Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 5: Ein ruhiges Plätzchen

„Wir sind wieder im Bücherschrank!“, rief Mia, während die beiden sich aufrappelten. Sie waren auf einem aufgeschlagenen Buch gelandet. Es schien tiefe Nacht zu sein und hier war es natürlich deutlich kälter als eben im Wunderland, also gab Wilhelm ihr ihren Wintermantel zurück, den er für sie über dem Arm getragen hatte. „Gibst du mir bitte auch meinen Schal und die Mütze?“, fragte Mia und zeigte auf den Rucksack. Bei ihrem Fall hatte Wilhelm ihn verloren, er war aber nur wenige Zentimeter neben ihnen ebenfalls auf dem offenen Buch gelandet.

Plötzlich hatte Wilhelm einen Einfall. Er hatte doch zwei Pilzstücke aus dem Wunderland mitgenommen! Er und Mia würden einfach ein Stück von der Seite essen, die sie größer machen würde, aus dem Bücherschrank aussteigen und einfach wieder nach Hause spazieren. Er schlüpfte noch in den zweiten Ärmel seines eigenen Mantels, öffnete den Rucksack und gab Mia ihren Schal, ihre Mütze und die Handschuhe, die ganz zuoberst lagen. Dann räumte er die BOKX und schließlich die Schriftrolle aus.

Zu seiner riesengroßen Enttäuschung war darunter gar nichts mehr. Er schüttelte den Rucksack hin und her, stülpte ihn auf links und hielt ihn schließlich über seinen Kopf. Die Pilzstücke, die er in ein Blatt eingeschlagen hatte, waren nicht mehr darin. „Was machst du da?“, fragte Mia. „Ich hatte gehofft, dass wir noch etwas von dem Pilz haben, der uns größer macht. Dann hätten wir ihn einfach essen und in normaler Größe nach Hause gehen können.“, Wilhelm, der mit dem Rücken zu einem der riesigen Bücher gestanden hatte, sank langsam daran herunter, bis er schließlich auf dem Boden saß. Er ließ den Kopf hängen.

„Wir schaffen das schon, Willi!“, sagte Mia aufmunternd und legte tröstend ihre Hand auf Wilhelms Schulter, „In meinen Lieblingsbüchern geht immer alles gut aus und außerdem war es doch schön im Wunderland! Wir haben sogar Geschenke bekommen.“. „Wenigstens war es da nicht kalt!“, grummelte Wilhelm. Er hatte das Gefühl, als wären die Spitzen seines Schnurrbartes längst eingefroren, also wickelte er seinen Schal etwas enger und zog seine Mütze tiefer in die Stirn. „Sollen wir die Nacht lieber in einem Buch verbringen? Hier wird es ziemlich ungemütlich!“, sagte er dann zu Mia, deren Stupsnase von der Kälte schon ganz rot geworden war. Sie hatte ihre Schultern so weit hochgezogen, dass Wilhelm ihr Nicken kaum als solches erkannte.

„Ist das ein Märchenbuch?“, Mia zeigte auf eines der riesigen Bücher, auf dessen Einband breite, goldene Streifen zu sehen waren. Zwischen den Streifen befand sich eine kleine Tür. „Die Schrift auf dem Einband ist so groß, dass ich sie gar nicht lesen kann. Wir müssen durch die Tür gucken.“, sagte Wilhelm und war für eine kurze Sekunde selbst von seinem Mut beeindruckt. Dann trat er an die Tür heran und öffnete sie. Nur einen Spaltbreit, so dass die beiden gerade hindurchsehen konnten, was wohl im Inneren geschehe.

Die beiden kniffen kurz die Augen zusammen.
Sie sahen mitten in einen leeren, weißen Raum hinein. Er wurde von grellem Licht durchflutet, dieser ungemütlichen Art weißen Lichts, das man in Krankenhäusern finden kann. Es war so hell, dass es ihnen erst schwerfiel, die Augen überhaupt wieder zu öffnen. Da im Inneren des Buches allerdings ein ziemliches Geschrei zu hören war und die beiden Angst hatten, entdeckt worden zu sein, bemühten sie sich, das Licht so gut es ging zu ignorieren und sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen.

Als Wilhelms Blick sich scharfgestellt hatte, sah er auf der linken Seite des Raumes einen Herrn in einem weißen Holzstuhl sitzen. Auf seinem glatten dunklen Haar saß eine schwarze Baskenmütze. Er trug einen blauen Pullover und einen schmalen gestreiften Schal, dazu eine rote Hose. In seiner Hand hielt er ein Baguette, das er – wie eine Waffe – bedrohlich von links nach rechts schwenkte. Er stieß in kurzen Abständen und mit donnernder Stimme eine ganze Reihe französischer Worte aus. Sie alle fingen mit „F“ an.

Mia und Wilhelm drehten ihre Köpfe nach rechts, wo sich die zweite Geräuschquelle zu befinden schien. Dort saß, an der gegenüberliegenden Wand des Raumes ein weiterer Mann in einem weißen Stuhl. Dieser trug eine bayrische Lederhose, einen grünen Trachtenhut und gestrickte Loferl – das sind die Kniestrümpfe, die traditionell zur bayrischen Tracht gehören. In seiner Hand hielt er eine Laugenbrezel, mit der er wild gestikulierte, während er dem Franzosen deutsche Worte zubrüllte. Mia gluckste vergnügt.

„FIDÈLEMEEENT!“, schrie der Franzose und wedelte energisch mit seinem Baguette. „GETREU, GENAU, ZUVERLÄSSIG!“, brüllte postwendend der deutsche Mann mit der Brezel. „FIDÈLISATIOOON!“, tönte es wieder von der Seite des Franzosen. Er hatte sein Baguette so heftig durch die Luft geschwungen, dass es fast durchzubrechen drohte. „BINDUNG!“, brüllte der Deutsche zurück und schlug die Faust, in der er die Brezel hielt, so heftig auf seinen Oberschenkel, dass man, in einem sehr kurzen Moment der Stille, einige Salzkrümel auf den Boden rieseln hören konnte.

„Das ist nur ein Wörterbuch.“, sagte Wilhelm halblaut zu Mia. Flüstern brauchten sie hier nun wirklich nicht. Das Wortgefecht der beiden Männer war so laut, dass sie sie ohnehin nicht hören konnten. „Da ist es auch viel zu hell und zu laut zum Schlafen!“, antwortete Mia und zog ihren Kopf aus dem Türspalt. Auch Wilhelm trat einen Schritt zurück und ließ die Tür leise wieder ins Schloss fallen.

„Dann schauen wir uns mal weiter um!“, sagte er und sie begannen, sich nach weiteren Büchern umzusehen. Einige Minuten schlichen sie zwischen den Buchreihen hin und her. „Das hier sieht doch schön aus!“, sagte Mia schließlich und zeigte auf ein Buch mit buntem Leineneinband, „Lass uns mal reingucken!“. Schon drückte sie die Türklinke herunter und steckte ihren Kopf durch die Tür. Wilhelm folgte ihr, um ebenfalls einen Blick in das Innere des Buches zu erhaschen.

„Wie schöööön!“, flüsterte Mia mit leuchtenden Augen, „Hier sieht es aus wie bei meinen Großeltern in Schweden!“. Mit diesem Satz griff sie Wilhelms Hand und zog ihn mit sich über die Türschwelle. Sogleich fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss und war im nächsten Moment verschwunden.

Sie standen in einem kleinen Wäldchen. Es musste hier etwa früher Abend sein, die Sonne stand tief am Himmel, verbreitete aber noch ein angenehmes, goldenes Licht, das den ganzen Wald erfüllte. Obwohl die Landschaft noch recht karg war, vermutlich war es gerade Frühling geworden, blühten um sie herum schon einige duftende Wildblumen. Mia pflückte sofort eine, nahm ihre Wintermütze ab und steckte sich die kleine, rosa Blüte hinter ihr linkes Ohr. Dann zog sie auch Schal und Handschuhe aus und streckte sie Wilhelm entgegen, der gerade seine eigenen Wintersachen in ihrem kleinen Rucksack verstaute. Dann machten die zwei sich auf den Weg einen Schlafplatz zu finden, auch wenn sie natürlich nicht genau wussten, wohin.

Nachdem sie etwa eine halbe Stunde gelaufen waren, sich über Mias Urlaube bei ihren Großeltern unterhalten und die traumhafte Landschaft bewundert hatten, fiel ihnen ein gleichmäßiges Geräusch auf, das immer lauter zu werden schien. „Hier muss ein Fluss sein.“, sagte Wilhelm, „Hörst du das Wasser? Das ist ganz in der Nähe!“. Sie lauschten kurz, aus welcher Richtung das Wasserrauschen käme und setzten ihren Weg in diese Richtung fort.

Kurze Zeit später ließen sie das kleine Wäldchen hinter sich.
Sie standen nun auf einer blühenden Wiese und hatten endlich freie Sicht auf den Fluss, den sie gesucht hatten. Er lag etwas unterhalb in malerischer Umgebung zwischen grün bewachsenen Hügeln und einigen Felsen. Vereinzelt standen am Ufer ein paar Bäume, in deren Blätterdächern der sanfte Wind ein leises, beruhigendes Rascheln verursachte. Am anderen Flussufer sahen sie noch ganz kurz die Schwanzspitze eines roten Fuchses, der gerade in einem Gebüsch verschwand.

„Wo wir hier wohl sind?“, fragte Wilhelm. Da streckte Mia ihm die Hand entgegen, in der sie einige glänzend schwarze Brombeeren hielt. „Björnbäret!“, sagte sie strahlend, „Das ist schwedisch – die habe ich da drüben gepflückt!“. Sie zeigte auf einen Brombeerstrauch ganz in der Nähe. Wilhelm bedankte sich und steckte sich ein paar der saftigen Beeren in den Mund. Dann setzten sich im Schatten eines blühenden Baumes ins Gras und aßen so viele Beeren bis sie fast Bauchschmerzen bekamen.

Einige Beeren wollten sie mitnehmen, um sie später zu essen, also öffnete Wilhelm den Rucksack und kramte kurz darin herum. Sein Blick fiel auf die Schriftrolle und sofort schlug er sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Vielleicht steht hier drin, wo wir sind!“, sagte er zu Mia. Dann griff er nach der Schriftrolle, um sie aus dem Rucksack herauszuholen. Im selben Moment entdeckte er darunter zwei kleine Päckchen, die mit Blättern umwickelt waren.

„Der Pilz!“, er klang verblüfft, „Da ist er wieder! Die Pilzstücke sind einfach wieder da!“. Mia lachte nur, als würde sie sich schon über gar nichts mehr wundern. „Die Schriftrolle!“, erinnerte sie Wilhelm, der die selbige vor lauter Verwunderung schon wieder ganz vergessen hatte.

Noch während Wilhelm umständlich versuchte, die rote Schleife zu lösen, schoss plötzlich etwas mit lautem Geschrei über ihre Köpfe hinweg.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder