Ein Sommernachtstraum

Er sah die Tür zum Sommernachtstraum und wollte gerade die Klinke runterdrücken, als die Schriftrolle wieder anfing zu rascheln. Er sah, dass auf einmal hinter dem Wort Bücherschrank „Kalle helfen“ erschien. Was hat das jetzt wieder zu bedeuten? Wer war Kalle? Warum schrieb sich genau dieses auf die Schriftrolle? Vielleicht musste er gar nicht mehr Pippi Langstrumpf suchen. Aber wonach denn sonst? Schließlich war Pippi Langstrumpf bisher sein einziger Anhaltspunkt. Krampfhaft versucht er in seinem Gehirn zu kramen. Aber es kam nichts. Das Geraschel der Schriftrolle erinnerte ihn daran, vernünftig zu sein und weiterzusuchen, und nicht in den Sommernachtstraum zu gehen. Andererseits mal einen kurzen Blick reinwerfen, das konnte der Suche bestimmt nicht schaden. Wirklich nur einen kleinen Blick und dann würde er sofort weiter auf die Suche nach Mia gehen. Nein, sagte die andere Stimme in ihm, du musst vernünftig sein, wer weiß, was noch alles hier im Schrank passiert. Vielleicht ist Mia in Lebensgefahr. Sie ist ganz alleine. Du darfst keine Zeit verlieren. Zum ersten Mal verstand Wilhelm wirklich, was es bedeutet, zwei Seelen in der Brust haben. Bei ihm waren es zwei sehr laute Seelen, die da stritten. „Nur ein ganz winzig kleiner Blick, dann mache ich die Tür sofort wieder zu, überlegte er schlau, „dann haben beide Seelen ihre Ruh.“ Laut sagte er zur eigenen Überzeugung: „Der Sommernachtstraum ist eine Komödie und ganz harmlos, da kann nichts passieren.“ „Erwachsenenzeug“ würde Mia sagen.

Nur um sicher zu gehen, dass er nur reinschauen würde, blieb er so weit wie möglich von der Tür entfernt stehen. Er bemerkte auf einmal, dass er ganz schön großen Hunger hatte und während er sich noch vorbeugte, um nach der Klinke zu greifen, dachte er, dass er am liebsten was zu Essen hätte. Er drückte die Klinke runter und öffnete ganz vorsichtig die Tür. Ehe er sich versah sprang die Tür mit so einer Wucht auf, dass er die Klinke losließ, nach vorne stolpert und durch die Tür taumelte. Er sammelte sich und als er wieder fest auf seinen Beinen stand, drehte er sich um und die Tür war weg. „Oh nein“, schrie er laut und erstickte diesen Schrei sofort mit seiner Hand auf dem Mund. Er wusste ja überhaupt nicht, in welcher Situation er war und was ihn hier jetzt erwarten würde. Jetzt gerade schaute er auf eine Wand. Langsam drehte er sich um, und er sah, dass er sich in einem Raum befand. Auf der anderen Seite war eine geschlossene Tür und daneben war ein Fenster oder besser gesagt, ein Loch in der Wand, denn es war kein Glas darin. Durch dieses fiel Licht in den Raum, sonst hätte er wahrscheinlich gar nichts sehen können. Der Raum erschien wie eine kleine Hütte gebaut aus Holz. Es befand sich lediglich in der Mitte ein Tisch mit einem Stuhl.

Auf dem Tisch stand ein Holzteller mit Brot und daneben lag etwas, das wie Käse aussah. Außerdem stand ein Becher aus Zinn oder Metall dort. Das konnte er nicht so genau erkennen. Wieder schossen ihm ganz viele Fragen durch den Kopf. Offensichtlich hat irgendetwas oder irgendjemand seinen Wunsch nach Essen erhört, also setzte er sich erst mal an den Tisch. Brot und Käse sahen lecker aus. Aber etwas hatte er letztes Jahr gelernt, und zwar eins nach dem anderen machen. Diese vielen unerwarteten Situationen können einen echt überfordern. Ich werde soviel essen wie ich kann, aber am liebsten würde ich auch von dem Essen mitnehmen. Die Frage war nur wie. Die Schriftrolle raschelte schon wieder. Sie hatte er in der Aufregung gar nicht mehr beachtet. Und da sah er, dass dort nach „Kalle helfen“ „was zu Essen“ und „Essen mitnehmen“ stand. Da es immer noch sehr anstrengend war, die kleine Schrift auf der Schriftrolle zu lesen, hat er seine Nase ganz nah drangehalten und als er wieder aufblickte, lag ein brauner Lederbeutel auf dem Tisch. Wilhelm fragte etwas ungehalten: „Was ist jetzt wieder passiert. Irgendwie scheint Magie zu wirken und meine Wünsche werden erfüllt, aber wie passiert das? Was habe ich gemacht, dass dort Essen auf dem Tisch steht und jetzt auch noch ein Beutel für den Transport des Essen?“ Er nahm den Beutel und schaute rein und sah zwei kleinere Beutel ebenfalls aus Leder und so eine Wasserflasche aus Leder. Gut, dass die Magie an alles denkt, dachte er. Dann sah er noch ein kleines Pergament, auf dem stand:

Was Ihr am liebsten wollt erleben
Sprich genau die zwei Worte
Den Zauber zu beleben.
Sie bringen Euch durch Zeit und Orte.

Wilhelm starrte ungläubig auf diese kleine Notiz. Warum musste Magie immer in Rätseln sprechen? Ehrlich gesagt, hatte ihn genau das auch schon im letzten Jahr genervt. Alles könnte so einfach sein, aber er hatte den Eindruck, dass man diese magischen Kräfte nicht umsonst bekam. Man muss ganz schön darüber nachdenken, wie man sie bekam. „Also gut, liebe magischen Kräfte, ich weiß nicht welche zwei Worte ich sprechen muss, aber mit leerem Magen kann ich auch nicht denken, also werde ich jetzt einfach mal von diesem Brot probieren.“ Er biss herzhaft in das Brot. Es war zwar etwas hart, aber durchaus sehr schmackhaft und der Käse schmeckte erstaunlich würzig. Was wohl in dem Becher war? Es schmeckte entfernt nach Bier. Er dachte, gut dass Mia nicht hier war. Was hätte sie denn trinken können? Er hatte mal irgendwo gelesen, dass man im Mittelalter Bier als normales Getränk verwendet hat, weil der Alkohol das Wasser desinfiziert hatte und so bekömmlicher war. Während er das Essen genoss, ging auf einmal die Tür neben dem Fenster auf und ein Mann mit doch sehr seltsamer Kleidung kam herein. Wilhelm sprang erschrocken auf und stellte sich mit dem Rücken an die Wand, durch die er gekommen war. „Vielleicht kommt im richtigen Moment die Tür nach draußen wieder“, dachte er voller Hoffnung, aber nichts geschah.

Er sagte vorsichtig und leise: „Hallo?!? Ausgerechnet jetzt fing die Schriftrolle an zu rascheln. Der Mann sah neugierig auf den Tisch. Und Wilhelm realisierte mit Entsetzen, dass er sie auf dem Tisch vergessen hatte. Also bewegte er sich ganz langsam und möglichst unauffällig zurück zum Tisch. Er wollte unbedingt herausfinden, was nun auf der Schriftrolle steht. Aber er fragte sich auch, ob dieser Mensch Freund oder Feind war?

„Nicht erschrecken wollt ich Euch, wohl aber wohlgemut willkommen heißen“ sagte der Mann. „Gast der Herberge, es ist mir eine Freude, Euch hier zu erblicken. Wie ist Ihr werter Name?Irritiert von seiner Sprache antwortete Wilhelm leise: Meine Name ist Wilhelm und wie heißt du? „Kunczlein“, rief er freudenstrahlend, „man ruft mich Kuncz.“ Wilhelm konnte sich trotz dieser etwas seltsamen Situation ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen, da er sofort an Hintz und Kuntz denken musste. „Ich bin der Wirt des Gasthauses. Habt Ihr trefflich gegessen?“ Wilhelm antwortete, dass es ihm sehr gut geschmeckt habe und schob die Fragen hinterher, wo er jetzt sei. „Am Ort des Hofes des großen Theseus unseres wohlgeborenen Herzogs“, sprach Kuncz voller Stolz. „Interessant“, dachte Wilhelm, „ich bin tatsächlich im Sommernachtstraum. Aber wo genau in der Geschichte?“ Das musste er unbedingt rausfinden. Er hatte niemals von einem Kuncz im Stück gelesen. Wilhelm machte einen Schritt zum Tisch und rollte mit der einen Hand die Schriftrolle auf, um zu lesen, was da stand. „Wie kommen wir darüber?“ war neben „Kalle helfen“ erschienen. Er hatte so sehr gehofft, die Schriftrolle würde ihm mitteilen, was zu tun ist. Diese Schriftrolle machte in wirklich fertig. Kein Anhaltspunkt, wie er zurück in den Bücherschrank kommen konnte. Vermutlich musste er sich auf dieses Abenteuer einlassen, ob er wollte oder nicht. Das hatte er nun davon, dass er so naseweis gewesen ist.

Um seine Nervosität herunterzuspielen fragte er möglichst mit langsamer Stimme: „Sag mal Kunzc, kennst du die Herren Zettel, Schnock und Flaut“. An die anderen Namen der Handwerker, die im Sommernachtstraum ein Theaterstück aufführen wollten, konnte er sich nicht mehr erinnern. „Selbstverständlich, ein jeder hat sein eigenes Gewerk im Ort. Sie sind voll des Drangs zum Anlass der Hochzeit des Herzogs eine Darbietung zu bringen. Ich war nicht geladen. Ein Wirt ist nicht des Standes.“, erwiderte Kuncz verärgert. „Weißt du, wo sie sind?“, fragte Wilhelm schnell, „Kannst du mich zu ihnen bringen.“ Edler Herr, es wäre mir ein mächtiges Vergnügen. Wohlgemut voran.“ Kuncz ging zur Tür und lud mit einer Armbewegung Wilhelm an ihm vorbei nach draußen zu treten. Wilhelm ging zum Tisch, packte das Essen in die zwei Lederbeutel und dann in den großen Beutel, schnappte sich den Wasserbeitel und die Schriftrolle, trat vor die Tür und befand sich einer komplett anderen Welt.