Die Schriftrolle

Sie hatten es tatsächlich geschafft. Auch wenn sie nicht wussten, wie es ihnen gelungen war, waren sie jetzt im Schrank. „Wilhelm, verstehst Du das?“ fragte Mia. Aber Wilhelm stand nur da und schüttelte den Kopf. Nein, er verstand rein gar nichts.

Warum konnte es keine klare Regel geben, an die man sich halten musste. Wilhelm wünschte sich so sehr, dass es nicht jedes Jahr wieder ein Zufall war. Diese Art von Zufällen konnte er in seinem Alter wirklich nicht mehr gebrauchen. Er spürte, wie sein Herz immer noch laut klopfte. Doch was war das? Wilhelm bemerkte ein Zittern in seiner linken Hand, mit der er die Schriftrolle umklammerte.

Vorsichtig nahm er die Schriftrolle in beide Hände und fing an, sie auseinander zu rollen. Dort stand etwas. Wilhelm war sich sicher, dass dort nichts gestanden hatte, als sie noch vor dem Bücherschrank standen. Neugierig fing er an zu lesen:

Bist du allein und besitzt mich,
dann wünsche dich
in die BOKX.
So findest du hinein.

Seid ihr zu zweit,
stellt eine Verbindung her.
Nur so geht es
in die BOKX hinein

Aber seid ihr zu dritt,
braucht ihr mehr.
Löst das Rätsel,
denkt an eins und zwei.
Dann findet ihr hinein.

Als Wilhelm ihr nicht antwortete und nur mit dem Kopf schüttelte, beschloss Mia erst einmal den Rucksack zu untersuchen. Sie hatte gemerkt, dass er viel zu leicht war. Irgendetwas stimmte nicht. Als der Rucksack nun vor ihr stand sah Mia sofort, dass er offen war. „Komisch, der war doch zu, als Leon und ich losgegangen sind.“ Mia war sich sicher, dass sie den Rucksack zugezogen hatte, nachdem sie die Schriftrolle und den Vergessenszaubertrank eingepackt hatte. Später, als sie Wilhelm vor dem offenen Bücherschrank getroffen hatten, hatte sie die Schriftrolle herausgeholt und Wilhelm gegeben. Aber auch da hatte Mia den Rucksack wieder zugezogen. Sie fing an den Rucksack zu durchsuchen. Auf den ersten Blick schien alles da zu sein. Doch etwas fehlte. Was war es nur?

Bevor sie sich erinnern konnte, rief Leon: „Mia, wo ist mein Buch? Ich brauche es! Komm endlich!“ Das war es. Das Buch von Leon fehlte, aber wo war es? „Mia, jetzt gib mir doch endlich mein Buch!“ Leons Stimme klang äußerst ungeduldig.

Als er gemerkt hatte, dass sie tatsächlich im Schrank waren, konnte er es nicht glauben. Leon hatte sich staunend umgesehen und war sprachlos. Mia und Wilhelm hatten die ganze Zeit die Wahrheit gesagt. Bis zuletzt hatte er es als Spinnerei abgetan, und war nur zum Schein mitgekommen.  Er war aber auch mitgekommen, weil er vor Mia nicht als Angsthase dastehen wollte. Wenn Leon ehrlich zu sich war, musste er sich eingestehen, dass er ein großer Angsthase war. Das war auch der Grund dafür, warum er seine Playstation so liebte und viel zu viel Fernsehen schaute. So musste er sich nicht seinen Ängsten stellen. Aber das würde er natürlich niemals zugeben.

Jetzt wollte er so schnell wie möglich zu Winnetou und Old Shatterhand. Leon wollte sie fragen, worin das Geheimnis ihrer Freundschaft lag. So drehte er sich zu Mia und fragte sie nach seinem Buch. Mia antwortete nicht. „Warum braucht sie denn so lange?“ fragte sich Leon. Mit einer noch ungeduldigeren Stimme fragte er erneut nach seinem Buch. Es schien so, als ob Mia etwas in ihrem Rucksack suchte. Jetzt schaute sie Leon an und sagte: „Leon, dass Buch ist nicht mehr da. Ich kann es nicht finden!“ Mia hatte keine Ahnung, wo es geblieben war. Wutentbrannt stürmte Leon auf Mia zu. Doch bevor er sie erreicht hatte, sah er Mama und Papa vor der Tür des Bücherschrankes stehen. Aber zum Glück schauten sie nicht in den Schrank rein, denn sonst hätten sie bestimmt die Drei gesehen. Stattdessen fingen die beiden an Wilhelm und Kinder zu suchen. Das nahm Leon zumindest an, denn alles andere wäre unlogisch gewesen.

So wendete Leon sich wütend wieder Mia zu, die inzwischen den gesamten Inhalt des Rucksackes vor sich liegen hatte. „Wie schaffen Mädchen es nur immer so viel Zeug in so kleine Taschen zu packen?“, dachte er als er all dies Zeug vor Mia liegen sah. Diese war auch darüber erstaunt, was sie so alles eingepackt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es soviel gewesen war. Sie hatte keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen, denn im selben Augenblick fauchte Leon sie an: „Aber mein Buch hast Du vergessen!“ Genauso fauchte Mia zurück: „Nein, das habe ich nicht. Du hast doch selbst gesehen, wie ich es eingepackt habe.“ „Ja, das habe ich gesehen, aber du scheinst es wieder ausgepackt zu haben. Oder woher hattest Du den Platz für diese komische Flasche und die Schriftrolle?“ Mit der Flasche meinte er den Vergessenszauber. „Du Idiot! Ich habe das Buch eingepackt. Erst danach habe ich noch die beiden Sachen eingepackt. Und als ich Wilhelm die Schriftrolle gegeben habe, war dein dämliches Buch noch da!“

Wilhelm war mit dem Text der Schriftrolle beschäftigt. Als er den Streit der beiden Geschwister hörte, blickte er von der Schriftrolle. „Hört auf euch zu streiten und kommt her. Ich muss euch etwas zeigen!“ Sich böse anfunkelnd, gingen sie zu Wilhelm hinüber. Dieser schaute die beiden an und zeigte ihnen die Schriftrolle. Mia und Leon fingen an zu lesen, was auf der Rolle stand. Ihre Augen wurden immer größer und anschließend schauten sie Wilhelm verständnislos an. „Was bedeutet das?“ wollte Mia wissen. „Ich bin mir nicht ganz sicher.“, erwiderte Wilhelm und sprach weiter: „Ich habe mir gewünscht, dass es klare Regeln geben sollte, wie man in den Schrank kommt. Und darauf hin erschienen die Verse auf der Schriftrolle. Vers eins und zwei sind mir klar, aber den dritten Vers verstehe ich nicht.

„Was bedeute denn:  Bist du allein und besitzt mich, dann wünsche dich in die BOKX.  So findest du hinein.” fragte Leon.

Wilhelm sah zu Mia und antwortete: „Letztes Jahr sind Mia und ich getrennt in den Bücherschrank gekommen. Mia hatte sich gewünscht, dass sie am liebsten das Spiel, wo es verboten war, den Boden zu berühren, spielen würde. So gelang sie in den Bücherschrank. Dabei verlor sie aber die Schriftrolle, die ich dann vor dem Bücherschrank fand. Und ich hatte mir gewünscht zu „Pippi Langstrumpf“ zu kommen, denn dort wurde das Spiel gespielt. Kaum hatte ich es ausgesprochen, war auch ich im Bücherschrank. Es hatte so funktioniert, wie es hier steht.“

„Ja genau so war es!“, bestätigte Mia. „Und als wir zu zweit waren, haben wir beide dasselbe Buch angefasst und waren plötzlich im Schrank. Aber Wilhelm im dritten Vers steht, dass man Eins und Zwei nicht vergessen soll. Das verstehe ich nicht!“ „Was verstehst Du nicht, Mia?“ fragte Wilhelm. Mia überlegte und sagte dann: Vor zwei Jahren wussten wir doch noch gar nichts von der Schriftrolle und Vers Eins.“ „Da hast Du Recht, Mia. Vielleicht lag es daran, dass wir beide im Bücherschrank nach demselben Buch gegriffen haben, und so die Magie des Schrankes wirken konnte. Aber ich verstehe nicht, was der dritte Vers zu bedeuten hat. Wahrscheinlich bedeuten Eins und Zwei, dass man sich an die Anweisungen aus Vers 1 und 2 halten soll. Und das haben wir ja getan. Wir alle drei haben uns gewünscht in den Schrank zu kommen und haben eine Verbindung hergestellt, indem wir uns die Hände gegeben haben. Aber welches Rätsel haben wir gelöst?“ Da standen sie nun und waren tief in Gedanken versunken. Plötzlich klatschte Mia in die Hände und strahlte über das ganze Gesicht: „Ich glaube ich habe die Lösung! Wilhelm, kannst Du dich noch erinnern, was Du gesagt hast, bevor wir im Schrank gelangten?“. Verwirrt schaute Wilhelm zu Mia hinüber: „Lass mich überlegen. Ich erinnere mich daran, dass jemand durch den Schrank lief und ich sagte, dass er mich an Catweazle erinnert. Und im nächsten Moment waren wir im Schrank!“ „Ganz genau!“, rief Mia „und ich glaube, dass genau das die Lösung des Bücherschrankrätsels gewesen ist. Wir sollten den Namen der Figur erraten! Warum sonst hätte die Figur durch den Bücherschrank laufen sollen?“ Wilhelm schaute zu Mia und staunte einmal mehr darüber, wie clever sie für ihr Alter war. „Das könnte die Lösung sein. Aber wir sollten herausfinden, ob es auch stimmt.“

Leon verstand mal wieder gar nichts. „Warum mussten die beiden immer wieder Geheimnisse vor mir haben?“, murmelte er vor sich hin. Da hörte er, wie Mia Wilhelm fragte, wie sie das herausfinden sollten. Leon sah, dass die beiden nach einer Lösung suchten. Er war mal wieder abgemeldet. Was nicht stimmte, aber das kapierte Leon nicht. Wilhelm und Mia hätten sich sehr gefreut, wenn er seine Ideen beigesteuert hätte. Aber anstatt darüber nachzudenken, dachte Leon wieder an sein vergessenes Buch. Neben Wilhelm lag die Schriftrolle und keiner achtete auf sie. „Wenn die Schriftrolle Wilhelm verraten konnte, wie man in den Schrank kam,“ überlegte Leon „vielleicht kann sie mir verraten, wie ich an mein Buch komme.“ Leon hob die Schriftrolle auf und rollte sie auseinander und sprach zur Schriftrolle: „Wie komme ich an mein Buch?“ Und kaum das er es ausgesprochen hatte, wurde die Rolle immer heller und blendete Leon. Gerade als Leon seine Augen schließen wollte, um sie vor der Helligkeit der Schriftrolle zu schützen, erschien ein neuer Text:

Kommt etwas in mich hinein,
wird es klein
Nur Bücher bleiben groß,
dass war schon immer so.

„Was war das denn schon wieder für ein Quatsch?“, fragte Leon sich. „Versteht ihr das?“ Mia und Wilhelm schauten auf die Rolle und lasen den neusten Text. Und wieder fing Mia an zu strahlen: „Jetzt ist klar, was mit deinem Buch passiert ist.“ Mia war glücklich, denn sie wusste jetzt mit Sicherheit, dass sie das Buch eingepackt hatte. Und sie verstand auch, warum der Rucksack offen war. Leon dagegen stand mal wieder auf der Leitung. „Was ist klar?“, wollte er von Mia wissen. Gerade als sie anfangen wollte es ihm zu erklären, wurde es dunkel im Bücherschrank. Erschrocken sahen sie zur Tür des Bücherschrankes. Dort standen Mama und Papa wieder. Laut rief Mia: „Wilhelm, Leon lauft. Wir müssen uns verstecken!“  Sie liefen alle drei hinter ein großes Buch. Hier konnten sie nicht mehr von außen gesehen werden.

Mama und Papa hatten überall nach Wilhelm und den Kindern gesucht. Die drei mussten doch irgendwo sein. Aber sie fanden sie weder hinter den geparkten Autos noch in den Seitenstraßen. Mama war einem Nervenzusammenbruch nahe. Sie hatten in den letzten 10 Minuten überall gesucht. Und nun standen sie wieder hier vor dem offenen Bücherschrank. Sollte doch was an Mias und Wilhelms Geschichten dran sein und der Schrank war magisch? „Nein, es gibt keine Magie!“, sagte Papa voller Überzeugung und öffnete die BOKX.