Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 11: Ziellos

Am nächsten Morgen war Mia bereits vor Wilhelm aufgewacht. Sie kletterte aus ihrem Bett und schlich leise durch den Raum zu ihrem Rucksack, der neben Wilhelms Bett stand. Unterwegs war sie mit dem kleinen Zeh gegen seine Bettkante gestoßen, hatte ein kurzes „Autsch!“ verlauten lassen und sich gleich die Hand vor den Mund gehalten, weil sie Wilhelm nicht wecken wollte. Der hatte sich aber nur schnaufend herumgewälzt und dann selig weitergeschlafen. Nachdem der schlimmste Schmerz vergangen war – Mia hatte sich kurz auf den Boden gesetzt und auf ihren Zeh gepustet, damit das Aua davonflöge – kroch sie auf allen Vieren weiter und öffnete den Rucksack. Sie nahm die Schriftrolle heraus, löste die rote Schleife und entrollte das Schriftstück ein kleines Stück, wobei sie sehr darauf achtete, nicht zu laut mit dem Papier zu rascheln. Darin war sie ein richtiger Profi, ihr Zwillingsbruder Leon schlief meist etwas länger als sie und sie vertrieb sich regelmäßig den Morgen damit, noch eine Weile im Bett zu liegen und leise wie ein Mäuschen in ihren Bilderbüchern zu blättern.

Sie betrachtete die schnörkeligen Buchstaben, die auf dem Papier zu sehen waren. Zwar wusste sie, dass es der Text von „Alice im Wunderland“ sein musste und kannte die Geschichte gut, weil sie einige Male den Film dazu gesehen hatte – aber so lange sie auch auf die Buchstaben und Wörter starrte, sie konnte sie einfach nicht entziffern. Sie seufzte.

Zuhause hatte sie einen kleinen Wandkalender, an den sie jetzt dachte. Er zeigte jeden Monat ein niedliches Katzenmotiv, was Mia an sich schon ziemlich gut gefiel. Noch besser war aber, dass er für jeden Tag ein kleines Kästchen hatte, das man ankreuzen konnte, wenn der Tag vorüber war. Sie wollte nämlich alle Tage bis zu ihrem ersten Schultag ankreuzen – bis es endlich losging mit dem Lesenlernen. Da das Jahr ja kurz vor seinem Ende stand und sie ja erst im Sommer in die Schule kam, hatte sie sich zu Weihnachten extra einen neuen Kalender für das kommende Jahr gewünscht.

Ach ja, Weihnachten! Mia überlegte, wie viel von der Adventszeit sie schon verpasst haben könnte. Sie genoss diese Reise wirklich. Hier so durch all diese Bücher zu spazieren machte ihr riesigen Spaß und fühlte sich genauso an, wie sie sich das Lesen vorstelle. Trotzdem vermisste sie manchmal ihr Zuhause und vor allem ihren Bruder, gerade wenn zwischen all den Abenteuern mal kurz Ruhe einkehrte. Sie beschloss, Wilhelm zu wecken, damit sie schnell weiterreisen konnten. Schließlich wusste keiner von ihnen, was passieren würde, wenn aller Text auf der Schriftrolle verschwunden war und sie noch immer keinen Weg gefunden hatten, die BOKX zu öffnen.

„Willi?“, flüsterte Mia und berührte Wilhelm an der Schulter, der mit einem lauten Schnarchen reagierte. „Willi!“, sagte sie dann etwas lauter. Er öffnete ein Auge, schloss es aber sofort wieder. Dann schmatzte er einige Male und fragte Mia schließlich, was denn los sei. „Ich bin schon ganz lange wach!“, sagte sie und strahlte ihn an. „Und deswegen muss ich jetzt auch wach werden?“, fragte Wilhelm zurück, während er langsam begann, sich im Bett aufzurichten. Er sah sich kurz im Raum um, wobei sein Blick auf die Schriftrolle fiel, die noch auf dem Boden lag. „Gibst du mir die mal?“, fragte er und zeigte darauf. Mia flitzte los, holte die Schriftrolle und kletterte dann auf Wilhelms Bett. Sie reichte sie ihm und er setzte seine Brille auf und begann, das Papier weit auszurollen. Seine Augen flogen eilig über all die Textzeilen hinweg.

„Das ist dieses Buch… Über Harry Potter! Von Joanne K. Rowling. Davon habe ich gehört.“, sagte er, als er schließlich fand, was er gesucht hatte. Mia schaute ihn fragend an. Harry Potter? Ihr sagte dieser Name rein gar nichts. „Viel mehr habe ich auch noch nicht herausgefunden.“, sagte Wilhelm, der ihren Blick bemerkt hatte. „Kannst du es mir nicht vorlesen? Bitte!“, sagte Mia in dem Tonfall, den sie immer anschlug, wenn sie sich etwas wirklich wünschte und den auch Wilhelm inzwischen gut kannte.

In diesem Moment klopfte es plötzlich an der Tür des Schlafsaales und wenige Augenblicke später trat Dumbledore herein. In seiner Hand hielt er den schwarzen Samtbeutel, in dem sich das Buch und das Adlerei befanden. „Guten Morgen!“, sagte er lächelnd, „Habt ihr gut geschlafen?“. Die beiden bejahten.

„Ich habe gleich noch eine Verabredung und muss mich leider bald auf den Weg machen. Ihr könnt gern noch etwas bleiben, aber ich muss euch jetzt erklären, wie ihr das Flohpulver benutzt.“, sagte Dumbledore. Er nahm eine goldene Schatulle aus einer Tasche seines Gewands und ließ den Deckel aufspringen. In der Dose befand sich ein schimmernder Puder. „Das hier ist es.“, sagte er, „Es ist wirklich einfach zu verwenden.“. Er schüttete sich etwas des Pulvers in die Hand.

„Man nimmt einfach eine gute Handvoll davon und wirft es in die Flammen eines lodernden Kaminfeuers. Wenn es seine Farbe verändert hat, steigt man hinein und sagt, an welchen Ort man reisen möchte. Dabei muss man laut und deutlich sprechen, sonst kann es passieren, dass man versehentlich woanders herauskommt. Dann fliegt man durch das Flohnetzwerk, vorbei an all den Kaminen, die daran angeschlossen sind. Am richtigen Kamin steigt man dann aus, das heißt man kommt an. Manchmal holt man sich kleinere Schrammen und es kann unterwegs zu Temperaturschwankungen kommen, aber ernstere Zwischenfälle sind höchstselten. Zaubererfamilien reisen sehr häufig auf diesem Weg.“, erklärte Dumbledore, „Der Kamin meines Freundes ist eigentlich nicht mit dem Flohnetzwerk verbunden. Aber ich kenne da jemanden im Zaubereiministerium, also konnte ich einrichten, dass sein Kamin kurzzeitig angeschlossen wird.“. Er zwinkerte ihnen zu und schüttete das Flohpulver vorsichtig zurück in die Schatulle.

Dann zog er eine goldene Taschenuhr aus seinem Gewand, auf die er einen kurzen Blick warf. Während er sie zurück in die Tasche gleiten ließ, sah Mia, dass sich ganze zwölf Zeiger darauf drehten. Da sie gerade erst gelernt hatte, eine Uhr mit nur zwei Zeigern richtig zu lesen und schon das gar nicht so leicht gefunden hatte, dachte sie, dass Dumbledore bestimmt ein ganz schön kluger Mann sein müsse, wenn er von einer so kompliziert aussehenden Uhr die Zeit ablesen konnte. Er lächelte sie über seine halbmondförmigen Brillengläser hinweg an. „Ich muss mich jetzt leider auf den Weg machen. Vielen Dank nochmal, dass ihr mir diesen großen Gefallen tut.“, sagte er, „Ich habe euch noch ein Proviantpaket eingepackt.“. Er wies auf den Samtbeutel.

„Es hat mich sehr gefreut euch kennenzulernen!“, sagte er, während er den beiden die Hände schüttelte. Er öffnete eines der großen Fenster des Schlafsaals und stieg auf das Fensterbrett. „Accio!“, rief er dann und im gleichen Moment kam von draußen ein Besen angeschossen, der genau vor seiner geöffneten Hand plötzlich haltmachte. Er griff danach und setzte sich darauf, dann sah er sich noch einmal um. „Danke und auf Wiedersehen! Habt noch eine gute Reise!“, rief er nochmal und bevor Mia und Wilhelm ihre vor Staunen weit geöffneten Münder wieder schließen konnten, war Dumbledore auf seinem Besen längst am Horizont verschwunden.

„Na, dann mal los!“, sagte Wilhelm, der erst so langsam richtig erwachte. Er hievte sich aus dem Bett, dann rollte er die Schriftrolle ein und verstaute sie wieder in Mias Rucksack. „Den musst du jetzt wieder für eine Weile tragen.“, sagte er und streckte ihr den Rucksack entgegen, „Ich trage dann den Beutel mit dem Ei, der ist viel schwerer.“. Mia nickte und steckte ihre Ärmchen durch die Trageriemen. Wilhelm nahm die Schatulle mit dem Flohpulver, die Dumbledore auf dem Kaminsims abgestellt hatte, an sich. Nachdenklich sah er in die Flammen und ging im Kopf noch einmal kurz die Anweisungen durch, die er ihnen gegeben hatte. Plötzlich stutzte er.

„Moment mal – Hat uns Herr Dumbledore eigentlich gesagt, wie unser Zielort heißt?“, er hatte seine buschigen Augenbrauen so weit zusammengezogen, dass sie wie eine Einzige aussahen. Mia dachte einige Sekunden nach, dann schüttelte sie den Kopf. Wilhelm schloss die Augen, kniff die Lippen fest zusammen und atmete geräuschvoll durch die Nase aus. Eigentlich wollte er gerade in eine wütende Schimpftirade explodieren, als er sah, dass Mias Augen gefährlich glänzten und ihre Unterlippe verdächtig zu zittern begann. Schnell schluckte er seinen Ärger herunter, machte er einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Wir verpassen Weihnachten und kommen nie mehr nach Hause!“, schluchzte Mia und schob ihre Unterlippe weit nach vorne. Wilhelm suchte gerade nach passenden Worten, die sie trösten könnten, als er plötzlich eine Idee hatte.

„Habt ihr einen Kamin zuhause?“, fragte er Mia, seine Stimme klang aufgeregt.
„Ja!“ sagte sie und ihre traurigen Augen begannen gleich wieder zu funkeln. Sie hatte sofort verstanden, worauf Wilhelm hinauswollte. „Dann werden wir einfach versuchen, mit diesem Flohpuderzeug dorthin zu reisen!“, sagte Wilhelm und strahlte so triumphierend, dass sich die gezwirbelten Enden seines Schnurrbarts bis zu den unteren Rändern seiner Brillengläser hoben.

„Hast du dir gemerkt, wie das funktioniert?“, fragte Wilhelm und ließ sich von Mia zur Sicherheit nochmal erklären, was genau sie zu tun hatte. Sie hatte alles verstanden und nachdem sie drei Mal „Mias Haus!“ hatte sagen müssen, um Wilhelm zu zeigen, dass sie es klar und deutlich aussprach, öffnete dieser die Schatulle und schüttete sich eine ordentliche Portion des Flohpulvers in die Hand.

Die beiden traten an den Kamin und als Wilhelm gerade ausholte, um das Pulver in die Flammen zu werden, gab es plötzlich einen lauten Knall.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder