Mia & Wilhelm und die magische BOKX

2. Vorwort: Das ist Wilhelm

Wilhelm ließ die Jalousie seines Wohnzimmerfensters noch ein Stückchen weiter herunter. Er hatte, gefühlt, schon den ganzen Tag auf die matschig-verschneiten Straßen gestarrt und irgendwie passten sie auch zu seinem Gemüt. Trotzdem war er froh, dass er sie jetzt nicht mehr sehen musste.
Er ließ sich wieder in seinen Ohrensessel plumpsen und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf das Fernsehprogramm.

Es lief eine Sendung über Antiquitäten, kurzweilig und für den Moment genau das Richtige. Nacheinander flimmerten private Verkäufer mit überhöhten Preisvorstellungen für schlecht erhaltenes Blechspielzeug über den Bildschirm.
„Einer dümmer als der andere!“, sagte Wilhelm halblaut.
Er war kein besonders gesprächiger Mensch, aber wenn man fast immer allein ist, spricht man eben auch mal ein wenig mit sich selbst – einfach nur, um eine vertraute Stimme zu hören.

Sein Blick schweifte vom Bildschirm ab, durch den altmodisch eingerichteten Raum und hinüber zu dem gekachelten Wohnzimmertisch, auf dem ein schmaler, goldener Bilderrahmen stand.
Er enthielt das schwarzweiße Foto einer hübschen, jungen Frau.
Es schien sich dabei um eine ältere Aufnahme zu handeln – die Frau trug eine Frisur, die typisch für die frühen Siebziger Jahre war, ihr dunkles Haar fiel in glänzenden Locken über ihre Schultern. Auch ihre geblümte Seidenbluse und der schmal geschnittene Taillenrock ließen auf diese Zeit schließen. Offensichtlich handelte es sich um eine Pianistin, denn das Foto war auf einer Theaterbühne aufgenommen worden und die Dame saß auf einem Klavierhocker vor einem glänzenden, schwarzen Konzertflügel.
Mit wachem Blick lächelte sie genau in die Kamera – bereit, die ganze Welt zu erobern.

Schnell wandte Wilhelm den Blick ab, erhob sich aus seinem Sessel und schlurfte in die Küche, um sich einen Pfefferminztee zuzubereiten.

Seine Küche war sehr klein und, wie auch der Rest der Wohnung, eher schnörkellos eingerichtet. Wilhelm sah aber ohnehin meistens auf den Bildschirm seines Fernsehers und ans Kochen dachte er schon gar nicht, weswegen er sich nicht weiter daran störte.
Er nahm einen Teebeutel und eine Tasse aus dem Schrank, dann befüllte er den Wasserkocher und schaltete ihn ein.
Mit leisem Sprudeln begann das Wasser langsam zu kochen und Wilhelm bemerkte bei einem Blick auf seinen Kalender, dass er der Zeit mal wieder hinterherhing – heute war der schon erste Dezember, schon wieder Weihnachten und ein weiteres Jahr stand kurz vor seinem Abschluss.
In diesem Moment fiel ihm plötzlich ein, dass ihm noch zwei Geburtstagsgeschenke für seine Großcousinen fehlten.

Marion und Agathe, zwei Damen in ihren Siebzigern, die mit drei wohlgenährten Hauskatzen zusammenlebten, waren die einzigen Familienmitglieder, die Wilhelm noch geblieben waren.
Ihr Kontakt war eher sporadisch, aber sich zu den Geburtstagen einen Besuch abzustatten, gehörte eben zum guten Ton. Zu Wilhelms Glück waren die beiden im gleichen Monat geboren, so dass seine Familienbesuche sich auf einen Termin im Jahr beschränkten – Wilhelm ging nämlich weder gern vor die Tür, noch unter Menschen.

Jetzt blieb ihm allerdings nichts anderes übrig, denn schließlich besorgen sich Geburtstagsgeschenke nie von selbst. Natürlich war er nicht sonderlich begeistert von dem Gedanken, seine kleine Rente in Geschenke für die entfernte – um nicht zu sagen „bucklige“ – Verwandtschaft zu investieren.
Deshalb machte er sich zu solchen Gelegenheiten gern auf den Weg zum offenen Bücherschrank unweit seiner Wohnung. Er hatte für Literatur zwar rein gar nichts übrig, für kostenlose Geschenke und um ein paar Euro zu sparen, lohnte sich der Weg aber allemal. Hoffentlich würde nicht wieder jemand versuchen, ihn in ein nettes Gespräch zu verwickeln – das passierte ihm dort ständig. Er überlegte kurz, welchen der Kölner Bücherschränke er ansteuern sollte und entschied sich, einfach zum Nächstgelegenen zu gehen.
Da würde er schon irgendetwas finden.

„Genau so habe ich mir meinen Sonntagnachmittag vorgestellt!“, grummelte Wilhelm. Er schaltete den Wasserkocher wieder ab, zog sich Mantel und Schuhe an und setzte die karierte Schiebermütze auf, die er außerhalb seiner Wohnung immer trug, um zu verdecken, dass sein graues Haar oben auf dem Kopf langsam dünner wurde. Dann zwirbelte er die Enden seines imposanten Schnurrbarts zusammen, nahm seinen Schlüsselbund und verließ das Haus.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder