Mia und Kalle

Es dauerte eine Weile bis der Lärm des Müllwagens leiser wurde, so dass man wieder seine eigene Worte verstehen konnte. Mia wiederholte ihre Frage und der fremde Junge antwortete ihr, dass sein Name Kalle sei. „Etwa Kalle Blomquist, der berühmte Meisterdetektiv?” Kalle schaute Mia erstaunt an. Woher kannte dieses kleine Mädchen ihn. Er hatte sie noch nie in Kleinköping gesehen. Und das sollte etwas heißen, denn schließlich kannte er alle Menschen, Straßen und Verstecke in Kleinköping. Aber als er sich umschaute merkte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Eben war er noch in der Prärie gewesen und jetzt stand er hier zwischen lauter Büchern und einem kleinen Mädchen gegenüber. „Woher kennst du mich? Ich habe dich noch nie in Kleinköping gesehen. Wo bin ich und hast du auch einen Namen?” Kalle war ziemlich durcheinander und ärgerte sich, als das kleine Mädchen auch noch anfing zu lachen.

Mia musste lachen bei der Vorstellung, dass Kalle sie vielleicht in Kleinköping gesehen hätte. „Ich kenne dich aus einem Buch, dass mir meine Oma letztes Jahr vorgelesen hat. Ich weiß alles von der Weißen Rose – also von dir, Anders und Eva-Lotta – und eurem Krieg mit der Roten Rose um den Großmummerich. Einfach gruselig. Und als du dann auch noch Nachts dem Onkel von Eva-Lotta einen Fingerabdruck abgenommen hast, habe ich mich hinter dem Sessel von meinem Opa versteckt. Puh, dass war kaum auszuhalten. Hast du noch mehr solcher Geschichten erlebt?”
„Bevor ich es vergesse, mein Name ist Mia und wir sind hier in Köln einem offenen Bücherschrank”. Sie sah Kalle an und bemerkte seine Ungläubigkeit. Kalle hatte noch nie etwas von einer Stadt gehört, die Köln hieß. Also, wo war er und wie ist er hierhergekommen? Erneut wandte er sich Mia zu und fragte ganz langsam „Wo bin ich und wie bin ich hierhergekommen?” Mia schaute ihn verwirrt an und fragte sich, warum Kalle so langsam mit ihr sprach. Sie war doch nicht blöd. So antwortete sie ihm ebenfalls langsam „Du bist in Köln am Rhein. Köln ist eine ganz große Stadt in Deutschland und wir beide befinden uns in der magischen BOKX. “. „In Deutschland???”, das konnte nicht sein. Außerdem sprach das Mädchen fließend schwedisch. Er wusste ganz genau, dass man in Deutschland eine andere Sprache sprach. Wenn man in Schweden schwedisch sprach, dann sprach man hier wahrscheinlich deutsch. Woher kannst du schwedisch? „Meine Mama kommt aus Schweden und in den Sommerferien sind wir immer bei Oma und Opa.“ Okay, das klang logisch, aber wie war es möglich eben noch in Schweden und dann im nächsten Augenblick in Deutschland zu sein. Das widersprach sämtlichen Naturgesetzen, die er kannte.

Okay, darüber würde er nachdenken, sobald er Eva-Lotta aus den Händen des Mörders gerettet hatte. Aber dafür musste er erst einmal zurück in die Prärie. Mia hatte ihm noch nicht verraten, wie er hierher-gekommen war. Das musste er unbedingt wissen, denn das war wahrscheinlich der einzige Weg zurück. Als ob Mia seine Gedanken gelesen hätte, erklärte sie ihm, dass er aus einem Buch gefallen war, als es in die BOKX gestellt worden ist. Langsam fragte sich Kalle, ob Mia ihm nicht lauter Märchen auftischte. Sie musste in dem Alter sein, in welchem kleine Mädchen gerne Märchen erzählten. Was sollte der Blödsinn, dass sie ihn aus einem Buch kannte? Er war doch keine Person aus einem Buch, so wie Sherlock Holmes! Er war eine real existierende Person. Und wie nannte sich dieses komische Ding, indem er sich befand? Hatte sie wirklich magische BOKX gesagt? Fragen über Fragen, die er jetzt nicht beantworten konnte. „Hör auf mir Märchen zu erzählen. Ich muss unbedingt zurück. Eva-Lottas Leben ist in Gefahr.” Mia war schwer beleidigt. Wie konnte Kalle es wagen zu behaupten, dass sie Märchen erzählte. Aber als sie kurz darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich genauso reagieren würde.

„Ich habe dir keine Märchen erzählt. Ich kann doch nur sagen, wie es ist. Kurz nachdem das Buch runtergefallen war, habe ich gehört, wie du geflucht hast. Was man übrigens nicht darf. Es war ein gelbes Buch. So ähnlich wie das da oben.” Kalle schaute nach oben und sah ein dickes gelbes Buch. Aber er konnte nicht lesen was auf dem Buchrücken stand. Er wäre aber kein Meisterdetektiv, wenn er nicht immer seine Lupe dabeihätte. So suchte er in seiner Hosentasche und fand schließlich die Lupe. Leider hatte sie einen Sprung durch den Sturz bekommen, aber Kalle konnte sie zu seinem Glück noch gebrauchen. Und wie sie funktionierte. Als Kalle sie auf das Buch richtete, hatte er keinerlei Mühe zu lesen, was dort stand: „Astrid Lindgren Kalle Blomquist“

Konnte es tatsächlich sein, dass jemand seine Geschichten aufgeschrieben hatte? Er nahm die Lupe runter und wollte sich gerade bei Mia entschuldigen, als die Tür der BOKX geöffnet wurde und ein Junge in seinem Alter ausgerechnet das Buch nahm. Der Junge blätterte im Buch, las ab und zu einen Absatz. Aber nach einer Weile stellte er das Buch zu Kalles großer Erleichterung wieder in den Schrank. Jedoch stellte er es irgendwo hin, so dass weder Kalle noch Mia es sehen konnten. Kalle hatte das ungute Gefühl, dass er jetzt ein riesiges Problem hatte. Denn wenn er aus dem Buch herausgefallen war, musste er wahrscheinlich auch irgendwie wieder in das Buch hinein. Er raufte sich die Haare und fing wieder an zu fluchen: „Warum muss ausgerechnet mir so etwas passieren? Das darf einfach nicht wahr sein. Da soll mich doch der Kuckuck holen. Ich muss Eva-Lotta retten!” Mia sah, wie verzweifelt Kalle war und sie wollte ihm so gern helfen. Vielleicht würde Wilhelm doch noch kommen. Denn zu dritt würden sie bestimmt eine Lösung finden. Aber im Moment hatte sie keine Idee, was sie tun sollten. Ganz leise und schüchtern fragte sie Kalle: „Warum musst du Eva-Lottas Leben retten?” Da Kalle ebenfalls nicht wusste, was er tun sollte, beschloss er Mia die ganze Geschichte zu erzählen. Die beiden setzten sie auf den Regalboden und lehnten sich an das große Buch, hinter dem Mia sich versteckt hatte.

Langsam fing Kalle an zu erzählen. Er erzählte, dass die Weiße Rose und die Rote Rose immer noch Krieg führten. Und wie immer ging es um den Großmummerich, der gerade im Besitz der weißen Rose war. Nachdem die Rote Rose herausgefunden hatten, wo er versteckt war, hatte Eva-Lotta den Auftrag bekommen, ihn aus dem Versteck zu holen und in ein neues zu bringen. Als sie die Prärie erreicht hatte, sah sie den alten Gren, einen stadtbekannten Geldverleiher. Eva-Lotta hatte mal gehört, dass er viel mehr Geld zurückforderte als er verlieh. Bei ihm war ein Mann, den Eva-Lotta noch nie gesehen hatte. Auffällig war seine grüne Gabardinehose. … Mia hatte die ganze Zeit ganz gespannt zu gehört, aber jetzt konnte sie sich nicht mehr zurückhalten: „Eine was? Was ist das denn? Hört sich ja an wie Gardine!” Kalle lachte bei der Vorstellung, aber wenn er ganz ehrlich war, hatte auch er keinen Schimmer, was genau Gabardine war. Mia schlang ihre Arme um ihre Knie und sagte „Am liebsten würde ich jetzt Wilhelm fragen, was Gabardine ist.” „Wer ist Wilhelm?” fragte Kalle neugierig. „Das ist mein Freund und er ist schlau wie ein Computer!”

Da sie diese Frage im Moment nicht klären konnten, erzählte Kalle einfach weiter. Jedenfalls hatte Eva-Lotta diesen Typen später noch einmal ganz genau gesehen. Kurz bevor sie über den alten Gren gestolpert war. Er lag ermordet in der Prärie. Kalle erzählte von der vergifteten Schokolade, die keinen größeren Schaden angerichtet hatte. Und irgendwann wurde der Mord wieder vom Krieg um den Großmummerisch verdrängt. Sie spielten wieder in der Prärie, wo sich auch der alte Herrenhof befand.
Und gerade als Eva-Lotta die beiden Jungs mit der Räubersprache warnte, dass der Mörder sie gefangen hielt, war Kalle gefallen und hier bei Mia gelandet. Jetzt verstand Mia, warum Kalle unbedingt zurückmusste. Ja, Eva-Lotta musste gerettet werden. Aber vorher sollte Kalle Mia noch mehr von der Räubersprache erzählen. „Wie heißt Wilhelm in eurer Sprache?” Kalle zögerte einen Augenblick. Sollte er wirklich diesem kleinen Mädchen das Geheimnis der Räubersprache verraten. Anderseits könnte es vielleicht nützlich sein, wenn sie sich aus den Augen verlieren würden. So sagte er: „Wow i lol hoh e lol mom!” Mia verstand kein Wort, aber Kalle erklärte es ihr und schon nach kurzer Zeit war Mia in der Lage die Räubersprache zu sprechen.

„Vielleicht kannst du ja einfach wieder in das Buch zurückklettern?” schlug Mia vor. „Und wie soll ich das machen? Darf ich dich daran erinnern, dass das Buch gerade aus dem Schrank genommen wurde!” Oje, jetzt war guter Rat teuer.” Vielleicht gibt es ja noch andere Detektive hier im Schrank. Die könnten doch helfen”. Kalle kratzte sich am Ohr und dachte über den Vorschlag nach. Bestimmt würde es auch spannend sein, wenn er auf Kollegen treffen würde. „Gute Idee, aber wie sollen wir sie finden?” „Wir könnten durch den Schrank laufen. Vielleicht finden wir ein Buch, wo irgendwas mit Detektiv draufsteht.” Kalle war zwar nicht überzeugt, aber es war mit Sicherheit besser als hier zu sitzen und Moos anzusetzen. Die beiden standen auf und machten sich auf den Weg.