Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 22: Ein gutgereimter Rat

Mia und Wilhelm zogen sich ihre Schals und Handschuhe an. Besorgt hatte Wilhelm noch einen schnellen Blick in die Schriftrolle geworfen. Wieder waren hunderte Zeilen der geheimnisvollen Schriftzeichen verschwunden und ihn beschlich die Befürchtung, dass ihnen nicht mehr viele Chancen blieben. Es sah so aus, als würden sie nur noch ein einziges Buch besuchen können, bevor sie das Rätsel lösen mussten. Sie mussten also weise wählen.

Dennoch wollte Wilhelm nicht, dass Mia seine große Besorgnis spüren musste. Er hatte in letzter Zeit beobachtet, dass ihr Heimweh immer größer geworden war und war fest entschlossen, das kleine Mädchen wieder nach Hause zu bringen – auch wenn er noch keine Ahnung hatte, wie er das anstellen würde. Er konnte nachfühlen, wie sehr Mia ihrer Familie fehlen musste, schließlich kannte er sich mit dem Vermissen selbst sehr gut aus. Auch wenn er eine Sache schon seit einiger Zeit nicht mehr vermisst hatte: die einsamen Stunden in seinem Fernsehsessel.

Aber es ging ihm jetzt nicht mehr um sich selbst. Er wollte seiner Freundin helfen. Mia streckte ihm ihre kleine, behandschuhte Hand entgegen und er drückte sie fest. Dann begannen die beiden, sich nach dem letzten Buch ihrer Reise umzusehen.

Eines der Bücher war leicht herausgezogen worden. Es war den beiden sofort aufgefallen. Als sie näherkamen, sahen sie, dass seine Tür einen Spaltbreit offenstand. Mit leisem Quietschen wiegte sie sich sachte hin und her. Keiner von ihnen wusste warum, aber sie waren sich sicher, dass sie zumindest hineinsehen mussten. Wilhelm griff nach der verschlungenen, gusseisernen Klinke und öffnete die Tür.

Sie sahen auf ein großes Gelände unter freiem Himmel. Zwischen hunderten steinernen Säulen wanden sich breite Treppen und große Terrassen durch die Landschaft. Die Böden waren mit aufwendigen Mosaiken verziert und an jeder der Säulen schienen sich andere Ornamente zu finden. Außerdem herrschte hier völlige Stille. Es war einfach wunderschön. Die beiden gingen über die Türschwelle und Wilhelm schloss vorsichtig die Tür.

Zaghaft traten die beiden in den Säulenwald hinein. Sie gingen einige Schritte umher, als sie plötzlich ein Geräusch wahrnahmen. Es schien aus einiger Entfernung zu kommen und sich zwischen den Säulen umherzubewegen. Jetzt näherte es sich. Es klang, wie eine Stimme. Eine glockenhelle, reine Stimme, die eine unglaubliche Traurigkeit in sich trug. Sie schien zu singen, aber von Zeit zu Zeit schluchzte sie herzzerreißend. Manchmal wechselte sie mühelos die Richtung – ganz so, als würde sie schweben. Jetzt war sie ganz nah.

„Hallo?“, rief Mia, aber sie bekam keine Antwort. Nur ihr eigenes Echo wurde von den Säulen zurückgeworfen. „Ist da jemand?“, rief sie noch einmal, und wieder schallte ihr vielfaches Echo durch den Säulenwald. Aber die Stimme schien sie gehört zu haben, denn sie fing wieder an zu singen und diesmal konnte man sie deutlich verstehen.

„Ihr lieben Besucher, ich kann euch zwar hören,
doch verstehe ich eure Sprache nicht.
Lasst euch nicht von meinem Singen stören,
sprecht einfach mit mir in einem Gedicht!“

Wilhelm und Mia sahen sich nachdenklich an. Dann antwortete Wilhelm.

„Nur Worte, die uns sanft umwehen,
bitte zeig uns dein Gesicht.
Wir können dich zwar gut verstehen,
doch sehen können wir dich nicht.

Uns hat der Zufall her verschlagen,
wir krümmen dir gewiss kein Haar,
doch bitte, kannst du uns nicht sagen,
wie noch gleich dein Name war?“

Mia war sehr beeindruckt von Wilhelms Dichtkünsten. Sie sah ihn anerkennend an, während die beiden der Antwort lauschten, die gleich zurückgesungen wurde.

„Ich habe kein Antlitz und bin ohne Hülle,
bin nur meine Stimme allein.
Kein Körper, nur Klänge in Hülle und Fülle,
mehr werde ich niemals sein.

Ich bin Uyulála, die Stimme der Stille,
im tiefen Geheimnispalast.
Stehst du vor einem Rätsel, so ist es mein Wille,
dass du bald eine Lösung hast.

Ich kenne die Wahrheiten jedweder Welten,
wenn du etwas wissen willst, sprich!
So einfach erfährt man die Wahrheit selten
und viel Zeit bleibt euch beiden ja nicht.“

Die Stimme hatte sie mehrmals umkreist, während sie geantwortet hatte. Dann hatte sie sich wieder ein Stück entfernt. Wilhelm dachte einige Sekunden nach. War diese Uyulála etwa so eine Art Orakel? Fieberhaft überlegte er nach den passenden Reimen. Dann sprach er.

„Tatsächlich gibt es eine Frage,
zu der mir die Antwort fehlt:
Da ist etwas, das ich bei mir trage,
das wohl ein Geheimnis enthält.

Ich soll es öffnen, doch bleibt es verschlossen,
ich habe schon alles versucht.
Lange blieb ich noch unverdrossen,
doch ich glaube, das Ding ist verflucht.“

Bei diesen Worten hatte er in Mias Rucksack hineingegriffen und die BOKX auf den Boden gestellt. Er wusste zwar nicht, ob die Uyulála überhaupt etwas sehen konnte, aber er musste es versuchen. Sie antwortete sofort.

„Du betrachtest das alles nicht richtig,
da ist noch ein anderes Ding,
und das ist für die Lösung ebenso wichtig
wie diese BOKX und das Kind.

Du weißt genau, woran es liegt,
du musst dich nur überwinden;
Es reicht nicht, wenn man nur überfliegt,
du musst es auch empfinden.

Du warst schon ein paar Mal der Lösung ganz nah,
doch wolltest du es übereilen.
Erinner‘ dich dran, wie es früher war,
du musst Wissen und Liebe auch teilen.“

Wilhelm war vollkommen ratlos. Was sollte das denn nun bedeuten? Er hatte auf ihrer ganzen Reise nicht ein einziges Mal das Gefühl gehabt, der Lösung auch nur ein winziges Stückchen näher gekommen zu sein. Er versuchte es zu unterdrücken, aber es machte ihn wütend, dass in Büchern immer nur in Rätsel gesprochen wurde. Aber noch bevor er sich eine ärgerliche Antwort zusammenreimen konnte, begann die Uyulála schon wieder zu singen.

„Ich habe dir nun die Lösung erklärt,
mehr kann ich nicht für euch tun.
Mia ist es noch verwehrt,
doch du – du kannst es schon.

Eure Wahrheit ist verkündet,
so ziehe ich mich nun zurück.
Auf dass ihr mein Wort ergründet,
ich wünsche euch von Herzen Glück.“

Bei ihren letzten Versen hatte sich die Uyulála von ihnen entfernt. Wilhelm hatte ihr noch etwas nachgerufen, aber sie hatte nicht mehr reagiert und blieb verschwunden.
Wilhelm ließ sich an einer der Säulen nach unten sinken. Ihm brummte der Schädel.
Mia setzte sich neben ihn. Auch sie wusste nichts mit dem Rat der Uyulála anzufangen.

Die beiden saßen noch genauso da und zerbrachen sich die Köpfe, als unter ihnen plötzlich die Erde zu beben begann.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder

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