Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 8: Die Zeit drängt

Wilhelm musste kurz seine Gedanken sortieren, bevor er die Augen öffnete. Er sah sich um und war erleichtert, sich unversehrt im Bücherschrank wiederzufinden. Noch immer hielt er den Rucksack so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel ganz weiß waren. Als er nun wieder festen Boden unter sich spürte, lockerte er seinen Griff.

Gleich neben ihm saß Mia und auch sie sah aus, als hätte auch sie den Sturz von der Klippe unbeschadet überstanden. Sie war noch etwas blass, aber die rosa Färbung ihrer Pausbäckchen kehrte langsam schon wieder zurück. „Puh!“, sagte sie nach einigen Sekunden, „Ich hatte richtige Angst!“. Dann fing sie an zu kichern. Wilhelm stimmte erleichtert mit ein, während er Mia eine weiche, weiße Gänsefeder aus dem Haar zupfte.

Um den Bücherschrank herum herrschte trübes, graues Winterwetter. Die wenigen Menschen, die auf den Straßen zu sehen waren, trugen so viele Schals und Jacken übereinander, dass von ihnen selbst meist nur eine frostige Nasenspitze zu sehen war. Gerade schneite es zwar nicht, aber es lagen noch einige Zentimeter Schnee, so dass nicht nur der Bücherschrank eine hübsche, kalte Mütze trug. Mia stand auf und drückte ihre kleine Nase an die Scheibe, die von ihrem warmen Atem gleich beschlug. Mit ihren winzigen Fingern zeichnete sie eine Sonne darauf. „Die könnten wir jetzt gebrauchen!“, sagte Wilhelm schmunzelnd und reichte Mia ihre Wintersachen, die er aus dem Rucksack genommen hatte. Dann holte er die BOKX heraus und betrachtete sie nachdenklich.

„Ich frage mich immer noch, was das alles bedeuten soll. Wie kriegen wir das Ding nur auf?“, sagte er, halb zu sich selbst und halb zu Mia, die gerade umständlich in ihre Fäustlinge schlüpfte und weiterhin das Treiben außerhalb des Bücherschrankes beobachtete. Er hielt sich die BOKX an sein linkes Ohr, schüttelte sie und begann dann mit der rechten Hand darauf herumzuklopfen, als könne er dadurch herausfinden, was es damit auf sich habe. Natürlich fand er so gar nichts heraus, also grummelte er unzufrieden und wollte die BOKX wieder im Rucksack verstauen, als Mia, die sich gerade wieder neben ihn gesetzt hatte, sie ihm aus der Hand nahm. Sie hielt sie sich ganz nah vor ihr Gesicht und betrachtete sie konzentriert von allen Seiten. Wilhelm sah ihr einige Sekunden lang zu, dann griff er in den Rucksack und holte die Schriftrolle heraus. Er hatte sie zwar schon genauer untersucht, aber vielleicht hatte er ja irgendetwas übersehen, dass ihnen helfen würde, die BOKX zu öffnen und in ihre normalen Leben mit ihren ganz normalen Körpergrößen zurückzukehren.
Vorsichtig löste er die rote Schleife.

Plötzlich schoss ein heftiger Windstoß durch den Bücherschrank. Mia, Wilhelm, der Rucksack und einige kleine, gelbe Reclam-Heftchen wurden durch die Luft gewirbelt und landeten einen Augenblick später unsanft in verschiedenen Ecken des Bücherschrankes. Erschrocken klammerten sie sich an einige schwere Bücher, erkannten aber gleich, dass die Gefahr bereits wieder vorüber war. Es war ein Passant gewesen, der ein Buch in den Bücherschrank gestellt hatte. In den wenigen Sekunden, als die Tür offenstand, hatte ein kräftiger Wind durch das Innere geblasen und die kleinen Abenteurer tüchtig durcheinandergewirbelt – beide hatten ihre Mützen verloren und der Inhalt des Rucksacks lag nun auf dem ganzen Zwischenboden verteilt. Eilig begannen sie, alles wieder einzusammeln, was darin gewesen war. Wilhelm bückte sich gerade nach der roten Schleife, als Mia, die der Schriftrolle hinterhergelaufen war, plötzlich einen spitzen Schrei ausstieß.

„Willi, guck mal!“, mit angstvollem Gesicht zeigte sie auf die Schriftrolle, die der Wind erstmals vollständig ausgerollt hatte. „Was ist denn?“, fragte der und hastete zwischen einigen Büchern entlang zu ihr herüber.

Die Schriftrolle war viel, viel länger, als sie zusammengerollt ausgesehen hatte. Tatsächlich war sie sogar so lang, dass Wilhelm sich wunderte, wie sie selbst im zusammengerollten Zustand in Mias kleinen Rucksack hineingepasst hatte. Zuoberst standen die Buchtexte zu Alice im Wunderland und der wundersamen Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen, darunter bestand der Text nur noch aus den merkwürdigen Schriftzeichen, die Wilhelm schon in Schweden bemerkt hatte. Allerdings schien es enorm viel Text zu sein. So viel, dass Wilhelm sich unwillkürlich zu fragen begann, wie viele Bücher in so einen Bücherschrank eigentlich hineinpassen und ob sie jemals wieder nach Hause kommen würden. Er beugte sich weiter zu der Schriftrolle herunter und betrachtete mit gerunzelten Augenbrauen die Schriftzeichen.

„Nein, Willi hier!“, riss ihn plötzlich Mia aus seinen Gedanken. Sie griff seine Hand und zog ihn einige Schritte mit sich. „Hier!“, sagte sie nochmal, sah Willi mit großen Augen an und zeigte auf das Ende der Schriftrolle. Wilhelms Blick folgte ihrem Finger, als plötzlich auch er die Augen weit aufriss. Der kunstvoll verschnörkelte Text auf der Schriftrolle schien von hinten zu verblassen – während sie ungläubig darauf gestarrt hatten, hatten sich bereits einige der nicht zu entschlüsselnden Worte in Nichts aufgelöst und waren einfach verschwunden. Zuunterst sah man schon eine beträchtliche Menge leeres Papier.

„Ach, du… schöne Weihnachtszeit!“, sagte Wilhelm, aber Mia wusste ganz genau, was er eigentlich gemeint hatte. Er kniete sich neben der Schriftrolle auf den Boden und strich mit der Hand über den verblassenden Text. Die Schriftzeichen leuchteten kurz auf, bevor sie verschwanden. Wilhelm hatte den Eindruck, als könne er das Licht noch einige Sekunden sehen, nachdem die Tinte bereits verschwunden war. Er betrachtete seine Finger. Dann sah er Mia an.

„Ich glaube, das bedeutet nichts Gutes.“, sagte er, „Das erinnert mich an eine Sanduhr. Als würde die Zeit ablaufen.“. Er sah jetzt noch viel sorgenvoller aus, als vorher schon. Mutlos ließ er seinen Kopf in seine Hand sinken, „Wenn wir nicht rechtzeitig herausfinden, wie wir diese vermaledeite BOKX öffnen, dann…“.

Mia legte ihm ihre kleine Hand auf die Schulter und lächelte ihn an. „Na, dann gehen wir jetzt lieber weiter!“ sagte sie mit dem unerschütterlichen Optimismus, den Erwachsene an Kindern so schätzen. Sie tätschelte liebevoll Wilhelms Kopf und begann dann, die lange Schriftrolle wieder einzurollen.

In diesem Moment beschloss Wilhelm, der nicht merkte, dass er längst damit angefangen hatte, sich eine große Scheibe von Mias Unbeschwertheit abzuschneiden. So rappelte er sich hoch, verschloss die Schriftrolle mit der Schleife und steckte sie zusammen mit der BOKX zurück in Mias Rucksack. „Nützt ja alles nichts!“, grummelte er, um nicht ganz aus der Rolle zu fallen, aber seine Augen funkelten verräterisch. Scheinbar gewöhnte er sich langsam an Abenteuer.

Mia hatte schon angefangen, sich nach weiteren Büchern umzusehen. Sie strich mit der Hand über die riesigen Buchrücken, an denen sie vorbeilief. Einige waren ganz bunt, andere in Leder oder Leinen gebunden. Manche sahen schon sehr alt aus, während andere noch subtil den Geruch frischer Druckerschwärze verströmten. Am liebsten hätte Mia ihre Nase in jedes einzelne von ihnen gesteckt. „Was hältst du von diesem?“ fragte Wilhelm und zeigte auf ein sehr dickes Buch. Sein Einband war in gedeckten Farben gehalten. Mia zuckte nickend mit den Schultern, also drückte Wilhelm sachte die Klinke herunter und sie steckten vorsichtig ihre Köpfe in das Innere des Buches.

Sofort platschten einige dicke Regentropfen auf ihre Köpfe. In diesem Buch goss es gerade in Strömen. Sie blickten auf eine enge Gasse, auf deren gepflastertem Steinboden sich das Wasser in kleinen Bächen sammelte, die den Rinnstein entlangflossen, bis sie in einer Biegung aus ihrem Sichtfeld verschwanden. An einigen unebenen Stellen der Straße hatten sich tiefe Pfützen gebildet. Bevor Wilhelm sie am Schlafittchen packen konnte, war Mia bereits in das Buch hineingestürmt und mit Anlauf in die allergrößte und allertiefste Pfütze hineingesprungen, die sie von der Tür aus hatte entdecken können. Lachend drehte sich zu Wilhelm um und spritzte ihn nass.

„Hey, du Göre!“, rief er in gespielt drohendem Tonfall und hob dabei den Zeigefinger. Dann stürzte er sich auf sie und begann sie zu kitzeln, bis sie beide nach einigen Minuten laut lachend und triefend nass bäuchlings in der Pfütze lagen und nach Luft rangen. Sie hielten sich noch ihre Bäuche, als Wilhelm plötzlich bewusst wurde, dass die Tür zum Bücherschrank hinter ihm ins Schloss gefallen sein musste. Eilig sah er sich nach ihr um, aber wie er erwartet hatte, war sie bereits verschwunden. Wo gerade noch die Tür gewesen war, sah er jetzt auf eine nackte, graue Ziegelmauer. Links und rechts davon befanden sich lauter Geschäfte – offensichtlich waren sie auf einer Einkaufsstraße gelandet. „Sieht irgendwie englisch aus, hoffentlich ist das hier kein Krimi!“, dachte Wilhelm, sprach seinen Gedanken aber nicht aus, weil er Mia keine Angst machen wollte. Er hatte sich inzwischen hochgewuchtet und streckte Mia die Hand entgegen, um auch ihr aufzuhelfen. „Wir müssen uns irgendwo aufwärmen und zusehen, dass unsere Klamotten trocknen. Eine Erkältung können wir jetzt beide nicht gebrauchen!“, sagte Wilhelm in großväterlichem Ton.

In diesem Moment huschte eine kleine Person an ihnen vorbei. Auch sie war ganz durchnässt vom Regen und der schwarze Umhang, den sie trug, klebte triefend an ihrem Körper. Auf dem Kopf trug sie einen merkwürdigen spitzen Hut. Sie huschte weiter die Straße hinauf, dann verschwand sie in einem der Geschäfte. Mia und Wilhelm sahen sich kurz an, dann folgten sie ihr. Erst versuchten sie, durch die Schaufensterscheibe zu schauen, aber der starke Regen floss die Scheibe in solchen Sturzbächen herunter, dass sie nichts zu erkennen vermochten. Wilhelm nahm Mias Hand und drückte die Klinke herunter. Beim Eintreten las er das Schild über dem Eingang des Geschäfts: „Flourish & Blotts“.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder

Klicke hier, um Ihren eigenen Text einzufügen