Prolog: Es ist viel passiert!

„Gut Wilhelm, so machen wir das!“, jauchzte Mia ins Telefon, legte auf und stellte das Telefon zurück auf seine Station. Anschließend drehte sie ein paar Pirouetten im Flur. Ihr Bruder Leon saß im Wohnzimmer und war einfach nur genervt. Heute war der letzte Novembertag, und seit vier Wochen hatte sie schon wieder einen „Lockdown“. Diesmal in der „Light-Fassung“. Anders als im März mussten sie weiter in die Schule gehen und Masken im Unterricht tragen. Es war nur noch schrecklich!

Was war das für ein Jahr gewesen! Am ersten Dezember des letzten Jahres hatte ihn Mia genervt und wollte, dass er mit ihr zum offenen Bücherschrank ging. Sie wollte ihm tatsächlich weismachen, dass dieser magisch sei. Leon hatte ihr zu verstehen gegeben, dass er nichts von diesem Quatsch hören wollte, und dass sie ihn bloß in Ruhe lassen sollte. In seinen Augen waren Bücher reine Zeitverschwendung gewesen und doof! Wann würde Mia das endlich begreifen. Fußballspielen, Playstation und Fernsehen, dass war seine Welt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er nicht mehr gebraucht.

Dann kam der März, und sein Traum war in Erfüllung gegangen. Ein Virus namens „Corona“ hatte Europa fest im Griff und es kam zum ersten „Lockdown“. Das gesamte öffentliche Leben stand still. Auch die Schulen waren geschlossen wurden und die Kinder hatten Homeschooling. Mia und Leon absolvierten dieses mit links und bei ihren wenigen Fragen konnten sie sich immer an Papa und Mama wenden. Am Anfang war es nur super. Leon freute sich, dass er unbegrenzt Playstation spielen oder Fernsehen schauen konnte. Seine Eltern hatten zwar versucht die Zeit für Playstation und Fernsehen zu begrenzen. Doch sie gaben schnell auf, weil sie keine Lust mehr auf die ständig gleichen Diskussionen hatten. Jedoch bestanden sie darauf, dass er seine Schulaufgaben machte. Doch schon nach kurzer Zeit wurde es Leon langweilig. Aber dass hätte er nie zugegeben. Zuallerletzt gegenüber Mia, welche die ganze Zeit auf ihrem Bett saß und ihre Nase in Bücher steckte.

Leon war davon ausgegangen, dass sie wie jedes Jahr die Sommerferien wieder in Schweden bei Oma und Opa verbringen würden. Doch „Corona“ hatte Schweden zu einem Risikogebiet gemacht und war der Schwedenurlaub ins Wasser gefallen.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Mama und Papa hatten doch die verrückte Idee gehabt, in die Eifel zu fahren. Eifel?! Das durfte doch nicht wahr sein. Wie würde er vor seinen Freunden in der Schule dastehen. Na, ja vielleicht musste er nie wieder in die Schule. Trotzdem hatte er keinen „Bock“ auf die Eifel. Doch Papa und Mama hatten es beschlossen und er hatte keine andere Wahl. Papa meinte, dass es schon ein bisschen Urlaub sei, wenn man in einem anderen Bett schläft. So ging es im Juli für zwei Wochen in die Eifel. Selbst Leon gab schließlich zu, dass der Eifelurlaub gar nicht so schlecht gewesen war.

In der ersten Woche wanderten sie mit Alpakas durch die Eifel. Sie Das hatte besonders Spaß gemacht. Besonders wenn Papas Alpaka mal wieder nicht weiterwollte. Der große Schock kam für Leon in der zweiten Woche. Diese verbrachten sie in einer Ferienwohnung auf einem Bauernhof. Und ob man es glaubte oder nicht, dort gab es doch tatsächlich keinen Fernseher. Doch er erholte sich schnell von seinem Schock , denn es gab ja so viel entdecken. Mia und Leon lernten viel über Kühe, Schweine und Hühner. Die Kühe durften sie sogar streicheln. Nachdem Mia sich aber eine „Ohrfeige“ durch den Schwanz einer Kuh eingefangen hatte, hielt sie lieber Abstand.

An einem Tag hatte es in Strömen gegossen. Leon hatte sich gelangweilt, denn er wusste einfach nicht, was er tun sollte. Da war Mia, die mal wieder mit der Nase in einem ihrer Bücher steckte, zu ihm herübergekommen und hatte ihm ein Buch gegeben. Es war „Kalle Blomquist“ von Astrid Lindgren. „Den kenne ich persönlich!“ Leon erwiderte: „Wer es glaubt, wird selig!“ Mia hatte nur in sich hineingegrinst und hatte sich wieder auf ihr Bett gesetzt.

Von dem Tag an hatte Leon auch die Welt der Bücher für sich entdeckt. Inzwischen hatte er schon einige Bücher gelesen. Papa freute sich so, dass er Leon seine alten Winnetou-Bücher gegeben hatte. Leon hatte sie verschlungen. Anfangs hatte er Schwierigkeiten mit der Sprache, die sich doch sehr von der heutigen Sprache unterschied. Manches in dem Buch fand er so gruselig, dass er lieber ungelesen weiterblätterte, was er aber nie zugegeben hätte. Trotzdem konnte er die Bücher nicht zur Seite legen. Besonders die Freundschaft zwischen „Winnetou“ und „Old Shatterhand“ hatte er bewundert und davon geträumt, dass er auch mal so etwas erleben könnte.

Aber das würde ein ewiger Wunsch bleiben. An all das dachte er jetzt, während Mia im Flur ihre Pirouetten drehte. Als er sie so beobachtete, wurde er eifersüchtig. Es war nicht das erste Mal. Wilhelm war so etwas wie ein „Opa“ für sie beide geworden. Allerdings hatten sie sich in diesem Jahr kaum gesehen. Oh, wie Leon „Corona“ hasste. Das letzte Mal war Wilhelm im September da gewesen. „Opa“ Wilhelm war schon super. Er hatte letztes Jahr Mia und ihm zwei superschöne Schultüten geschenkt, die er mit viel Liebe selbst gemacht hatte. Ganz oft hatte er auch schon auf sie aufgepasst. Trotzdem gab es da etwas zwischen Mia und Wilhelm, was er nicht verstand. Lag es vielleicht doch an diesem Bücherschrank? Als Mia ins Wohnzimmer kam, tat Leon so, als ob es nicht wichtigeres als seine Playstation gäbe und fragte ganz nebenbei: „Was habt ihr denn vor?“ Mia traute ihren Ohren nicht. „Du willst doch sonst auch nicht wissen, was wir machen wollen.“ „Stimmt!“, erwiderte Leon: „aber jetzt will ich es wissen.“ Mia stellte sich vor ihn, verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust und holte tief Luft. Langsam sagte sie mit feierlicher Stimme: „Wilhelm und ich gehen wieder in den offenen Bücherschrank.“ Leon schaute sie mit großen Augen an: „Ihr macht was?“ „Wir gehen wieder in die magische BOKX!“

Leon schüttelte den Kopf: „Das ist doch alles Spinnerei.“ Er erinnerte sich an das Gespräch seiner Eltern mit Wilhelm im September. Damals hatten diese Wilhelm auch nicht geglaubt, als er Mia verteidigt hatte. Mia zog einen Schmollmund, wie es nur Mädchen ihres Alters konnten, und schaute Leon wütend an: „Das ist keine Spinnerei, du Idiot. Wir waren schon zweimal im offenen Bücherschrank. Ja, wir waren richtig drin und sind echt durch die Bücher gewandert. Letztes Jahr habe ich „Kalle Blomquist“ getroffen und er hat mir geholfen, Wilhelm zu finden. Und wenn du mir nicht glaubst, dann komm doch einfach mit. Das wird ein großer Spaß! Oder traust du dich nicht, du Angsthase!“

Nachdem Wilhelm den Hörer auf sein antiquarisches Telefon gelegt hatte, lächelte er. Er setzte sich in seinen alten Ohrensessel und blickte auf die letzten zwei Jahre zurück. Wie sehr hatten diese sein Leben zum Positiven verändert. Und dass alles nur, weil er ein kleines Mädchen zufällig vor dem offenen Bücherschrank, welcher sich als magisch herausstellen sollte, am Ende der Straße getroffen hatte.

Mia, das kleine Mädchen und er hatten inzwischen zwei aufregende Abenteuer erlebt. Nach ihrer ersten abenteuerlichen Reise durch den magischen Bücherschrank vor zwei Jahren, wurde Mias Familie ein fester Bestandteil in seinem Leben. Wilhelm war praktisch als „Opa“ adoptiert worden.

Aber in diesem verrückten Jahr hatten sie sich kaum gesehen. Schuld daran war ein Virus aus China. Mit seinem Alter gehörte Wilhelm zur Hochrisikogruppe, so dass er besonders vorsichtig sein musste. „Corona“ hatte sich regelrecht zu einer weltweiten Pandemie entwickelt. Sie befanden sich gerade im zweiten „Lockdown“, der diesmal eine „Lightversion“ war. Wie sinnvoll das alles war, würde man wahrscheinlich erst viel später sagen können. Aber der Virus würde sich noch lange auf das Leben aller auswirken. Davon war Wilhelm überzeugt. So freute er sich über jeden Kontakt mit seiner „Familie“. Fast täglich telefonierten sie mehrmals miteinander.

Nachdem im September der erste „Lockdown“ gelockert worden war, hatten sie sich endlich nach langer Zeit wiedersehen können. So saßen sie dann an einem spätsommerlichen Septemberabend zusammen im Garten. Voller Begeisterung hatte Mias und Leons Papa den Grill angeschmissen. Dieser liebte seinen Grill und nutzte jede Gelegenheit es allen zu zeigen. Wobei es immer wieder vorkam, dass das Grillgut einen leicht angebrannten Geschmack hatte. Aber an jenem Abend ging alles gut, so dass die Fünf irgendwann gesättigt waren. Mia und Leon mussten ins Bett, denn am nächsten Tag hatten sie tatsächlich Schule.

Wilhelm unterhielt sich noch lange mit Mama und Papa. Sie redeten über „Gott und die Welt“. Und so war es auch nicht verwunderlich, dass sie auch auf den offenen Bücherschrank zu sprechen kamen. Es war nicht das erste Mal und es würde mit Sicherheit auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Alle drei waren sich einig, dass die BOKX eine geniale Einrichtung war. Warum war nicht schon viel früher jemand auf diese Idee gekommen.

Mama und Papa machten sich allerdings schon seit einiger Zeit Sorgen um Mia. An jenem Abend erzählten sie Wilhelm davon. Es waren die Geschichten, welche Mia vom Bücherschrank erzählte. Nachdem ersten Abenteuer hatten Mama und Papa Mia erzählen lassen. Insgeheim waren sie stolz darauf, was für eine blühende Fantasie ihre Tochter hatte. Denn das waren die Geschichten, sie waren reine Fantasie.

Doch als Mia im letzten Jahr dann neue Geschichten erzählte und darauf beharrte, dass  das alles wirklich passiert sei, fingen sie an sich Sorgen zu machen. Wo sollte das enden? Sollte Mia tatsächlich nicht mehr zwischen Realität und Fantasie unterscheiden können? Zunächst versuchten sie ihr sagen, dass diese Geschichten nur in ihrem Kopf passierten. Aber Mia bestand weiterhin darauf, dass sie im Limonadenbaum von „Pippi Langstrumpf“ gewesen sei. Zudem hatte sie Dumbledore getroffen, der ihr einen Vergessenszaubertrank geschenkt hatte. Den Zaubertrank brauchte sie, damit die Menschen, welche sie in den Büchern getroffen hatte, sie wieder vergaßen. Das ging zu weit, so dass Mama und Papa ihr verboten weiter solche Geschichten zu erzählen. Mia waren diese Verbote egal, und sie hielt an ihren Geschichten fest. Im Urlaub hatte sie dann Leon erzählt, dass sie „Kalle Blomquist“ persönlich kennen würde und dieser ihr auch geholfen hätte. Zwar hatte Mia es so geschafft, dass Leon endlich anfing zu lesen, aber für Mama und Papa war die Schmerzgrenze erreicht. Kaum als die Familie wieder zu Hause war, hatte Mama einen Termin beim Kinderpsychologen vereinbart.

Bis zu diesem Punkt hatte Wilhelm ihnen ruhig zugehört. Ab und zu hatte er genickt, ganz so, als ob den Beiden Recht geben wollte. Jetzt aber unterbrach er Papa, denn das ging wirklich zu weit. „Den Termin beim Kinderpsychologen sagt ihr gleich mal wieder ab! Ihr tut gerade so, als ob Mia krank sei. Aber das ist sie definitiv nicht!“ Er redete sich regelrecht in Rage. Selbst wenn es alles Fantasie sein sollte, gäbe es daran doch nichts auszusetzen. Schließlich beruhigte Wilhelm sich wieder, schaute den Beiden fest in die Augen und sagte: „Ob ihr es glaubt oder nicht, aber Mia sagt die Wahrheit. Der Bücherschrank ist wirklich magisch und ich habe all die Geschichten mit Mia zusammen erlebt. Zu mindesten was das erste Abenteuer betrifft. Im letzten Jahr sind wir zwar getrennt in den Bücherschrank gekommen, aber nach einigen Abenteuern haben wir uns gefunden.“ So erzählte Wilhelm von den Abenteuern im letzten Jahr. Mia wollte eigentlich zur „Villa Kunterbunt“. Sie gelangte in den Bücherschrank und verlor dabei die Schriftrolle. „Die Schriftrolle?“, fragte Papa verwirrt. Aber Wilhelm ließ sich nicht aus dem Konzept bringen und erzählte weiter. Wie er die Schriftrolle gefunden hatte, in den Schrank gelangte und sich auf den Weg machte Mia zu finden. Sein einziger Hinweis war das Spiel, bei dem man nicht den Boden berühren durfte. Mia hatte inzwischen „Kalle Blomquist“ getroffen, der ihr dann half. Wilhelm erzählte von seinen Abenteuern im „Sommernachtstraum“ von William Shakespeare. Und erhörte gar nicht mehr auf zu erzählen. Dabei erwähnte er auch die Geschichten, die Mama und Papa schon aus Mias Sicht kannten. Wilhelm endete mit seiner Geschichte, indem er davon berichtete, wie er Mia doch noch gefunden hatte. Gemeinsam hätten sie dann den Bücherschrank verlassen.

Mama und Papa schauten Wilhelm entsetzt an. Konnte es sein, dass ihm der „Lockdown“ ein wenig zugesetzt hatte? Das konnte doch alles nicht wahr sein. Anderseits hatten sie Wilhelm als jemanden kennen gelernt, der mit beiden Füssen im Leben stand. Sie waren völlig verunsichert und wussten nicht, was sie von all dem halten sollten. Ohne es laut auszusprechen nahmen sie sich fest vor, das Geheimnis des Bücherschrankes zu erkunden. Es war spät geworden und es war Zeit gewesen für Wilhelm nach Hause zu gehen. Er ließ ein Elternpaar zurück, in deren Gesichter viele Fragezeichen standen.

Als Wilhelm sich an diese Gesichter erinnerte, lachte er laut auf. Mia hatte ihm später erzählt, dass Mama den Termin tatsächlich abgesagt hatte. Darüber hatte er sich sehr gefreut, dennoch war er auch sicher, dass die Beiden ihm kein Wort geglaubt hatten. Wahrscheinlich suchten sie immer noch nach einer logischen, vernünftigen Erklärung für alles.

Wilhelm erhob sich aus seinem Ohrensessel und ging in die Küche. Auf dem Weg dorthin dachte er an Mia. Sie hatten vereinbart, dass er sie morgen anruft, um zu verabreden, wann sie gemeinsam zum Bücherschrank gehen wollten, um dort ihr drittes Abenteuer zu erleben. Bis dahin waren es nur noch wenige Stunden. Und wer weiß, vielleicht kam Leon ja dieses Mal mit.