Auf der Suche nach Eva-Lotta

Mia wachte auf, ohne zu wissen, wie lange sie geschlafen hatte. Zunächst war sie völlig verwirrt. Wie war sie hierhergekommen und wer war der Junge, der noch schlafend, neben ihr lag. Sie setzte sich hin und rieb sich ihre Augen. Und ganz langsam kam die Erinnerung wieder. Sie war alleine zum Bücherschrank gegangen und wieder in ihn hineingekommen. Wobei sie nicht wusste, wie sie das geschafft hatte. Zunächst war sie alleine, aber dann ist sie auf Kalle getroffen. Er war, wie auch immer, aus seinem Buch gefallen und musste ganz dringend wieder zurück. Eva-Lotta, seine Freundin und Mitglied der weißen Rose, war in Lebensgefahr. Zusammen wollten sie jetzt das Buch wiederfinden. Aber erst mussten sie jemanden finden, der wusste, wie Kalle wieder in sein Buch zurückkönnte. Dann war da noch der furchtbare Streit, den sie hatten. Nachdem sie wieder Frieden geschlossen hatten, hatte Mia Kalle die Geschichte von Michel und der Rattenfalle erzählt. Schließlich waren sie beide eingeschlafen.

Doch jetzt mussten sie zunächst einmal eine Lösung finden, wie sie über dieses riesige Buch kommen sollten. Denn es versperrte ihnen den Weg und es gab nur eine Lösung: Sie mussten über das Buch klettern. Aber wie sollten sie es schaffen? Bevor beide einschliefen, hatten sie schon so angestrengt nachgedacht, dass man sprichwörtlich den Qualm aus ihren Ohren kommen sehen konnte. „Vielleicht sollte ich mich noch mal richtig umsehen. Manchmal sieht man ja vor Wald den Baum nicht!” Also stand Mia auf und fing an sich auf der Stelle zu drehen. Plötzlich blieb sie mit einem Ruck stehen und starrte geradeaus. Sie glaubte ihren Augen nicht. „Ich träume noch! Ich bin noch gar nicht aufgewacht!” Mia kniff sich ganz fest in den Arm und musste sich eingestehen, dass sie mehr als wach war. Denn da, wo sie sich gekniffen hatte, hatte sie jetzt zwei rote Flecken und es tat weh. Tränen waren ihr in die Augen geschossen, aber sie wollte nicht heulen. Sonst würde Kalle sie wieder Heulsuse nennen. „Also, wenn ich wach bin und nicht mehr träume, was ist das!” Während sie das sagte, ging sie in die Richtung, wo sie eben hingestarrt hatte, Denn dort war etwas, was vorhin definitiv nicht da war. Mia ging ganz langsam und dann immer schneller, bis sie den Punkt erreicht hatte. Vor ihr war eine perfekt gebaute Steinbrücke, die mit einem wunderbaren Bogen über das Buch führte. So schön wie ein Regenbogen. Mia kam gar nicht mehr aus dem Staunen heraus.

Schnell lief sie zurück zu Kalle und rüttelte ihn mit voller Kraft: „Kalle aufwachen! Du musst aufwachen. Du glaubst nicht, was passiert ist!” „Lass mich schlafen!” knurrte Kalle. Er träumte gerade davon, wie er Eva-Lotte gerettet hatte und jetzt ein gefeierter Meisterdetektiv war. Aus ganz Schweden bekam er Anfragen, aber er lehnte sie ab! Und das sollte jetzt vorbei sein? Nur weil die Kleine etwas gesehen hatte. Kalle drehte sich um und wollte weiterschlafen. Aber Mia blieb hartnäckig. Kalle konnte froh sein, dass es hier keinen Wasserhahn gab, denn sonst hätte Mia ihm einen ganzen Eimer voller Wasser ins Gesicht geschüttet. Schließlich gab er sich geschlagen, reckte und streckte sich, bevor er aufstand. Er hatte schon bequemer geschlafen, aber der Schlaf hatte gut getan und er spürte den neuen Tatendrang in sich. So stand er auf. Schaute Mia an und fragte sie, was denn so wichtig sei! Und er hoffte, dass sie eine gute Antwort hätte. „Kalle, schau da! Eine Brücke! Wir können über das Buch laufen.” Mia war so aufgeregt, aber Kalle drehte sich erst einmal ganz gemächlich um. Er glaubte Mia nicht und war felsenfest davon überzeugt, dass sie das geträumt hatte. Eine Brücke! Das er nicht lachte, aber er wollte Mia auch nicht das Gefühl geben, dass er sie nicht für voll nahm. Als er sich um 180 Grad gedreht hatte, blieb er wie angewurzelt stehen. Da war tatsächlich eine Brücke. Wo kam die denn her? „Mia, hast du eine Ahnung, wie die dahin gekommen ist?” Aber Mia schüttelte nur den Kopf, obwohl sie eine Idee hatte.

Doch würde Kalle ihr nicht glauben und wieder sagen, dass sie Märchen erzählt. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und antwortete ihm: “Das ist die Magie des Bücherschrankes! Es erinnert mich an die Kölner Heinzelmännchen.” „An die was?” „Na, die Kölner Heinzelmännchen!” “Und warum erinnert dich die Brücke an sie”. Mia war langsam am Verzweifeln, denn anscheinend kannte Kalle wirklich keine Geschichten! Las er überhaupt ein Buch? Und so jemand nennt sich Meisterdetektiv. Erst kennt er Michel nicht und jetzt die Heinzelmännchen auch nicht. Die kennt doch jeder! Na, ja vielleicht doch nicht jeder. Vielleicht musste man in Köln leben, um sie zu kennen. So fing Mia an, ihm Geschichte der Heinzelmännchen zu erzählen. Das sie immer nachts kamen und die Arbeiten für die Menschen erledigten. Die Menschen waren sehr glücklich und zufrieden mit ihnen. Aber niemand hatte sie je gesehen. Um sie endlich mal zu sehen, streute eine Frau Erbsen oder so was Ähnliches auf die Treppe. Die Heinzelmännchen fielen auch darüber, aber danach verschwanden sie und sind auch nie wiedergekommen. Kalle hatte aufmerksam zugehört und war schwer beeindruckt davon, was Mia alles wusste. „Und du meinst jetzt, dass in der Zeit, wo wir geschlafen haben, die Heinzelmännchen die Brücke gebaut haben?” „Warum nicht? Wir sind doch in einem magischen Schrank und warum soll es hier keine Heinzelmännchen geben.” Das hörte sich logisch an, und dass dieser Schrank merkwürdig war, hatte Kalle auch schon begriffen.

„Wir sollten uns auf den Weg machen! Sonst verschwindet die Brücke vielleicht wieder.” Sie suchten ihre Sachen zusammen. Jeder nahm sich noch einen Keks und los ging es. Die Brücke war einfach perfekt. Die Stufen, die man zunächst rauf gehen musste, waren nicht zu hoch. So konnte auch Mia ohne Hilfe die Brücke erklimmen. Als sie die Stufen gemeistert hatten führte ein grader Weg über das Buch hinweg. Sie konnten bequem nebeneinander hergehen. Auf der anderen Seite führte eine Treppe hinab. Als sie wieder festen Boden unter ihren Füßen hatten, ließ Kalle einen Jubelschrei los und Mia tanzte einen Freudentanz. Sie waren noch ganz in ihrem Freudentaumel als es plötzlich hinter ihnen einen Knall gab und sich eine dicke Staubwolke über sie legte. Als sich die Wolke verzogen hatte, war die Brücke verschwunden. Jetzt glaubet auch Kalle an Magie, aber er würde es Mia gegenüber nicht zugeben.

Mit der Wolke war auch ihre Freude verschwunden, denn sie wussten immer noch nicht, wo das Buch von Kalle stand und vor allem, wie er wieder da rein kommen sollte. „Lass uns weiter gehen. Vielleicht geschieht ja wieder Magie!” Mia musste grinsen, als Kalle das sagte. Hatte er ihr nicht erklärt, dass es keine Magie gibt. Es schien aber so, dass er inzwischen an alles glaubte. Nach einer Weile entdeckten sie weiter vorne ein Buch mit einem knallgelben Umschlag. Genau in der gleichen Farbe war der Umschlag von Kalles Buch. „Kalle, sieh nur! Wir haben es gefunden.” Voller freudiger Erwartung rannten beide los. Kalle war wesentlich schneller als Mia und so hatte er schon seine Lupe in der Hand als sie endlich auch beim Buch ankam. Kalle las: “Astrid Lindgren”. Ja sie hatten es gefunden und es war so einfach gewesen. Dann las Kalle weiter: „Immer dieser Michel”. “Was hat das denn schon wieder zu bedeuten?” Kalle war bitter enttäuscht. Beide Bücher sahen sich so ähnlich und auf beiden stand Astrid Lindgren. „Wer ist Astrid Lindgren?” fragte Kalle. Mia schaute ihn mit großen Augen an. So dumm konnte Kalle nun wirklich nicht sein. „Du weißt nicht, wer Astrid Lindgren ist?” „Nee, sollte ich das wissen?” Mia wollte es einfach nicht glauben. Jedes Kind in Schweden kennt Astrid Lindgren. Kalle wusste es wirklich nicht. „Astrid Lindgren hat deine Geschichte und die von Michel aufgeschrieben. Ohne sie würde niemand euch kennen” Kalle verstand es zwar nicht so richtig, aber er hatte begriffen, dass er in irgendeiner Form mit dieser Astrid Lindgren verbunden war. Er nahm sich fest vor, dass er, wenn er wieder zu Hause war und Eva-Lotta gerettet hatte, in die Bücherei gehen wollte. Vielleicht konnte er da ja noch mehr über sie herausfinden.

„Michel scheint ein netter Kerl zu sein, aber er kann uns nicht weiterhelfen. Komm wir gehen weiter!” Da hatte Kalle recht, aber Mia wäre so gerne in das Buch hineingegangen, um sich die ganzen Holzmännchen anzuschauen. Vielleicht hätte sie ja auch Michel getroffen und er hätte ihr das Schnitzen beigebracht. Ein anderes Mal, denn jetzt hatten sie wirklich wichtigeres zu tun. So gingen eine Weile weiter bis Kalle vor einem Buch stehen blieb. „Emil..” las er und mit einem Mal wusste Mia, warum Kalle Michel nicht kannte. Natürlich, wie hat sie das nur vergessen können. In Schweden heißt Michel Emil. „Kalle, aber du kennst doch bestimmt Emil?” „In meiner Klasse gibt es einen Emil, aber der ist so langweilig, dass bestimmt niemand seine Geschichte aufgeschrieben hat.” Langsam war Mia sich absolut sicher, dass Kalle noch nie ein Buch in der Hand gehabt hatte. Ist ja auch kein Wunder, wenn er ständig einem blöden Stein nachjagt oder unter dem Birnenbaum abhängt. Sie fragte sich, warum Jungen keine Bücher mochten. Vielleicht weil sie dann ja was tun müssten? Jungs können ja so dumm sein. Andererseits wäre es ziemlich langweilig ohne sie. Aber jetzt fragte sie sich, warum Michel in Deutschland Michel hieß und in Schweden Emil. Dafür musste es doch einen Grund geben. Es war wieder so ein Augenblick, wo sie sich wünschte, dass Wilhelm bei ihr wäre und ihr den Grund dafür erklären könnte. Denn dass er es konnte, bezweifelte sie keinen Augenblick. Kalle war dabei den Rest zu entziffern: „Emil und die Detektive, Erich Kästner” „Mia, wir haben endlich Kollegen von mir gefunden und gleich mehrere. Aber wozu braucht Emil denn Detektive. Du hattest doch gesagt, dass er ein ganz aufgewecktes Kerlchen sei?” „Kalle, denk doch mal nach! Da steht Erich Kästner. Das heißt, dass es ein ganz anderer Emil ist. Oder willst du behaupten, dass du der einzige Kalle in ganz Schweden bist?”
Um abzulenken fragte Kalle: „Weißt du, wie wir zu den Detektiven Kontakt aufnehmen können?” “Ich glaube, dass wir erst einmal in das Buch rein müssen. So war es im letzten Jahr. Wilhelm und ich sind in die Bücher rein gegangen.” „Und wie habt ihr das gemacht?” Mia überlegte einen Augenblick: „Wir müssen die Tür finden, die uns ins Buch lässt.” Es war Kalle, der die Tür fand und voller Spannung drückte er die Klinke hinunter….