Zurück ins Mittelalter

Wilhelm trat vor die Tür und bemerkte, dass hier definitiv nicht Winter war, obwohl die Sonne schon nicht mehr so hoch am Himmel stand, schätzte er, dass es zwischen 16 oder 17 Uhr sein müsste. Es war unglaublich warm. Logisch, er war ja im „Sommernachtstraum“. Der Lederbeutel war groß genug, so dass er seinen Mantel zusammenrollte und dann in den Lederbeutel steckte. Jetzt erst realisierte Wilhelm, dass er völlig unangemessen angezogen war. „Bevor ich weiter gehen kann, brauche ich passende Kleidung für diese Umgebung“. Denn mit seiner normalen Kleidung konnte er nicht ins Mittelalter abtauchen. Er würde auffallen. Und er wollte sich gar nicht ausmalen, was alles passieren konnte. Am schlimmsten wäre es, wenn durch sein erscheinen sich der Verlauf der Geschichte ändern würde. Das wäre ein deutlicher Verstoß gegen die magischen Regeln.
Er schaute sich die Kleidung von Kuncz an. „Sag mal Kuncz, wo kann ich Kleidung…“ Er hatte die Frage noch nicht ganz ausgesprochen, da fiel ihm ein, dass er ja wohl schlecht in Euro zahlen konnte. Was tun? Am liebsten hätte er jetzt einen ganzen Beutel voller Goldtaler. Wieder dachte er über das kleine Pergament nach. Welche zwei Worte waren es, die die Magie der Schriftrolle bewirkten? Was hatte er nur gesagt? Es war zum Verzweifeln. Die Worte „wünsche mir“ waren es nicht. Denn als er sie ausgesprochen hatte, war nichts passiert. Er überlegte noch einmal, was genau er getan hatte, als sich seine Wünsche erfüllten. Es wurde ihm klar, dass er nie etwas gesagt hatte, sondern nur gedacht hatte was er sich wünschte. Aber auch mit dieser Erkenntnis kam er keinen Schritt weiter. Doch er brauchte die magischen Worte, um endlich Mia finden zu können

Aber was war das? Hatte er sich verhört. Nein, da hörte er es noch einmal. Es war die Schriftrolle in seinem Lederbeutel. Doch da war noch ein weiteres Geräusch. Dieses klang wie Münzen, die einander stießen. Das konnte doch nicht sein. Vorsichtig schaute er in seinen Lederbeutel und sah einen kleinen Beutel voller Goldtaler. Wilhelm war überrascht. Leider konnte er seine Überraschung nicht vor Kuncz verbergen. So sehr Wilhelm darüber erfreut war, dass er jetzt passende Kleidung kaufen konnte, ärgerte er sich, dass er wieder nicht verstanden hatte, welche Worte die magischen waren. Von diesen Worten hing es ab, ob er wieder aus dem „Sommernachtstraum“ herauskam und vor allem musste er wissen, wie es Mia ging. Denn so lange er das nicht wusste, fand er keine Ruhe.

Er hatte die wagemutige Idee, dass er vielleicht am Ende des „Sommernachtstraumes“ die Möglichkeit hatte, diesen wieder zu verlassen. Was anderes fiel ihm einfach nicht ein und so hatte er im Augenblick keine andere Wahl. Er musste sich an die Handwerker halten. Ihnen unauffällig folgen, denn diese führten am Ende des „Sommernachtstraumes“ ein Stück zu Ehren der Hochzeit des Herzogs auf. Würde er ihnen folgen, so würde er tatsächlich zum Ende des „Sommernachtstraum“ kommen. Das war ein sehr schlauer Plan und Wilhelm war ein bisschen stolz auf sich.

Aber erst einmal musste er sich um seine Kleidung kümmern. „Wo Kuncz kann ich Kleidung kaufen?“ „Eine Hose und einen Wams aus feinem Zwirn, einem edlen Herrn gemäß, bietet der Schneider anhier feil.“ „Dann möchte ich zuerst dorthin.“ Kuncz lief mit schnellen Schritten voran und Wilhelm folgte ihm. Dabei versuchte er möglichst nicht in die stinkende Brühe zu treten, die in der Mitte der Gasse langlief. Gleichzeitig versuchte er sich zu merken, wo sie langliefen. Das war nicht so einfach, denn die Gassen und Häuser sahen alle so ähnlich aus. Wilhelm konnte auch keinen Plan erkennen nachdem der Ort gebaut war. Zu seiner großen Verwunderung hatte er sich genau so das Leben im Mittelalter vorgestellt. Aber wie war das möglich. Wieder einmal war er erstaunt darüber, was der Mensch sich so alles vorstellen konnte. Zu seinem Leidwesen hatten die Gassen noch keine Namensschilder, was noch mehr zu seiner Orientierungslosigkeit beitrug. „Sag Kuncz, haben die Gassen Namen? Wie finde ich zurück zur Herberge? Nur für den Fall, dass ich dich verliere.“ „Fragt nach Kuncz“, antwortete er, „mein Name ist wohlbekannt am Ort.“ Kurze Zeit später traten sie in den Laden des Schneider. „Sei gegrüßt, Fremder! Was darf ich Ihnen zeigen.“ „Ich möchte eine leichte Hose und ein Hem … nein Wams.“ Der Schneider brachte ihm beides und geleitete ihn in einen kleinen Nebenraum, wo er die Sachen anprobieren konnte. Aber als erstes holte er die Schriftrolle aus dem Beutel, um nachzuschauen, warum sie mittlerweile schon 2 Mal geraschelt hatte. Neben „Essen mitnehmen“ stand jetzt noch „Wie kommen wir darüber?“ Wilhelm war sich mittlerweile ganz sicher, dass das von Mia kam, aber er hatte keine Ahnung, was er damit anfangen sollte. Daher probierte er die Hose und das Wams an. Sie passten einigermaßen, so dass er sie anließ und packte seine eigene Kleidung in seinen Lederbeutel und legte die Schriftrolle oben drauf. Da alles so gut hineinpasste, musste Wilhelm an Mary Poppins und ihre Tasche denken. Die hatte sogar eine Lampe aus ihrer Tasche geholt. Aber er musste sich beeilen, denn er wollte auf keinen Fall die Handwerker verpassen. So stürmte er aus dem kleinen Raum, fragte nach dem Preis, bezahlte und bedankte sich. Zusammen mit Kuncz verließ er den Laden. Wilhelm fiel nicht mehr so auf. Er fragte Kuncz, ob sie jetzt zu den Handwerkern gehen könnten, die das Stück für den Herzog üben. Dieser nickte und lief los. Nach einer gefühlten Ewigkeit und unzähligen Straßenkreuzungen weiter, standen sie vor einer Hütte. Kuncz wollte gerade die Tür öffnen, doch Wilhelm hielt ihn zurück. „Wir wollen sie nicht stören. Komm wir schauen vorsichtig durch das Fenster“. Doch bevor er seinen Kopf vorsichtig heben konnte, hörte er eine Stimme sagen: „Gebt euch Mühe, könnt Eure Rollen perfekt, Adieu.“ Eine andere Stimme sagte: „Bei des Herzogs Eiche treffen wir uns.“ Und die vorherige Stimme sagte: „Dabei bleibt´s mags biegen oder brechen.“ Und alle Handwerker verließen die Hütte. Wilhelm fragte Kuncz flüsternd, ob er wisse, wo die Eiche des Herzogs sei. Wiederum nickte Kuncz und rieb dabei seinen Zeigefinger und Daumen aneinander. „Aha“, dachte Wilhelm, „Jetzt hat er mein Säckchen mit Goldtalern gesehen und will bezahlt werden.“ „Wieviel muss ich bezahlen?“, fragte er laut. „1 Goldtaler möget ihr berappen“, sagte Kuncz. Das schien nicht sehr angemessen zu sein, denn für die Kleidung hatte er 3 Goldtaler bezahlt. Was soll’s, er musste zu dieser Eiche. „Ich zahle erst, wenn wir dort sind.“, sagte er und Kuncz sagte: „Nun gut, wohlan.“
Sie liefen aus dem Ort über eine sehr holprige Straße, vorbei an einem kleinen Flüsschen, wo zwei Angler angelten. „Gott zum Gruße“, rief Kuncz und lief hastig weiter. Nur mit großer Mühe gelang es Wilhelm Schritt zu halten. Der Weg führte in einen großen Wald. Mit Sorge nahm Wilhelm wahr, dass es langsam dunkel wurde. Sie mussten noch vor der Dunkelheit die Eiche erreichen. Denn schließlich konnte er nicht seine Taschenlampe oder sein Smartphone herausholen, um den Weg zu beleuchten. So fragte er Kuncz, ob sie noch lange zur Eiche bräuchten. „Seid beruhigt, edler Herr. Es sind nicht mehr viele Schritte bis zu des Herzogs Eiche.“

Auf einmal tauchte mitten in dem Wald eine Lichtung auf, in deren Mitte eine sehr schön große und mit Ästen ausladende Eiche stand. „Wir sind da, edler Herr!“ sagte Kuncz und sah Wilhelm sehr erwartungsvoll an. Wilhelm nahm sein Geldsäckchen und holte einen Goldtaler heraus. Kuncz bedankt sich für die Großzügigkeit. Wilhelm schaute sich um und er erinnerte sich, dass unter dieser Eiche im Grunde der ganze Sommernachtstraum stattfand. Die Elfenkönigin Titania schlief oben im Baum, während unter der Eiche die Handwerker probten. Auch die ganzen Verliebten, vom Trank des Elfenkönig Oberon verzaubert, schliefen alle in der Nähe. Wilhelm brauchte ein nahes, aber sicheres Versteck. Er schaute sich um, auf der anderen Seite der Lichtung schien ein Gestrüpp sehr dicht. Vielleicht konnte man dort reinkriechen, so wäre er selbst unsichtbar und könnte alles beobachten. Er deutete Kuncz ihm zu folgen. Sie liefen um die Lichtung herum, so dass sie keiner sehen konnte.
Beim Gestrüpp angekommen, fing Wilhelm an sich einen Weg ins Innere zu bahnen. Bald saßen sie beide mitten in dem Gestrüpp. Wilhelm merkte, dass man sich ganz gut an die Zweige anlehnen konnte. „Auf gewisse Weise sitze ich jetzt wieder als Zuschauer im Sommernachtstraum. Es ist vielleicht nicht ganz so bequem wie im Theater aber dafür die erste Reihe.“ Wieder raschelte die Schriftrolle. Unter Kuncz sehr neugierigen Augen, holte er sie aus der Tasche und schaute drauf. Dort stand neben „ein paar Goldtaler“ auf einmal die Frage „Warum hieß Michel aus Lönneberga auf Deutsch Michel und nicht Emil wie in Schweden?“ Warum sprach Mia plötzlich von Michel aus Lönneberga? Sie wollte doch zu Pippi gehen. Und was sollte diese Frage?“ Immerhin wusste er zum ersten Mal auf eine dieser Fragen eine Antwort. „Ist doch klar,“ sagte er laut zur Schriftrolle, „In Deutschland gibt es Emil und die Detektive von Erich Kästner. Damit es nicht zu Verwechslungen kam, hatte man den schwedischen Emil auf deutsch Michel genannt.“ Wilhelm hatte die Hoffnung, dass jetzt irgendetwas auf der Schriftrolle passiert, aber nichts geschah. Aber vielleicht hatte Mia ja irgendwie mitbekommen, dass er die Frage beantwortet hatte.

Er machte es sich bequem und wartete mit Spannung auf das, was denn nun an der Eiche passieren würde. Dabei stellte er sich die Frage, ob er die Elfen, die im Stück vorkamen, überhaupt sehen könnte. Die Menschen im Stück konnten es ja nicht. Auf einmal hörte er einen Chor aus engelsgleichen Stimmen:
Nachtigall mit Melodei,
sing unser in Eiapopei!
Eiapopeia! Eiapopei!
Dass kein Spruch
Kein Zauberfluch
Der holden Herrin schädlich sei.
Nun gute Nacht mit Eiapopei!

„Ich weiß, dass ist das Schlaflied für die Elfenkönigin Titania, welches ihr die Elfen sangen. „Jetzt weiß ich, dass ich die Elfen hören kann, dann werde ich sie sicher auch sehen können. Aber jetzt schliefen sowieso alle. Er hatte das gerade zu Ende gedacht und sagte leise: „Am liebsten hätte ich ein Kissen und eine Decke, damit es hier etwas gemütlicher ist.“ Er spürte wohl noch, dass die Schriftrolle, die er mit der Hand an die Brust drückte, raschelte, und dann war er eingeschlafen. So tief und fest, dass er nichts mehr mitbekam, Er merkte auch nicht, dass Kuncz vorsichtig, die Schriftrolle aus seinen Händen zog, den Geldbeutel aus dem Lederbeutel holte und ganz leise aus dem Versteck schlich.