Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 4: Mädchen mit Herz

Nun standen sie in einem wunderschönen, gepflegten Garten. In seiner Mitte befand sich ein großer, prunkvoller Springbrunnen und in regelmäßigen Abständen standen hübsch zurechtgestutzte Rosensträucher, an denen rote Rosen wuchsen. Um den Springbrunnen herum standen einige Flamingos, von denen manche recht zerzaust aussahen. Als ein Igel sich anschickte, an ihnen vorbeizulaufen, sprangen sie schnell einige Meter zur Seite und krächzten erschrocken. Noch bevor Wilhelm in der Schriftrolle nachgesehen hatte, in welcher Szene des Buches sie sich gerade befinden könnten, schallte ein spitzer, gellender Schrei durch den Garten.

„Ihr seid zu spät! Das Croquetspiel ist vorbei!“, kreischte eine schrille Stimme, die sie wenige Sekunden später einer Spielkarte zuordnen konnten, an deren vier Ecken sich Arme und Beine befanden. Da sie natürlich sehr flach war und obendrein auch noch seitlich zu ihnen stand, hatten sie sie vorher nicht bemerkt. Nun hatte sie sich ihnen aber zugewandt und es war deutlich erkennbar, dass es sich um die Herzkönigin handeln musste. Wilhelm schluckte. Er konnte sich zwar nicht genau an die Geschichte von Alice im Wunderland erinnern, hatte aber sehr wohl im Gedächtnis, dass es sich bei der Herzkönigin um keinen besonders sanftmütigen Charakter handelte. Er räusperte sich.

„Wir waren gar nicht eingeladen, eure Majestät!“, sagte er dann und bemühte sich, trotz seines steifen Rückens einen tiefen Diener zu machen. „Aha! Dann seid ihr also… EINDRINGLINGEEEEE! WACHEEEEEEN!“, kreischte die Königin. Bei den letzten Worten erhob sich ihre Stimme zu einem so markerschütternden Schrei, dass die Flamingos in Panik davonflogen, während sich der Igel zu einem stachligen Ball zusammenrollte.

In kürzester Zeit waren eine ganze Menge Spielkarten aufgetaucht, die wohl die Soldaten der Herzkönigin sein mussten. Schnell hatten sie Mia und Wilhelm umzingelt und richteten ihre Waffen auf sie, machten dabei jedoch schrecklich ängstliche Gesichter. „IHRE KÖPFE AB!“, schrie die Königin, als im selben Moment der Herzkönig um die Ecke schoss, der ebenso wie die Soldaten den Schreien seiner Frau gefolgt war.

„Ihr habt sie doch gehört! Der Henker soll sie köpfen, also runter mit den Waffen!“, sagte er zu den Soldaten, die seinem Befehl umgehend Folge leisteten. Geköpft zu werden war zwar auch keine allzu rosige Aussicht, aber für den Moment waren Mia und Wilhelm wirklich erleichtert.

„Wer ist das?“, fragte der König seine Frau.
„EINDRINGLINGEEE!“, begann diese sofort wieder zu kreischen.
„Holt ihr eine Torte!“, wies der König eine der Wachen an und redete beruhigend auf seine hysterische Frau ein, bis diese sich – zumindest ein wenig und natürlich nur vorübergehend – beruhigt hatte. „Wer seid ihr?“, fragte er dann und richtete seine Frage diesmal direkt an Mia und Wilhelm, um einen weiteren Schreikrampf der Herzkönigin zu vermeiden.

„Das ist eine lange Geschichte, eigentlich gehören wir gar nicht hier her…“, fing Wilhelm an, während er dem König ins Gesicht blickte, das einen verständnislosen Ausdruck zeigte. „Das entnahm ich schon den Schreien meiner Frau. Und weiter?“, antwortete der König mit schiefgelegtem Kopf. „Nun, wie soll ich anfangen?“, Wilhelms Stimme klang leicht verzweifelt. Er fand die Geschichte ja selbst unlogisch, die er dem Königspaar erzählen wollte.

Während er noch versuchte die richtigen Worte zu finden, griff Mia sich plötzlich mit beiden Händen in den Nacken und fummelte für einige Sekunden umständlich dort herum. Ihre plötzliche Bewegung hatte die Königin erschreckt, die gleich wieder losbrüllte, was wiederum die Soldaten animierte, ihre Waffen blitzschnell wieder auf Mia und Wilhelm zu richten.

Gottseidank kam im gleichen Moment die Wache zurück, die sich kurz zuvor auf den Weg gemacht hatte, um der Königin eine Torte zu holen. Sie überreichte der Königin ein hübsches, rot glasiertes Törtchen, in welches diese sofort hineinbiss. Sie schrie noch einige Sekunden mit vollem Mund, bis der Lärm von einem lauten Schmatzen abgelöst wurde. Wilhelms Ohren klingelten.

„Wir sind hier, weil wir ein Geschenk für Sie haben, eure Majestät!“, sagte Mia in die plötzliche Stille hinein und strahlte die Herzkönigin mit ihren großen Kulleraugen und breitem Zahnlückenlächeln an. Sie streckte ihre kleine Hand aus und versuchte tapfer zu ignorieren, dass die Waffen der Soldaten ihr noch ein ordentliches Stück näherkamen. Dann drehte sie die Handfläche nach oben und öffnete langsam die Hand.

Zum Vorschein kam ein filigranes, goldenes Kettchen. An ihm hing ein ebenfalls goldener Anhänger, der mit kleinen, roten Steinchen besetzt war. Er hatte die Form eines Herzens.
Die Herzkönigin verschluckte sich fast an ihrem Gebäckstück. „Waffen runter!“, schrie sie mit vollem Mund, „Aus dem Weg, ihr Schafsköpfe!“. Sie schob die Soldaten bei Seite und griff nach dem Kettchen in Mias Hand. „Geschenke! Na, sagt das doch gleich! Ihr seid begnadigt!“, sagte sie, während sie noch immer geräuschvoll kaute. Mia wischte sich unauffällig einen Krümel von der Stirn.

„Vielen Dank! Wir freuen uns sehr, wenn es ihnen gefällt, eure Majestät!“, sagte Wilhelm und legte voller Stolz und Dankbarkeit seine Hand auf Mias Schulter. Sie hatte ihnen mit ihrer Idee buchstäblich die Köpfe gerettet. „Wir müssten dann jetzt weiterziehen, wenn es genehm ist!“, sagte er zur Königin, die gnädig nickte und mitsamt ihrem Gefolge im Schloss verschwand, nachdem man ihr versichert hatte, dass dort noch dutzende weitere Törtchen zu finden seien.

„Das war unglaublich, Mia, danke!“, sagte Wilhelm und Mia fand, dass seine Stimme zum allerersten Mal ganz sanft und überhaupt nicht grummelig geklungen hatte.
„Bist du denn nicht traurig, dass du das Kettchen verschenken musstest? Wer hat es dir geschenkt?“, fragte Wilhelm und sah Mia besorgt an.

„Meine Eltern.“, antwortete sie, „Die kaufen mir ständig Sachen, wenn sie Geschäftsreisen machen. Ich habe mindestens einhundertdreiundfünfzig Halsketten.“. Einhundertdreiundfünfzig war die höchste Zahl, die ihr gerade einfiel. „Ich sage ihnen immer, dass ich lieber Bücher haben möchte.“, sagte Mia und verdrehte die Augen, „Aber sie lachen dann nur und fragen wozu, weil ich ja sowieso noch nicht lesen kann.“. Sie machte eine trotzige Schnute.

„Wenn wir den Weg hier herausfinden, schenke ich dir zehn Bücher!“, sagte Wilhelm und lächelte Mia aufmunternd an. „Und die kaufe ich sogar für richtiges Geld im Laden, wenn es sein muss!“, lachte er und Mia lachte mit, obwohl sie ja gar nicht wissen konnte, wie diese letzte Bemerkung gemeint gewesen war.

In diesem Moment raschelte es laut in einem Rosenbusch neben ihnen und an ihnen vorbei stürmte ein weißes Kaninchen in einer Weste. Es sah mit sorgenvollem Blick auf eine goldene Taschenuhr in seiner Pfote. „Keine Zeit! Viel zu spät!“, hörten sie es sagen, als es schon wieder einige Meter entfernt war. Mia, die Kaninchen genau so sehr liebte, wie jedes Mädchen in ihrem Alter, sprang sofort auf, um ihm hinterherzulaufen. „Komm, Willi!“, rief sie und drehte sich im Laufen zu Wilhelm um, der sich etwas mühevoller aufrappelte, sich aber sehr bemühte, dabei keine Zeit zu verlieren.

Das Kaninchen schlug einige Haken um mehrere Rosenbüsche, aber Mia war ihm dicht auf den Fersen. Wilhelm folgte den beiden in einigen Metern Abstand. Dann verschwand das Kaninchen plötzlich in einem Loch in der Erde. Mia sprang ihm ohne zu zögern hinterher. Wilhelm blieb einige Zentimeter vor dem Erdloch stehen. Für ihn waren das schon eine ganze Menge Abenteuer gewesen und hätte ihn jemals jemand gefragt, ob er in ein Loch springen wolle, ohne zu wissen, was darin auf ihn warten würde, dann hätte er ganz sicher entschieden abgelehnt. Er seufzte. Dann atmete er tief durch, hielt seine Schiebermütze fest und sprang Mia und dem Kaninchen hinterher.

Es fühlte sich an, als würden sie eine Ewigkeit fallen, durch die ganze Erde hindurch. Sie trudelten und purzelten übereinander und aneinander vorbei. An den Wänden des langen Tunnels, durch den sie fielen, waren dutzende Regale angebracht, auf denen lauter Bücher und merkwürdige Gegenstände wie Einmachgläser mit verschiedensten Inhalten standen. Sie fielen aber so schrecklich schnell, dass sie all das nur schemenhaft erkannten.

So fielen sie und fielen und fragten sich schon, ob sie jemals irgendwo ankommen würden, als sie ganz plötzlich, aber überraschend sanft, landeten.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder