Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 18: Die Zeiten ändern sich

Mia und Wilhelm schlugen sich die Hände vor die Augen. Es war schon wieder passiert – schon wieder hatte sich ihre Umgebung von einer auf die andere Sekunde komplett verändert. Erst war es auch hier dunkel gewesen, aber dann war plötzlich ein heller Scheinwerfer eingeschaltet worden. Das hatte ihre Augen überfordert und so brauchten sie einen kurzen Moment, um sich auf die neuen Lichtverhältnisse einzustellen. Dann erkannten sie, wohin es sie verschlagen hatte.

Vor ihnen erstreckte sich ein großer Saal. Es musste wohl ein Theater sein, denn sie sahen auf die Rückenlehnen zahlloser Sessel, die mit rotem Samt bezogen waren und in Blickrichtung zu einer großen Bühne standen. Darauf stand ein dicker Mann in einem sehr eleganten, schwarzen Smoking. Mit andächtiger Miene schaute er einige Sekunden lang in den Saal hinein. Irgendwo im Publikum hüstelte jemand. Dann begann der dicke Mann, mit tiefer, samtiger Stimme rhythmisch zu sprechen.

„Christian Morgenstern.

Ich wache noch in später Nacht und sinne,
wie ich dir etwas Liebes sagen möchte,
daß ich dir einen Kranz von Worten flöchte,
daraus du würdest meiner Sehnsucht inne…“

Ganz offensichtlich hatte Meggie sie aus ihrer eigenen Geschichte heraus und direkt in einen Gedichtband hineingelesen. Mia liebte Reime.Verzückt sah sie zu Wilhelm hinüber, der gleich neben ihr stand. Er hatte die Augen geschlossen und sie sah, dass sein grauer Schnurrbart zitterte. Erst dann fiel ihr auf, dass er das Gedicht Wort für Wort mitsprach.

„…die mich nach deiner Gegenwart erfüllet,
als wär’ ich nur bei Dir gewahrt vor Sorgen,
als lebt’ ich nur in Deinem Blick geborgen,
dem teuren Blick, der mich in Liebe hüllet.“

Wilhelm und der dicke Mann auf der Bühne hatten das Gedicht gemeinsam beendet und nach einer kurzen Pause ertönte Applaus. Der dicke Mann verbeugte sich zwei Mal, dann senkte sich langsam der Vorhang. Wilhelm lächelte selig.

„Ich wusste gar nicht, dass du Gedichte magst, Willi. Du konntest es ja sogar auswendig!“, sagte Mia voller Bewunderung, „Und du hast es so schön aufgesagt. Hast du das in der Schule gelernt?“. „Nein.“, antwortete er, „Ich habe früher mal sehr viele Gedichte gelesen, am liebsten Liebesgedichte. Ich habe sogar einige geschrieben!“. Es klang, als würde er sich selbst erst jetzt wieder daran erinnern. „Aber ich dachte, du liest nicht gerne?“, fragte Mia verwundert.

„Das ist schon sehr, sehr lange her.“, sagte Wilhelm mit verklärtem Blick, „Ich dachte, dass ich es gar nicht mehr kann.“. Mia konnte seinen Gesichtsausdruck nicht richtig deuten. Er lächelte noch immer aber es sah aus, als sei er in Gedanken ganz weit weg. „Damals war ich sehr verliebt… Und jetzt bin ich schon seit vielen Jahren allein.“, sagte er dann. „Stimmt ja gar nicht!“, sagte Mia strahlend, ihren ausgestreckten Zeigefinger auf ihren Bauch gerichtet. Wilhelm sah das kleine Mädchen liebevoll an. Wie Recht sie doch hatte.

Die Menschen im Publikum standen auf und gingen leise plaudernd aus dem Saal. Sie schienen Mia und Wilhelm gar nicht zu bemerken, obwohl die beiden mitten im Raum standen und nicht halb so fein gekleidet waren, wie all die anderen Gäste. Niemand hatte sie eines einzigen Blickes gewürdigt und nach wenigen Minuten standen die beiden ganz allein in dem großen, leeren Theater. „Was machen wir jetzt?“, fragte Mia gerade, als sich plötzlich der Vorhang zu heben begann. Er gab dabei ein leises Surren von sich und Stück für Stück legte er frei, was sich hinter ihm verbarg.

Mitten auf der Bühne befand sich eine Tür. Sie sah nicht besonders auffällig aus, es war eine schlichte, weiße Tür mit einem silbernen Knauf. Ein hübscher Türklopfer in Form eines aufgeschlagenen Buches war daran befestigt. Mia und Wilhelm sahen sich schnell noch einmal um, dann kletterten sie auf die Bühne. Die Tür schien nirgendwo hinzuführen, denn sie stand ganz mittig auf der Bühne. Nur ein Türrahmen und eine Tür, keine Wände, die sie umschlossen und keine weiteren Räume, in die man durch sie gelangen konnte. Aber unter dem Türspalt quoll ein merkwürdiges, goldenes Licht hervor. Fast flüssig sah es aus.

Langsam gingen Mia und Wilhelm auf die Tür zu. Was würden sie dahinter wohl entdecken? Wilhelm öffnete sie, beide warfen einen Blick hinein und sahen sich dann mit großen Augen an. Sie blickten mitten in den offenen Bücherschrank hinein. Wilhelm nahm Mias Hand, beide traten einen Schritt durch die Tür, die hinter ihnen ins Schloss fiel.

Wilhelm hatte angefangen zu applaudieren. „Was hast du denn?“, fragte Mia. „Das war das erste Mal, dass wir nicht überrascht wurden, wenn wir aus einem Buch zurück in den Bücherschrank gekommen sind!“, antwortete Wilhelm erfreut. Er hatte vorsorglich seine Mütze festgehalten, aber diesmal war es gar nicht nötig gewesen. Jetzt klopfte er liebevoll gegen die Stahlwand des Bücherschranks, gerade so als wolle er ihn loben.

Hier musste es tiefe Nacht sein, gerade fiel dichter Schnee. Wilhelm griff in den Rucksack, um Mia ihre Handschuhe zu geben und entdeckte die Schriftrolle darin. Er rollte sie aus. Die Texte der Gedichte waren jetzt auch für ihn lesbar. Meggie musste sie gleich auf die letzte Seite gelesen haben, so dass die Vorstellung schon fast vorbei war, als Mia und er in dem Buch ankamen. Ob es wohl immer so wäre, dass sie den Bücherschrank durch eine Tür betreten konnten, wenn sie ein Buch komplett durchlebt hatten? Da sie sich aber nie ernstlich verletzt hatten, zerbrach er sich nicht weiter den Kopf darüber.

Stattdessen las er noch einige Minuten im Text von Tintenherz. Die Schriftrolle verriet ihm, dass es der erste Teil einer Trilogie war, den sie dort besucht hatten und dass es ein großes Glück gewesen war, dass sie diesem Mann namens Basta und seinem Messer nicht begegnet waren. Auch wenn er nicht viel von der Geschichte des Buches erfahren hatte, faszinierte sie ihn und er beschloss, alle drei Bände zu lesen, wenn er wieder zuhause war. Dort würde Basta ihm schließlich nichts anhaben können und er war einfach zu gespannt, was Meggie, die Zauberzunge, mit ihrer besonderen Gabe noch alles erleben würde.

Vielleicht war es dumm gewesen, dass er das Lesen so lange und so vehement abgelehnt hatte, denn ganz offensichtlich konnten zwischen zwei Buchdeckeln die unvorstellbarsten Welten und Charaktere warten – begierig darauf, den Leser zu verzaubern und in sich aufzunehmen. Die Reise, die er und Mia durch alle diese Bücher machten, hatte es ihm immer wieder gezeigt und Meggies Geschichte schien es noch zu bestätigen. Nachdenklich betrachtete er die Schriftrolle, während er sorgfältig das rote Band um sie herumwickelte, sie verschloss und zurück in den Rucksack gleiten ließ.

„Willi?“, fragte Mia plötzlich in die nächtliche Stille hinein. Wilhelm sah sie fragend an.
„Wenn wir wieder draußen sind, bleiben wir dann trotzdem Freunde?“, sie machte so große Kulleraugen, dass Wilhelm nicht einmal hätte verneinen können, wenn er es gewollt hätte. Er lächelte sie an. „Großes Indianer-Ehrenwort!“, versprach er ihr und hielt feierlich seine rechte Hand auf sein Herz und die Linke in die Luft. Mia kicherte, denn sie fand, dass Wilhelm in diesem Moment tatsächlich wie ein Indianerhäuptling ausgesehen hatte. Dann nahm sie ihn in den Arm.

Inzwischen vermisste sie ihren Bruder Leon und ihre Eltern immer häufiger, aber solange Wilhelm bei ihr war, fühlte sie sich nicht allein. Außerdem vertraute sie fest darauf, dass sie das Rätsel zusammen lösen und noch vor Heiligabend wieder nach Hause zurückkehren können würden. Sie versuchte jedes Jahr und mit allen nur möglichen Methoden einen Blick auf das Christkind zu erhaschen und da es diese Gelegenheit nur einmal im Jahr gab, wollte sie Weihnachten auf keinen Fall verpassen. Außerdem war Leon bestimmt schrecklich langweilig, jetzt wo ihn niemand ärgern konnte.

„Weiter geht’s?“, fragte Wilhelm mitten in Mias Gedanken hinein. Aufmunternd lächelte er sie so breit an, dass die zwirbeligen Enden seines Schnurrbarts gegen seine Brillengläser stießen. Sie lachte. Dann nahmen sich die beiden an der Hand und begannen, die Buchreihen entlangzuschlendern. „Das hier!“, sagte Mia irgendwann. Entschlossen zeigte sie auf eines der Bücher.

Wilhelm nickte und drückte die Klinke herunter.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder