Es hatte in Köln bereits den ersten Schnee gegeben und wundersamerweise war er sogar liegen geblieben. Viel war es nicht, aber es war genug, um diese einzigartig magische Atmosphäre der Vorweihnachtszeit zu erzeugen, die Kinderaugen leuchten lässt. Es wurde bereits dunkel, gerade schneite es wieder. Einige Menschen hatten schon ihre Fenster geschmückt, hier und da roch es nach Plätzchen und langsam wurde es schwierig, der Adventszeit mit ihrem fröhlichen Treiben aus dem Weg zu gehen – selbst wenn man es wollte.

So wie Wilhelm zum Beispiel. Nachdem er vor der Haustür festgestellt hatte, dass es kälter war als er gedacht hatte, war er nochmal in die Wohnung zurückgegangen, um sich einen Schal zu holen. Unterwegs hatte er sich noch über die frechen Kinder seiner Nachbarn geärgert, deren Schuhe wie immer kreuz und quer im Hausflur herumflogen. Grummelnd hatte er sich schließlich doch auf den Weg zu dem stählernen Bücherschrank gemacht, den er am Ende der Straße nun schon sehen konnte. Die Hände in den Manteltaschen stapfte er weiter durch den Schnee.

Auch Mia war inzwischen am Bücherschrank angekommen, die Wollmütze saß ein bisschen schief auf ihren leicht zerzausten, blonden Zöpfen. Ihre Augen waren noch ziemlich verweint, aber immerhin liefen keine Tränen mehr an ihren Wangen herunter, die, ebenso wie ihre Stupsnase, von der Kälte leicht gerötet waren. Sie schniefte geräuschvoll.

Schon von Weitem versuchte sie durch die Acrylglastür die Einbände der Bücher im Inneren des Bücherschrankes zu erkennen. Für Mia war er wie ein riesiges Überraschungsei – deswegen kam sie so gerne hierher.
Bücher, die sie schon zu oft durchgeblättert hatte, stellte sie hinein und malte sich dann in den prächtigsten Farben aus, wer sich wohl als Nächstes darüber freuen würde. Außerdem nahm sie immer wieder ein Buch mit, dass sie gern lesen wollte, sobald sie das Lesen endlich gelernt hatte.
Zuhause hatte sie schon eine richtige, kleine Sammlung.

Sie streckte sich, um die Tür zu erreichen. Für fast Sechs war sie zwar ziemlich groß, aber neben dem viel größeren Bücherschrank wirkte sie wie ein Püppchen. Trotzdem gelang es ihr, den Metallschrank zu öffnen. Das Kinderfach war für sie bequem erreichbar und so begann sie damit, die Einbände der Bücher zu betrachten und sich zu überlegen, worum es darin wohl gehen könnte – dabei dachte sie sich immer die fantastischsten Geschichten aus.

Gerade hatte sie eine Ausgabe vom „Grüffelo“ in der Hand, in der sie herumblätterte, als sie hörte, wie die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Bücherschrankes geöffnet wurde. Aus Neugier versuchte sie, über die Bücher hinweg zu erkennen, wer dort auf der anderen Seite stand. Sie war schließlich oft hier und kannte viele der Leute, die regelmäßig hier am Bücherschrank waren – vielleicht war es ja ein bekanntes Gesicht.

Die Person auf der anderen Seite trug eine karierte Schiebermütze, die sie tief in die Stirn gezogen hatte. Mia zog sich an einigen Büchern hoch, um besser sehen zu können. Sie riskierte einen zweiten Blick und sah direkt auf einen einen großen, grauen, gezwirbelten Schnurrbart. Der Mann hatte sie wohl noch nicht bemerkt. Er hatte seine buschigen Augenbrauen zusammengezogen und überflog durch seine Brille konzentriert die Titel der Bücher im Bücherschrank. Dann zog er eines heraus und las den Klappentext.
„Kitsch, Kitsch, Kitsch. Pilcher und Konsalik. Wer liest sowas?!“, grummelte der Mann, die spitzen Enden seines Schnurrbarts vibrierten dabei. Mia unterdrückte ein Kichern. Der Mann stellte das Buch zurück und begann weitere Titel durchzusehen.

„Low Carb Kochbuch… Wäre eigentlich genau das Richtige, aber kann man ja nicht machen… Das große Buch der Meerschweinchenpflege? Bloß nicht noch eine Tier-Sammelleidenschaft auslösen!“, sagte er. Dann er ließ seinen Blick weiter über die Buchrücken wandern, hier und dort zog er ein Buch heraus und grummelte noch allerlei weitere Kommentare in seinen Schnurrbart, die Mia für nicht besonders freundlich hielt. Dann griff er plötzlich nach einem der Bücher, an denen sie sich festgehalten hatte.

Im selben Moment als er es berührte, begann das Buch heftig zu zittern – gerade so, als wäre etwas in seinem Inneren, das jetzt mit aller Macht herauswollte. Die beiden spürten, wie sich dieses Zittern auf ihre Finger, dann ihre Arme und schließlich ihre ganzen Körper übertrug. Sie versuchten ihre Hände wegzuziehen, aber es gelang ihnen nicht. Mit unglaublicher Wucht öffnete sich das Buch wie von allein und aus seinem Inneren schoss ein weißer Lichtstrahl – so blendend hell, dass er den ganzen Bücherschrank erfüllte. Beide schlugen sich die Hände vor die Augen, als die Welt plötzlich begann, sich schwindelerregend schnell zu drehen. Sie fühlten sich, als würden sie wie Kaugummifäden auseinandergezogen, dann als würden sie immer höher in die Luft gewirbelt und schließlich als ob sie wieder herabsegeln würden – wie trockenes Herbstlaub von einem Baum. Bevor einer von ihnen einen klaren Gedanken fassen konnte, war alles schon wieder vorbei.

Mia fand sich auf dem Boden liegend wieder, die Arme vor dem Gesicht verschränkt. Langsam nahm sie die Hände herunter und öffnete ein Auge. Gleich neben ihr lag der Mann, den sie durch den Bücherschrank beobachtet hatte. Auch er nahm langsam die Hände vom Gesicht, öffnete vorsichtig die Augen und blickte sie direkt an.

„Hallo, ich bin Mia! Hast du dir wehgetan?“, sie streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. „Was ist passiert?“, antwortete der Mann, er klang verwirrt und griff nach seiner Mütze, die neben ihm lag. „Weiß ich auch nicht. Wie heißt du?“, fragte Mia. Inzwischen hatten sich beide wieder aufgerappelt. „Mein Name ist Wilhelm…“, Wilhelm strich seinen Mantel glatt, rückte seine Brille zurecht und setzte seine Mütze wieder auf. Verwirrt sah er sich um, „Wo sind wir denn hier?“. Erst jetzt wurde auch Mia bewusst, dass sich ihre Umgebung verändert hatte. Wo war der Bücherschrank hin?

Mia schaute nach unten auf ihre Füße. Sie stand nicht mehr auf gepflastertem Boden. Unter ihren Füßen sah sie große schwarze Schriftzeichen auf weißem Grund, die genau wie Buchstaben aussahen. Moment mal – konnte es wirklich sein, dass sie auf einem riesigen Buch stand?

Sie blickte nach oben. Statt des wolkenverhangenen Himmels über Köln, sah sie über ihrem Kopf ein quadratisches Dach. Sie stutzte kurz, dann wanderte ihr Blick wieder nach unten.
An einer Glasscheibe entlang, an der von Außen riesige Schneeflocken landeten. Sie begannen sofort zu schmelzen und sich mit anderen geschmolzenen Schneeflocken zu dicken Tropfen zu verbinden, die  an der Scheibe hinabrannen.

„Ich glaube, wir sind IM Bücherschrank!“, sagte Mia und drehte sich zu Wilhelm um, der inzwischen die selbe Feststellung gemacht hatte. „Hmm. Ich vermute, du hast Recht.“, grummelte er und wies mit einer ungenauen Geste auf die Bücher, die sich vor und neben ihnen aufreihten. Sie waren jetzt so grotesk groß, dass sie sie vorher für Zwischenwände gehalten hatten. Die Titel auf den Einbänden wirkten riesenhaft wie Graffiti-Schriftzüge auf den Wänden mehrstöckiger Häuser.

„Schau mal, Willi, die Bücher haben Türen! Hier möchte ich rein!“, rief Mia plötzlich und zeigte auf ein Buch, auf dessen Einband sich tatsächlich eine kleine Tür mit goldenem Türknauf befand.

„Ich heiße Wilhelm!“, grummelte Wilhelm, „Und, offen gestanden, bin ich mir nicht sicher, ob wir da wirklich reingehen sollten. Ich will lieber wieder zurück vor meinen Fernseher. Außerdem lese ich sowieso keine Bücher.“. Mia legte den Kopf schief. „Aber was liest du denn dann?“, fragte sie und klang ehrlich erstaunt. Sie konnte sich wirklich nicht vorstellen, dass es Menschen geben könnte, die schon lesen können und es trotzdem nicht tun. Wilhelm antwortete ihr nicht.

„Hier ist es kalt! Bitte!“, sagte Mia in dem Tonfall, den kleine Mädchen immer dann benutzen, wenn sie Erwachsene zu etwas überreden möchten. Fröstelnd rieb sie ihre kleinen Hände mit den weichen, gestrickten Fäustlingen aneinander.
„Aber…“ setzte Wilhelm zum Protest an und sah Mia in ihre großen, blauen Augen.
Dann warf er den Kopf in den Nacken und atmete geräuschvoll aus.

„In Ordnung.“, sagte er schließlich.
Mia strahlte ihn an, während er seufzend den Türknauf herumdrehte.
Dann traten beide über die Schwelle.