Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 7: Ein rettender Einfall

„Bleib hier und versteck dich!“, zischte Wilhelm Mia zu.
Dann hob er etwas vom Boden auf und rannte los, so schnell es sein Rücken zuließ. Geradewegs in die Richtung, aus der er die ängstliche Gans schreien hörte. Mia sah noch, wie Wilhelm sich unterwegs etwas in den Mund gesteckt hatte. Dann wurde er plötzlich immer größer und größer.
Ja natürlich, der Pilz!

Wilhelm rannte auf den Fuchs zu, der inzwischen den Hals der Gans im Maul hielt und mit ihr davonlaufen wollte. Als Smirre hinter sich Wilhelms schwere Schritte hörte, wandte er sich um. Sein Fell sträubte sich und in seinen Augen stand die nackte Panik, als er sich Wilhelm gegenübersah, der nun etwa drei Meter groß sein musste. „BUH!“, machte Wilhelm und seine Stimme dröhnte regelrecht.
Smirre winselte ängstlich, dann ließ er die Gans fallen und rannte in Richtung des Waldes davon. Dabei machte er so große Sprünge, dass er mehrere Male beinahe gestürzt wäre.

Die Gans, der glücklicherweise nichts Ernstes zugestoßen war, rappelte sich auf und flog panisch davon. Sie landete auf einem Felsen am anderen Flussufer, auf das sich auch der Rest der Gänseschar zurückgezogen hatte. Noch immer schnatterten sie alle aufgeregt und umringten ihre Reisegenossin, die nur ein paar wenige Federn verloren hatte.

Der riesige Wilhelm sah Smirre noch einige Sekunden lang nach, dann ging er zurück zu dem Stein, hinter dem Mia auf ihn wartete. Natürlich war es für ihn jetzt nur noch ein Kiesel, aber er hatte sich die Stelle genau gemerkt. Er legte seine Hand auf den Boden, auf die die winzige Mia hinaufkletterte. Dann führte er die Hand zu seinem Kopf und Mia, die gleich wusste, was sie zu tun hatte, warf ihm etwas in seinen riesigen, weit geöffneten Mund. Wilhelm schluckte und begann im gleichen Moment, wieder auf Wichtelmännchengröße zusammenzuschrumpfen. Dann setzte er Mia neben sich auf dem Boden ab.

Da landete neben ihnen eine weiße Gans. Nils sprang von ihr herunter und fiel Wilhelm gleich in die Arme, der leicht errötete – er wurde ja höchstselten in die Arme genommen. „Danke!“, sagte Nils und drückte Wilhelm noch ein bisschen fester, als plötzlich der Reihe nach alle Wildgänse der Schar um sie herum landeten. Sie schnatterten leise und schmiegten liebevoll ihre Köpfe an Mia und Wilhelm. Selbst die Anführerin Akka, die nur sehr langsam Vertrauen fasste, rieb sanft ihren Schnabel über Wilhelms Kopf. „Sie bedanken sich auch!“, übersetzte Nils, obwohl Mia und Wilhelm das natürlich selbst schon verstanden hatten, „Ich habe ihnen alles erklärt!“.

So standen sie dort einige Minuten und freuten sich, dass niemandem etwas passiert war. Dann nahm Akka Nils zur Seite und schnatterte ihm etwas zu. Er drehte sich zu Mia und Wilhelm um. „Wir müssen weiterfliegen, bestimmt kommt Smirre in der Nacht zurück. Akka hat gesagt, wir können euch ein Stückchen mitnehmen, habt ihr Lust?“, fragte er und grinste die beiden an. „Jaaaaa!“, hatte Mia schon geschrien und Wilhelm bemühte sich, sich seine Flugangst nicht anmerken zu lassen. Er nickte zaghaft.
„Dann fliege ich diesmal auf Akka und ihr könnt mit Martin fliegen!“, sagte Nils. „Das nächste Ziel ist übrigens Karlskrona.“, er kletterte auf Akkas Rücken und hielt sich an ihrem Hals fest.

Martin hatte sich in der Zwischenzeit auf den Boden gesetzt, damit Mia und Wilhelm bequem aufsteigen konnten. Wilhelm hob Mia auf den Rücken des weißen Gänserichs und kletterte dann umständlich selbst hinauf. Er umklammerte Mia und den Hals des Gänserichs und versuchte noch immer, seine Angst zu verbergen. Dann erhob sich die Gänseschar gemeinsam in die Lüfte.

Wilhelm klammerte sich noch etwas fester an Martins Hals. Das Aufsteigen fand er schrecklich unangenehm, aber als die Wildgänse endlich ihre übliche Reisehöhe erreicht hatten und der Flug gleichmäßiger und kontinuierlicher zu werden begann, konnte Wilhelm sich langsam entspannen. Mia gluckste und jauchzte die ganze Zeit und schien den Spaß ihres Lebens zu haben und als Wilhelm sich endlich überwunden hatte seine Augen zu öffnen, fand auch er, dass es ein magischer Moment war, als sie dort auf dem Rücken einer Gans durch die Nacht flogen – unter ihnen das wunderschöne Schweden und über ihnen der Mond und Abermillionen Sterne.

Plötzlich hatte er das Gefühl, als würde er ganz leise einige Töne von Beethovens Mondscheinsonate hören – gerade so, als spielte jemand in weiter Ferne auf einem Klavier. Er dachte an sein Zuhause, an das Foto der Pianistin auf seinem Wohnzimmertisch. Wie viel Spaß es ihr wohl gemacht hätte, sie auf dieser Reise zu begleiten. Seine Hilda liebte Abenteuer und Geschichten. Und er hatte seine Hilda geliebt. Nachdenklich betrachtete er all die funkelnden Sterne, die an ihnen vorbeizogen.

Auch Mia dachte an ihr Leben zuhause. Vor allem dachte sie an Leon, der sie bestimmt vermissen musste, als nächstes an ihre Eltern und dann dachte sie an Weihnachten. Wieviel Zeit zuhause wohl vergangen war? Hier hatte es sich wie ein paar Tage angefühlt, aber sie waren ja auch von einem ins nächste Abenteuer geschlittert. Wenn man wartet, ist die Zeit so zäh wie Kaugummi, das wusste Mia von all ihren bisherigen Geburtstagen. Würde man sie zuhause vermissen? Und wer würde Wilhelm vermissen? Obwohl sie gerade auf einer zahmen Gans durch eine ihrer Lieblingsgeschichte flog, wurde sie ein bisschen traurig.

„Wilhelm, meinst du, wir kommen wieder nach Hause, bevor Weihnachten ist?“, fragte Mia und drehte sich zu Wilhelm um. „Versprechen kann ich nichts, aber ich bin sehr guter Hoffnung!“, sagte er und wunderte sich ein wenig über sich selbst, denn tatsächlich hatte er Hoffnung – und die hatte er so viele Jahre lang nicht gehabt. „Erstmal müssen wir wieder aus diesem Buch raus!“, fügte er dann hinzu.

Man merkte, dass die Gänse allmählich wirklich müde wurden – immerhin hatten sie die ganze Nacht noch keinen Schlaf bekommen. Auch Nils war zwischendurch immer mal wieder fast eingenickt. Glücklicherweise hatten sie Karlskrona fast erreicht, aber da sie in der Stadt keinen geeigneten Schlafplatz finden würden, mussten sie noch einige Kilometer weiterfliegen. Da Karlskrona gleich an der Ostsee liegt, hofften sie, einige Klippen zu finden, die nicht schon von Möwen belegt waren.

Die ganze Formation hatte schon einige Höhenmeter verloren und langsam ging ihnen wirklich die Kraft aus. Als sie die Ostsee endlich erreicht hatten, steuerte Akka den ersten freien Felsen an, der sich ihnen anbot. Mia und Wilhelm klammerten sich fest an Martins Hals und fürchteten sich vor seiner Landung, die aber angenehm sanft von statten ging. Er war es schließlich gewöhnt, Passagiere zu befördern.

Mia und Wilhelm stiegen von seinem Rücken herab und streichelten ihm zum Dank den Kopf. Nils, der bereits mit Akka darüber gesprochen hatte, bot ihnen an, die Nacht unter Martins Flügeln zu verbringen. „Eigentlich schlafe ich selber dort, aber ich darf heute Nacht unter Akkas Flügel übernachten. Sie möchte euch ihre Dankbarkeit zeigen!“, sagte er und lächelte. Die beiden, die selbst auch hundemüde waren, nahmen dankend an. Martin breitete seine Flügel aus, unter denen Mia und Wilhelm bereitwillig Platz nahmen. Ein kuschliges Federbett war jetzt genau das richtige für die beiden Abenteurer. Es dauerte nicht lang, bis sie eingeschlafen waren.

Am nächsten Morgen war Wilhelm vor Mia aufgewacht. Es war noch nicht einmal hell, aber er war von seinem knurrenden Magen geweckt worden. Er kletterte behutsam unter Martins Flügel hervor und frühstückte einige der Beeren, die sie in weiser Voraussicht mitgenommen hatten. Dann griff er nach der Schriftrolle, löste die Schleife und begann sie auszurollen. Er hatte schon gestern Nacht die Idee gehabt, dass er vielleicht herausfinden könne, wie ihre Reise weiterginge, wenn er die Schriftrolle weiterlesen würde, aber er war so müde gewesen, dass er gleich eingeschlafen war.

So rollte er also die Schriftrolle so weit aus, bis er an den letzten Kapiteln von Selma Lagerlöfs Geschichte angekommen war. Seine Augen wanderten hinter seiner Brille immer schneller hin und her, aber als er endlich am Ende des Buches angekommen war, stellte er fest, dass der weitere Text aus merkwürdigen Schriftzeichen zu bestehen schien, die er noch niemals irgendwo gesehen hatte. Er rollte das Schriftstück noch einige Meter weiter aus, aber ein normaler, lesbarer Text war dort nicht zu finden.
„Hätte ich mir denken können, wäre auch zu einfach gewesen.“, grummelte Wilhelm in seinen Schnurrbart. Ein wenig enttäuscht kroch er zurück unter Martins Flügel und beschloss, noch ein wenig weiterzuschlafen.

Gerade als er wieder eingenickt war, wurde er jäh aus dem Schlaf gerissen. Irgendetwas musste Martin fürchterlich erschreckt haben, jedenfalls war er urplötzlich losgeflogen – ohne jegliche Rücksicht auf die zwei kleinen Menschlein, die unter seinen Flügeln Schutz gesucht hatten. Er hatte sie noch einige Meter mit sich in die Luft gerissen, aber als er jetzt seine Flügel weit ausbreitete, konnten sie sich nicht mehr halten. Mia kreischte und Wilhelm umklammerte den Rucksack, während sie in rasender Geschwindigkeit auf das Meer zuschossen. Die blaugraue Ostsee näherte sich ihnen so schnell, dass ihnen schwindelig wurde.

Trotzdem kam es ihnen vor, als wären es Minuten und Wilhelm fragte sich gerade, wie es sich wohl anfühlt, wenn man ertrinkt – als sie abrupt langsamer wurden und dann ganz plötzlich auf festem, trockenem Untergrund landeten.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder