Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 12: Ohne Umwege

Das laute Geräusch war offensichtlich von einer Eule ausgegangen, die bei vollem Flugtempo geradewegs durch das geöffnete Fenster geschossen war. Sie hatte wohl vergessen zu bremsen und war mit einer ziemlichen Wucht gegen einen Kerzenhalter geknallt, der an der Wand gegenüber auf einem Tisch gestanden hatte, bevor er nun mit einem lauten Knall zu Boden ging. Einige Federn stoben durch den Raum.

Mia und Wilhelm hatten sich ganz schön erschreckt, aber die Eule sah auch nicht unbedingt so aus, als wäre das alles so geplant gewesen. Sie purzelte noch ein Stückchen über den Boden, bis sie auf dem Rücken liegen blieb, ihre Füßchen nach oben streckte, noch ein paar Mal damit zuckte und dann langsam ihre Augen schloss. Wilhelm sorgte sich schon, ob sie neben all der Federn möglicherweise noch etwas viel Elementareres hatte lassen müssen, als sie ein hüstelndes Krächzen ausstieß. Sie zuckte noch einmal mit ihren Füßen, als Wilhelm daran ein Briefchen entdeckte.

„Eulenpost!“, sagte er und erinnerte sich, auf der Schriftrolle davon gelesen zu haben, dass in diesem Buch die Post von Eulen gebracht wurde. Er beugte sich zu der Eule herunter und löste das Band, mit der der kleine Brief an ihrem Bein befestigt gewesen war. Auch Mia, die eigentlich alle Tiere mochte, hatte sich zu der Eule hinuntergebückt und begann, ihr das Köpfchen zu streicheln. Offensichtlich gefiel es ihr, denn als Mia sich neben sie setzte, hüpfte die kleine Eule ihr direkt auf den Schoß. Genüsslich rieb sie ihr Köpfchen gegen Mias Hand.

Wilhelm hatte indes den Brief geöffnet, auf dessen Umschlag in einer großen und leicht geschwungenen Schrift „Mia & Wilhelm“ geschrieben stand. Er fand darin eine Nachricht von Albus Dumbledore:

Mia & Wilhelm,
Gut, dass euch meine Nachricht erreicht, bevor ihr versucht habt, zu Mias Kamin zu reisen! Kaum ein Kamin, der nicht einem Zauberer gehört, ist an das Flohnetzwerk angeschlossen. Wer weiß, wohin es euch verschlagen hätte… Der Ort, zu dem ihr reisen sollt, heißt „Bilbo Beutlins Haus“. Ich hatte wohl vergessen, es euch zu sagen – bitte entschuldigt!

P.S.: „Beutlin“ spricht man mit einem langen „i“.

Beste Grüße,
Albus Dumbledore

„Bilbo Beutlin…“, brummte Wilhelm nachdenklich, nachdem er den Brief gelesen hatte. Der Name kam ihm bekannt vor, aber er konnte sich beim besten Willen nicht entsinnen, wo er ihn gehört haben könnte. Im Augenwinkel sah er, wie die kleine Eule, die sich inzwischen erholt hatte, aus dem Fenster wieder davonflog.

„Das ist ein Brief von Dumbledore.“, sagte er schließlich zu Mia, „Wir müssen zu Bilbo Beutlins Haus.“. Wieder ließ er Mia einige Male den Namen ihres Ziels laut vorsagen. Sie sprach alles perfekt aus, also stellten sich die beiden wieder vor dem Kamin auf. Wilhelm warf eine Handvoll Flohpulver in das Feuer, das sogleich heftig aufloderte und eine smaragdgrüne Farbe annahm. Dann hob er Mia in den Kamin. Beide hatten dabei ein ziemlich mulmiges Gefühl, aber Hagrid und Dumbledore waren so nett und gastfreundlich gewesen, dass sie ihnen einfach vertrauen mussten. Mia sah Wilhelm an und atmete noch einmal tief durch. „Bilbo Beutlins Haus!“, sagte sie klar und deutlich. Im nächsten Moment schossen die Flammen im Kamin so hoch, dass sie Mia geradezu verschluckten. Als sich das Feuer wieder beruhigt hatte, war Mia weg.

Wilhelm hatte ziemliche Angst bekommen, als er seine kleine Freundin plötzlich in den grünen Flammen verschwinden sah. Eilig nahm er den Rest des Flohpulvers und warf es mit zitternder Hand in den Kamin. Er stellte die leere Schatulle auf dem Kaminsims ab. Die Flammen loderten hoch, färbten sich grün und Wilhelm beeilte sich, in den Kamin zu steigen. Er schloss die Augen. „Bilbo Beutlins Haus!“, sagte er dann. Das Feuer brannte wieder hell auf, dann war auch Wilhelm verschwunden.

Es fühlte sich an, als wären sie durch den Kamin in den Himmel hinaufgesogen worden, während sie sich rasend schnell um sich selbst drehten. Ein schrecklicher Lärm begleitete sie auf der Reise, die nur wenige Sekunden dauerte. Erst wurde ihnen heiß, dann kurz schrecklich kalt. Einige Male sahen sie kurze Bilder fremder Küchen und Wohnzimmer vorbeiziehen – als könnten sie durch andere Kamine in die Häuser fremder Menschen schauen – bis sie ganz plötzlich mit irrsinnigem Gerumpel und Gepolter zum Halten kamen.

Sie hatten eine riesige Rußwolke aufgewirbelt und husteten erbärmlich, aber sonst war ihnen nichts passiert. Auch dem Vogelei in dem Samtbeutel nicht, das hatte Wilhelm gleich zuerst überprüft. Mühevoll rappelten sie sich auf und tasteten blind in all dem Ruß herum, um den Weg aus dem Kamin zu finden. Gerade als sie aus der Rußwolke heraustreten wollten, hörten sie, wie sich ihnen schnell trampelnde Schritte näherten. Im nächsten Moment ertönte ein lauter Schrei, der Mia und Wilhelm so erschreckte, dass sie gleich wieder in den Kamin hereinsprangen, wobei sie noch mehr Ruß in der Luft verteilten. Die Schritte entfernten sich genauso schnell, wie sie sie hatten kommen hören. Offenbar war dieser Bilbo Beutlin vor ihnen geflüchtet – wenn sie denn im richtigen Kamin gelandet waren. Als sich die Rußwolke langsam verflüchtigte, wagten die beiden einen zweiten Anlauf und traten aus dem Kamin heraus.

Dieses Haus war so furchtbar niedrig gebaut, dass Wilhelm sich erstmal ordentlich den Kopf an einem dicken Holzbalken an der Zimmerdecke gestoßen hatte, als er sich wieder hatte aufrichten wollen. Ein wenig Kalkputz war auf ihn heruntergebröselt, den er sich nun grummelnd von der Mütze und aus dem Schnurrbart schüttelte. „Tut es sehr weh?“, fragte Mia besorgt und zog eine mitleidige Schnute. Dann pustete sie eifrig auf die Stelle, an der Wilhelm sich gestoßen hatte, wobei sich noch mehr Ruß im Raum verteilte. Oben auf dem Kopf wurde Wilhelms volles graues Haar langsam etwas lichter und es war gut erkennbar, dass dort in den nächsten Minuten eine eindrucksvolle Beule entstehen würde. „Jetzt ist es schon viel besser. Danke!“, sagte er und bemühte sich Mia anzulächeln, obwohl er noch immer Sternchen sah.

Sie hatte noch einmal gepustet und dann begonnen, sich umzusehen. Nicht nur die Decke des Hauses war viel niedriger, als sie es von Zuhause gewohnt waren. Auch die Einrichtung, die Möbelstücke und alles was so herumlag, war hier sehr klein – vielleicht wohnte hier ein Kind? Durch die runden Fenster fielen einige rotgoldene Sonnenstrahlen in den Raum, die aussahen als seien sie die Letzten vor der Dämmerung. In ihnen konnte man noch immer einige Rußpartikel kreisen sehen. Von draußen hörte man gedämpfte Rufe und Kinderlachen, aber hier drin war es mucksmäuschenstill.

Mia war einige Schritte in den Raum hineingetreten, während sie sich neugierig umsah. Wilhelm folgte ihr, wobei er sich so klein wie irgend möglich machte, um einem weiteren Zusammentreffen mit der Zimmerdecke aus dem Weg zu gehen. Sein Blick fiel auf einen Schreibtisch, der gegenüber des Kamins stand. Er war über und über bedeckt mit Papieren, Pergamenten und Schriftrollen. Viele Bücher lagen kreuz und quer herum, einige davon aufgeschlagen. Ganz oben auf diesem wirren Stapel handgeschriebener Texte lag eine große Landkarte – auch sie war offensichtlich von Hand gezeichnet worden. Er ging die wenigen Schritte zu dem Schreibtisch herüber, um sie genauer zu betrachten.

Wilhelm sah sich die Zeichnungen an und las Ortsnamen wie „Minhiriath“, „Hobbingen“ oder „Düsterwald“. Darüber prangte in tollkühn verschlungenen Buchstaben die Überschrift „Mittelerde“. So langsam dämmerte ihm, wo sie gelandet sein könnten – er hatte vor Ewigkeiten mal einen dieser Filme gesehen. Er bat Mia, ihm die Schriftrolle aus dem Rucksack zu geben, damit er seine Vermutung überprüfen könne. Sie überreichte sie ihm. Seine Augen flogen über dem Text nach links und rechts, hin und wieder sprach er einige Worte laut.

Kurz danach fand er die Bestätigung für seine Ahnung, Dumbledore hatte sie tatsächlich zu Bilbo Beutlin aus „Herr der Ringe“ geschickt, einem Hobbit aus einer Buchreihe von J.R.R. Tolkien. Wilhelm hatte das meiste von der Handlung vergessen, aber er erinnerte sich genau daran, dass diese Welt voll ernstzunehmender Gefahren war. Wenn sie hier mal wieder in eine brenzlige Situation gerieten, wären es nicht nur Füchse oder Spielkarten, gegen die sie sich behaupten müssten… Im Kampf mit einer Horde stinkender Orks, schätze Wilhelm ihre Chancen weniger erfolgsversprechend ein – und wahrscheinlich lag er damit völlig richtig. Mia fand, dass er plötzlich ziemlich besorgt aussah. Er spürte ihren Blick und wandte seinen Kopf, sie sollte nicht gleich wissen, dass er Angst hatte. Noch war ja auch gar nichts passiert, sagte er sich, rollte die Schriftrolle wieder ein, verschloss sie und steckte sie zurück in den Rucksack.

Als er aufsah, blieb sein Blick gleich am runden Türrahmen hängen. Wie um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte, sah Wilhelm kurz weg, um nach einigen Sekunden wieder hinzusehen. Jetzt war er sich sicher.

Was dort durch die offene Tür ragte, war ein großes Paar stark behaarter Füße.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder