftrolle an Wilhelms Brust. Wilhelm nahm sie und entrollte sie ein Stück. Er sah die ersten Sätze und rollte sie wieder zu. Vermutlich konnte Kuncz die magische Schrift nicht lesen. „Du bringst mich jetzt zurück zu deiner Herberge oder ich lasse dich in den Kerker stecken. Diese Vorstellung behagte Kuncz überhaupt nicht. Ohne das Wilhelm seinen Arm losließ, lief Kuncz los und schnell erreichten sie die Herberge, denn sie war direkt neben dem Platz. Wilhelm lies Kuncz los. Dieser verschwand wortlos sofort wieder im Getümmel.

Wilhelm öffnete die Tür. Der Raum war noch genauso wie er ihn verlassen hatte. Fast, denn die Tür war wieder da. Wilhelms Herz hüpfte vor Freude. Da er sich nicht sicher war, was die Magie mit seiner Kleidung machen würde, sobald er den Sommernachtstraum verlassen hat, zog er seine eigene Kleidung wieder an, ließ die kratzigen Wollsachen über dem Stuhl hängen. Mit Lederbeutel über der Schulter und Schriftrolle in der Hand drückte er die Klinke runter. Er hörte noch von Ferne Puck sagen: „Nun gute Nacht. Das Spiel zu enden. Begrüßt uns mit gewogenen Händen.“ Hatte Shakespeare das damals kompliziert ausgedrückt. Man könnte einfach sagen: „Los Leute, ganz viel Applaus für uns.“ Dann fiel die Tür leise in Schloss und Wilhelm stand im kalten und mittlerweile dunklen Bücherschrank. Jetzt konnte er das Pippi Langstrumpf Buch sowieso nicht erkennen. Mutig ging er einfach zum nächsten Buch und öffnete die Tür, die vor ihm erschien. „Am liebsten wäre ich jetzt doch bei Pippi Langstrumpf!” sagte er laut, doch wo würde er wohl landen?