Ein schwieriger Weg

Mia und Kalle liefen schweigend nebeneinander her. Beide tief in Gedanken versunken. Kalle zählte nebenbei die Bücher an denen sie vorbeikamen. Ab und zu las er mithilfe seiner Lupe die Titel auf den Buchrücken. Aber auf keinem fand er das Wort Detektiv. Es hätte ihm ja schon gereicht, wenn er einen Titel mit Inspektor oder Polizist gefunden hätte. Schließlich waren es Kollegen. Stattdessen las er Namen wie: „Konsalik, Tolstoi, Tolkien, usw.”. Von den meisten hatte er noch nie gehört. Sie waren auch an mehreren Kochbüchern und Gartenbüchern vorbeigekommen. Wer las denn so was? Lasen die Deutschen denn keine Kriminalbücher? Aber seine Gedanken wanderten immer wieder zu Eva-Lotta. Würde der Mörder ihr wirklich etwas antun? Er wusste, dass die Frage überflüssig war, denn schließlich hatte der Mann den alten Gren ermordet und Eva-Lotta die vergiftete Schokolade geschickt. Wahrscheinlich war alles schon viel zu spät, wenn er wieder in das Buch zurückkam. Ein feiner Meisterdetektiv war er, wenn er nicht mal in der Lage war, seiner besten Freundin zu helfen. Sollte Eva-Lotta nicht mehr leben bei seiner Rückkehr, würde er sich vom Meisterdetektiv verabschieden und später einen ordentlichen Beruf erlernen. Er würde im Laden seines Vaters arbeiten. Und natürlich würde es auch das Ende des Krieges zwischen der weißen und roten Rose sein. Sollte doch die rote Rose den Großmummerich behalten. Es war wirklich zum Heulen. Er fühlte sich so hilflos, weil er nichts tun konnte. Stattdessen lief er mit Mia, die man ja noch nicht ernst nehmen konnte durch diese verrückte BOKX in Köln, einer Stadt irgendwo in Deutschland. Allerdings musste er sich eingestehen, war es gut, dass Mia schwedisch konnte.

Mia kämpfte mit ihrer Angst. Die Bücher waren alle so riesig. Das hatte sie letztes Jahr, als sie mit Wilhelm in der Bücher BOKX war, gar nicht so wahrgenommen. Warum hatte sie nicht länger auf Wilhelm eingeredet. Irgendwann wäre er, wie sonst auch, weich geworden und mit ihr zur BOKX gegangen. Sie vermisste ihn so sehr. Er hätte bestimmt eine Idee, wie Kalle wieder nach Hause kommen könnte, sodass dieser Eva-Lotta rechtzeitig retten konnte. Aber jetzt wusste sie nicht weiter. Immer wenn man sie brauchte, waren die Erwachsenen nicht da. Sie wünschte sich so sehr, dass Wilhelm da sei und Kalle helfen könnte. Verdammt noch mal, da musste doch jemand sein, der eine Idee haben könnte. Es wurden doch so viele Krimis gelesen. Dann sollte doch wenigstens einer davon im Schrank stehen. Ganz in Gedanken stampfte sie mit ihrem Fuß auf.

Es war ziemlich schwierig sich im Bücherschrank vorwärts zu bewegen. Immer wieder standen sie vor Büchern, die fast so tief waren wie das Regal selber, sodass Kalle und Mia ganz vorsichtig daran vorbei balancieren mussten. Kalle konnte sehr gut balancieren. Wie gut, dass er schon unzählige Male über das Gelände der Brücke balanciert war. Das war zwar streng verboten, aber man konnte sich ja schließlich nicht an alle Verbote halten. Dann wäre das Leben ja nur noch halb so schön. Für Mia war es schon schwieriger, aber sie nahm jedes Mal ihren ganzen Mut zusammen und balancierte hinter Kalle her. Wenn er das schaffte, würde sie es erstrecht schaffen, denn schließlich war sie kleiner. Mia hatte das Gefühl schon ewig unterwegs zu sein. Ihre Füße taten weh und sie hatte Hunger. „Kalle, ich kann nicht mehr!” Doch Kalle ignorierte sie und ging weiter. Er musste doch so schnell wie möglich zurück. Aber das konnte Mia wahrscheinlich noch nicht verstehen. „Komm wir müssen weiter, wir sind gerade mal 25 Bücher weiter.” „Aber ich kann nicht mehr, wir sind schon so lange unterwegs.” Da musste Kalle ihr Recht geben. Sie waren zwar erst 25 Bücher weiter, aber sie waren auch winzig klein. Würde man dieses Verhältnis in die Realität übertragen, mussten sie schon mindestens fünf Kilometer gelaufen sein. „Ich weiß, aber wir haben keine Zeit! Nur noch ein kleines Stück!” Tapfer lief Mia weiter. Zwei kleine Tränen kullerten ihr über die Wange.

Und dann passierte es. Sie konnten nicht weiter. Jemand war zu faul gewesen ein Buch richtig in den Schrank zu stellen und hatte es einfach nur so reingelegt. Sie standen direkt vor dem Buchrücken. Nirgends gab es einen Spalt, sodass sie sich nicht an dem Buch vorbeidrücken konnten. Wenn sie weiter kommen wollten, mussten sie erst mal einen Weg finden, wie sie das Buch überqueren könnten. Kalle dachte nur: „Ich wollte schon immer wissen, wie sich die Leute gefühlt haben müssen, bevor sie den Mount Everest bestiegen. Jetzt bekam er eine Vorstellung, auch wenn der Vergleich etwas hinkte.” Also standen sie beide da und wussten nicht weiter. Kalle nahm seine Lupe und las: „Die deutsche Rechtschreibung”. Fragend schaute er zu Mia “Weißt du was das heißt? “Mia zuckte mit den Schultern und meinte nur: „Das ist total langweilig. Immer wenn Mama nicht genau weiß, wie man ein Wort auf deutsch schreibt, sagte Papa ihr, dass sie doch im Duden nachschauen soll. Denn da würden alle Wörter richtig drinstehen.” „Du hast recht, das hört sich wirklich langweilig an.” Kalle schaute den Buchrücken hoch und überlegte wie sie da nur rauf kommen sollten. Erneut raufte er sich die Haare. So einen Tag, wie heute, hatte er wirklich noch nie erlebt. Mia hatte sich auf den Boden gesetzt und weinte leise vor sich hin. „Hör endlich auf zu heulen, du Heulsuse!” Da war er aber an die Falsche geraten. Wie vom Blitz getroffen sprang Mia auf und schaute Kalle wutentbrannt an und schrie: „Ich bin keine Heulsuse, du Blödmann.” „Und warum verhältst du dich dann wie ein kleines Baby?” schrie Kalle zurück. „Ich bin kein Baby mehr! Denn ich gehe schon zur Schule, Idiot!” Und so ging es weiter. Sie schrien beide und benutzten die schlimmsten Schimpfwörter, die ihnen einfielen. Zum Glück konnten die Großen sie nicht hören. Am Ende war Kalle so wütend, dass er mit voller Kraft gegen das Buch trat. „Oh, Schmerz lass nach” fluchte Kalle und sprang mit einem Bein auf dem Regalbrett hin und her. Kalle tat Mia leid, aber sie musste trotzdem laut loslachen. Das Ganze erinnerte sie an das Kapitel von Michel, wo sein Vater in die Rattenfalle getreten war. Im Buch stand nicht, wie er sich verhalten hatte, aber in Mias Fantasie war er immer genauso herumgehüpft wie jetzt Kalle. „Könntest du mir bitte mal sagen, was so lustig ist?” Denn Kalle fand es ganz und gar nicht lustig. Und da ging der Streit gerade so weiter. Dafür hätte Mia nicht in die BOKX kommen müssen, denn das hatte sie auch zu Hause. Die Tage an denen Leon und sie sich nicht stritten, konnte man an einer Hand abzählen. Nach einer Weile konnten sie nicht mehr. Sie setzten sich so weit wie möglich voneinander weg.

Ach, hätte Mia doch nur auf Wilhelm gehört. Sie bereute es Bitter wieder in der BOKX zu sein. Bisher hatte sie nur Kalle getroffen, aber sie war noch in keinem Buch gewesen. Letztes Jahr hatte sie so tolle Abenteuer zusammen mit Wilhelm erlebt und jetzt saß sie hier, ihre Füße taten weh und sie hatte sich mit Kalle gestritten. Sie wünschte sich, dass jemand ihnen helfen könnte bei ihrem Problem, sodass sie weiter nach Kalles Buch suchen konnten. Aber das sollte wohl bloß ein Wunsch bleiben. Mia musste an ein Bilderbuch denken, dass Mama gekauft hatte als es besonders schlimm war mit den Zwillingen. Sie konnte sich nicht mehr richtig an den Titel erinnern. Sie wusste nur noch, dass sich zwei gestritten hatten und irgendwann merkten, dass es am besten war, wenn sie zusammenhielten und sagen konnten: „Wir”. Je länger Mia darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass sie nur zusammen eine Lösung finden konnten. Sie stand auf und ging zu Kalle rüber. „Du Kalle…” „Was willst du?” antwortete er in einem ziemlich barschen Ton. „Es tut mir leid! Ich wollte nicht über dich lachen, aber ich musste an eine Geschichte denken, die mir meine Oma vorgelesen hat. Deswegen habe ich so gelacht.” Kalle schaute sie an und fragte, was für eine Geschichte es gewesen sei. Mia wollte gerade anfangen ihm von Michel zu erzählen als ihr Magen so laut knurrte, dass Kalle fast vom Regal gefallen wäre. Als sie sich von dem Schreck erholt hatten, fielen Mia die Plätzchen ein. „Ich habe selbst gebackene Plätzchen dabei und auch was zu trinken. Lass uns doch eine Pause machen. Vielleicht fällt uns dann auch ein, wie wir über dieses Hindernis kommen können.” So setzten sie sich, lehnten sich an das Buch. Mia holte die Plätzchen und Trinkflasche aus ihrem Rucksack. Zum Glück waren auch sie von der Magie verzaubert worden, sodass es keine Probleme beim Essen und Trinken geben würde. Jetzt merkte auch Kalle, dass er Hunger hatte. Wie lange es wohl her sein musste, dass er etwas gegessen hatte. Die Plätzchen waren köstlich. Doch Kalle musste an Bäckermeister Lisander denken. Er war Eva-Lottas Vater und versorgte die weiße Rose immer wieder mit frischgebackenen Zimtschnecken. Kalle sah so traurig aus und Mia konnte ihn nicht trösten. Aber vielleicht würde ihn ja die Geschichte von Michel etwas aufmuntern.

So fing sie an von Michel zu erzählen, der mit seinen Eltern, seiner Schwester Klein-Ida, der Magd Lina und Alfred, dem Knecht auf dem Hof Katthult lebte. Wie eines Morgens eine große Ratte Lina übers Gesicht lief als sie noch schlief. Worauf Michels Vater die Hofkatze in die Küche holte, damit sie die Ratten fing und Michel die Katze aber wieder hinausließ. Da er aber einen Ersatz für die Katze brauchte, hatte er eine Mausefalle aufgestellt. Nur dummerweise berührte Michels Vater die Falle am nächsten Morgen. Ganz so wie sie sollte, klappte sie zu und der große Zeh von Michels Vater war gefangen. Mia brauchte länger um Kalle die Geschichte zu erzählen. Sie konnte sich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern und war sich auch nicht so ganz sicher, ob sie die Ereignisse in der richtigen Reihenfolge erzählte. Als sie endete musste Kalle grinsen. Dieser Michel gefiel ihm. „Gibt es noch mehr Geschichten von ihm?” “Ja eine ganze Menge”, sagte Mia voller Begeisterung. „Wo genau liegt denn Katthult?” “In Lönneberga” Kalle schaute Mia überrascht an. Von Lönneberga hatte er schon gehört, aber von einem Michel noch nie. Das konnte Mia nicht verstehen. Jeder kannte doch Michel. Wie konnte man ihn nicht kennen? Besonders wenn man selber Schwede war, so wie Kalle. Eine weitere Frage, die sie aber erst später beantworten konnte. Dann wenn Kalle wieder im Buch war und er Eva-Lotta retten konnte. Mit einem Mal waren beide so müde, dass sie beschlossen ein wenig zu schlafen, bevor sie versuchten das Problem mit dem Buch lösen wollten. Es dauerte nicht lange und sie schliefen beide tief und fest…