Das zerbrochene Fläschchen

„Hattet ihr auch das Gefühl, dass die beiden es plötzlich sehr eilig hatten?“ fragte Mia die anderen. „Ja, es wirkte tatsächlich so.“ meinte Wilhelm, der sich nachdenklich das Kinn kratzte. „Vielleicht gibt es für die Gestalten aus den Büchern auch Spielregeln für ihren Aufenthalt im magischen Schrank. Falls wir noch jemanden treffen, können wir ja mal fragen. Wäre doch interessant zu wissen.“ Leon war es egal. Er war froh Lucy und Herrn Tumnus los zu sein.

Nun konnten sie ihre Energie wieder darauf verwenden, wie sie zu Winnetou und Old Shatterhand kommen könnten. Vielleicht täuschte er sich, aber es schien ganz so, ob er als einziger dieses Ziel ernsthaft verfolgte. Er fand die Vorstellung, seine Helden treffen zu können, so einmalig, dass er gar nicht auf die Idee kam, dass Wilhelm und Mia vielleicht ganz andere Pläne für ihre Zeit im Schrank haben könnten.

Mia hatte sich so gefreut, Lucy und Herrn Tumnus wieder zu treffen. Sie war traurig, weil sie nur so eine kurze Zeit miteinander hatten. Sie hätte gerne von Herrn Tumnus erfahren, ob sein Schloss immer noch der Villa Kunterbunt glich. Mia musste grinsen bei dem Gedanken, welches Chaos Wilhelm und sie im letzten Jahr verursacht hatten. Aber Mia hatte kein schlechtes Gewissen, denn sie war sich sicher, dass die Magie des Schrankes wieder alles in Ordnung gebracht hatte. „Doch wie konnte es sein, dass die blaue Tür in Narnia nicht verschwunden war?“ fragte Mia sich. Diese Frage bereitete ihr tatsächlich Kopfschmerzen. Wenn die Tür noch da war, wie konnte sie sich sicher sein, dass alles andere wieder in Ordnung war. „Wilhelm, bist Du dir sicher, dass das Chaos, welches wir im letzten Jahr verursacht haben, nicht mehr besteht?“ „Weißt du, Mia, wenn Du mich gestern gefragt hättest, wäre ich mir 100% sicher gewesen, dass wieder alles im richtigen Zustand ist. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, denn ich verstehe das mit der blauen Tür nicht. Wieso war sie noch da? Warum ist sie jetzt weg?“ Mia war froh, dass es Wilhelm ähnlich ging. Also war nicht nur sie über die Existenz der blauen Tür gestolpert. Vielleicht konnte man das Rätsel noch später lösen.

Jetzt mussten sie erst einmal wieder in den Besitz der Schriftrolle kommen. Warum konnten Mama und Papa nicht endlich gehen? Mia wurde wütend auf ihre Eltern. Am liebsten hätte sie gebrüllt: „Warum steht ihr da so blöd rum? Geht doch endlich nach Hause und macht etwas Sinnvolles, wie Kekse backen oder Fußball schauen. Irgendein Spiel gibt es doch bestimmt.“ Sollte etwa alles daran scheitern, dass ihre Eltern anscheinend beschlossen hatten, vor dem Bücherschrank Wurzeln zu schlagen. Mia wollte auch endlich in dieses bescheuerte Buch von Winnetou und Old Shatterhand., damit es endlich erledigt war. Sie hatte so gar keine Lust dazu und Leon ging ihr langsam ganz schön auf den Geist mit seinem Buch. Ihr war klar, dass ihnen tatsächlich nichts anderes übrig blieb als zunächst einen Weg zu finden, wie sie an die Schriftrolle kamen. Warum wollte Lucy sie nicht holen? Das passte so gar nicht zu der Lucy, die sie letztes Jahr getroffen hatte. „Halt, da war doch noch etwas anderes, was sie näher untersuchen wollte!“ fiel es Mia wieder ein. Nur konnte sie sich nicht mehr erinnern, was es war.

Sie schaute zu Wilhelm hinüber. Er stand jetzt an dem Punkt, wo sie gerade noch mit Lucy gestanden hatte. Sein Blick ging in die Richtung, wo die Mädchen die Schriftrolle gesehen hatten. Wilhelm wirkte sehr nachdenklich. Wie viel hätte Mia dafür gegeben, um zu erfahren, was in ihm vorging. Aber sie wollte nicht fragen. Instinktiv wusste sie, dass sie Wilhelm jetzt nicht stören durfte.

Er wirkte nicht nur so, sondern er war auch sehr nachdenklich. Wie waren sie nur in diesen Schlamassel reingeraten? Wenn sie jemals wieder aus dem magischen Bücherschrank herauskamen, würde es sein letztes Mal gewesen sein. Er war einfach zu alt für solche Abenteuer. Vielleicht würde sich ein anderer finden, der Mia begleiten könnte. Aber all diese Überlegungen waren sinnlos, solange sie nicht die Schriftrolle hatten. Wenn sie doch nur jemanden um Rat fragen könnten! Doch wie er es drehte und wendete, er kam auf keinen grünen Zweig. Er wusste, dass Mia genauso verzweifelt nach einer Lösung suchte. Mia war clever genug, um die Gefahr ihrer Situation richtig einzuschätzen.

Von Leon hingegen konnte er nichts erwarten. Er war genauso clever wie seine Schwester, aber er benutzte zu selten seinen Verstand. „War es eine gute Idee gewesen den Jungen mitzunehmen?“ Denn anscheinend wollte Leon nichts von der Magie des Schrankes begreifen. Wilhelm bekam immer mehr den Eindruck, dass Leon sich gar nicht auf die möglichen Abenteuer einlassen konnte oder wollte. Das fand Wilhelm viel schlimmer, weil er sich damit so viel selbst verbaute. Es war schade, dass Leon ganz und gar darauf fixiert war Winnetou und Old Shatterhand zu treffen.

Wilhelm wandte sich sich wieder den Kindern zu: „Hat einer von euch eine Idee wie es weitergeht?“ Zu seiner Überraschung antwortete Leon als erster: „Ist doch ganz klar. Wir holen die Schriftrolle und finden endlich zu meinem Buch.“ „Aha, und wie stellst du Dir das vor?“ wollte Wilhelm wissen. „Na wir gehen einfach hin und holen sie. Wo ist das Problem?“ „Leon, so einfach ist es leider nicht. Anders als mit deiner Playstation können wir nicht so einfach wieder auf Anfang gehen.“, bemerkte Wilhelm bissig. „Aber warum können wir denn nicht einfach nach vorne laufen und sie uns holen?“ Leon verstand nicht, warum Wilhelm und Mia es so kompliziert machten. „Es geht nicht, weil Mama und Papa vor dem Schrank stehen! Wer weiß, was passiert, wenn sie uns sehen. Sie könnten zum Beispiel den Schrank öffnen und uns rausholen.“ „Das wäre doch cool.“ Das konnte doch jetzt nicht wahr sein. Glaubte Leon das wirklich? „Von wegen cool. Wer sagt dir denn, dass wir wieder unsere normale Größe erlangen. Ich glaube, dass wir so klein, wie wir sind, bleiben würden.“ So klein wie Zinnsoldaten? Dieser Gedanke gefiel Leon überhaupt nicht. Er wurde kreidebleich.

Nein, dass durfte auf gar keinen Fall geschehen. Dann könnte er ja nie wieder mit seiner Playstation spielen. Und wie sollte er in der Schule mit den anderen aus seiner Klasse während der Pause Fußball spielen? Er bekam Angst, denn er fing an zu begreifen, dass sie sich in einer ziemlich blöden Situation befanden. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Wäre er doch bloß nicht mitgekommen. Anstatt hier in diesem dämlichen Schrank gefangen zu sein, könnte er jetzt bequem vor der Glotze sitzen und sich die soundsovielte Wiederholung seiner Lieblingssendung reinziehen. Doch da hörte er eine leise Stimme in seinem Kopf: „Aber Leon, dann könntest du auch nicht deine Helden treffen!“ „Stimmt!“ rief Leon laut. Erschrocken schauten Mia und Wilhelm ihn an. Was war das denn jetzt? „Leon, alles klar bei Dir?“ fragt Wilhelm ihn, nachdem er sich von seinem Schreck erholt hatte. „Ja, klar! Warum sollte etwas sein?“ Doch seine zitternde Stimme verriet, dass doch nicht alles so klar war. „Das hört sich aber ganz anders an.“ gab Mia von sich. „Willst Du etwa behaupten, dass ich ein Angsthase bin?“ giftete Leon sie an. „Nein, aber ich denke, dass du Angst hast.  Ich habe Angst.“ sagte Mia mit hochrotem Kopf.

„Jetzt hört doch mal auf euch ständig wegen irgendeinem Blödsinn zu streiten. Das ist nicht zum Aushalten mit euch!“ Eigentlich war das Mamas Text, und daher war es den beiden ziemlich unangenehm, ihn jetzt von Wilhelm zu hören. Beide murmelten eine leise Entschuldigung. Aber Wilhelm sprach schon weiter: „Wir müssen jetzt zusammenhalten und nach einer Lösung suchen, die funktioniert.“ Auch er hatte Angst, aber die durfte er jetzt nicht zeigen. Es war seine Aufgabe auf die beiden aufzupassen und sie wieder sicher nach Hause zu bringen. Wenn Kinder nur wüssten, wie viel Verantwortung die Erwachsenen haben!

„Mia, hast du etwas zu trinken mitgenommen? Etwas Flüssigkeit würde mir jetzt ganz guttun und euch auch.“ Augenblicklich lief Mia zu ihrem Rucksack, den sie vorhin einfach hatte fallen lassen. Jetzt fiel ihr wieder ein, was sie noch untersuchen wollte. Als sie die Taschentücher herausgeholt hatte, spürte sie etwas Feuchtes unter ihren Fingern. Was war das nur? Wahrscheinlich hatte Leon in der Eile die Wasserflasche nicht richtig zugedreht. Doch als sie diese aus dem Rucksack herauszog, war sie fest verschlossen. „Das ist merkwürdig.“ dachte Mia. Sie gab Wilhelm die Wasserflasche. „Danke, Mia.“ Nun wollte sie aber wissen, was es mit der Feuchtigkeit auf sich hatte. So griff sie wieder in den Rucksack hinein und spürte erneut unter ihren Fingern die Feuchtigkeit. Sie tastete blind alles um den Flecken herum ab. „Autsch!“ schrie sie auf. Ihr Finger war von etwas sehr Spitzen gestochen wurden. Als sie ihre Hand wieder aus dem Rucksack herausgezogen hatte, tropfte Blut aus ihrem Zeigefinger. „Mia, was ist passiert?“ hörte sie Leons besorgte Stimme. Während er sprach, kippte Wilhelm um.

„Wilhelm, was ist mit dir? Sag doch was!“ verzweifelt rüttelte Mia an ihm. „Ist er tot?“ „Nein ist er nicht, sein Bauch bewegt sich noch auf und ab. Leon, was sollen wir denn jetzt machen?“ „Vielleicht sollten wir ihm Ohrfeigen geben. So funktioniert das immer im Fernsehen. Zwei Ohrfeigen, und die Leute sind wieder fit.“ Das hörte sich zwar sehr merkwürdig an, aber vielleicht hatte Leon ja recht. Nur wer von ihnen sollte es tun?“ „Mach du es, Mia. Du kennst Wilhelm besser als ich. Mia nahm ihren ganzen Mut zusammen, denn man durfte niemanden hauen. Schon gar nicht einen Erwachsenen. Dies war aber ein Notfall, und so schlug Mia zweimal kräftig zu. Und tatsächlich kam Wilhelm zu sich. „Wilhelm, was ist los? Warum bist du ohnmächtig geworden?“ Peinlich berührt schaute er die beiden an: „Tut mir leid, dass ich euch so erschreckt habe, aber ich kann kein Blut sehen.“ „Ach, das kann unsere Tante Hilda auch nicht. Deswegen hat sie auch immer ein Fläschchen mit Riechsalz dabei. Solltest du dir vielleicht mal anschaffen.“ „Danke, Leon! Du bist charmant wie immer.“ Leon dachte darüber nach, ob Wilhelm das ernst meinte, oder ob er sich lustig über ihn machte. Daher sagte er lieber nichts.

Als Wilhelm wieder stand fragte er Mia, woran sie sich denn verletzt habe. „Ich weiß es nicht! Im Rucksack scheint etwas ausgelaufen zu sein. Aber die Wasserflasche war es schon mal nicht, denn die war fest zugedreht.  Vielleicht ist eine Flasche kaputt gegangen, als ich den Rucksack auf den Boden geworfen habe.“ „Eine Flasche? Wieviel Flaschen hast du den eingepackt?“ Mia schaute Wilhelm an: „Die Trinkflasche und das Fläschchen mit dem …Oh, nein! Wilhelm ich glaube, das Fläschchen mit dem Vergessenszaubertrank ist kaputt gegangen.“ „Mia, dass darf einfach nicht sein! Schau sofort nach.“ Mia griff zum Rucksack und schaute hinein. Da sah sie die Bescherung. Das Fläschchen mit dem Vergessenszaubertrank war tatsächlich zerbrochen. Langsam und vorsichtig holte sie Scherbe für Scherbe aus ihrem Rucksack. Mit immer größer werdender Fassungslosigkeit schaute Wilhelm ihr dabei zu. Er fragte sich, was in diesem Jahr nur los war. Warum ging alles so schief? War das vielleicht die Strafe dafür, dass sie letztes Jahr so oft die magische Regel gebrochen hatten? Aber er hatte Aslan so verstanden, dass alles gut sei und sie nichts zu befürchten hätten.

Leon hatte inzwischen ganz und gar begriffen, dass die Dinge tatsächlich nicht so liefen, wie sie sollten. Und zog erneut den Schluss, dass er sich den Schrankaufenthalt ein wenig anders vorgestellt hatte. Was hieß ein „wenig“? Er hatte es sich ganz anders vorgestellt. Er wollte doch nur in den Schrank, Winnetou und Old Shatterhand zu treffen. Anschließend wollte er schnell nach Hause, um vor dem Abendbrot noch das nächste Level zu erreichen. Mia und Wilhelm hätten ja noch in dem Schrank bleiben können. Doch er hatte auf mehr Abenteuer eigentlich keine Lust. So war sein Plan gewesen, aber er begriff, dass er sich das wohl abschminken konnte. Zudem hatte er ein immer größer werdendes schlechtes Gewissen. Schließlich hatte er die Schriftrolle verloren. Ganz leise hörte man ihn sagen: „Es tut mir leid.“ „Was tut dir leid?“ wollte Mia wissen. „Das ich die Schriftrolle verloren habe.“ „Leon, es muss dir nicht leidtun. Das hätte uns auch passieren können!“ „Danke, Wilhelm!“ „Ist schon gut. Außerdem bringt es uns nicht weiter, wenn wir uns jetzt auch noch damit beschäftigen, wer Schuld hat. Wir haben jetzt zwei sehr ernste Probleme.“ Da war zum einem die Schriftrolle, an die sie nicht herankamen, und zum anderen das zerbrochene Fläschchen mit dem Vergessenszauber.

Es war zum Verzweifeln! Wenn nicht bald etwas geschah würde dieses Abenteuer übel enden. Das durfte einfach nicht sein! Sie saßen wieder auf dem Boden. „Ein Stuhl wäre bequemer.“, dachte Wilhelm, „aber das ist im Moment die kleinste Sorge. Sie fingen wieder an zu grübeln.

Draußen flog ein Hubschrauber vorbei.