Wilhelm in Not

„Ich denke, Mia wird sich schon wieder beruhigen. Sie wird schon einsehen, dass es besser ist, von der Magie die Finger zu lassen“, murmelte Wilhelm und glaubte das aber selber nicht so wirklich. Sie hatte es sich so sehr gewünscht und nun ist sie sauer auf ihn, weil er es nicht mal versuchte. Irgendwie hatte sie auch Recht. Nun stand Wilhelm mit schlechtem Gewissen vor seinem Regal mit all seinen Fachbücher über Musik und berühmte Komponisten. Ehrlicherweise malte er sich aus, wie es wohl wäre, wenn man in ein solches Buch gehen würde. Er erinnerte sich noch gut an diese wunderschöne Musik in dem einen Buch im letzten Jahr. Leider sind sie dort letztes Jahr nicht in das Buch gegangen. Er wusste nicht mehr so genau warum. Er hatte damals auf jeden Fall an seine Frau gedacht.

Da fiel ihm auf, dass diese sehr grüne Ausgabe von Tolkiens „Herr der Ringe“ neben Charles Dickens „Nikolas Nickelby“ stand. Es war gar nicht mehr so einfach alles auf einem Blick zu finden. Früher hatte alles seine strenge alphabetische Ordnung. Das hatte sich komplett geändert als Mia das erste Mal in seiner Wohnung war. Sie hatte irgendwie alles auf den Kopf gestellt. Sie hatten angefangen, Möbel zu rücken und Mia hatte so ihre eigene Art, Bücher zu sortieren. Er verstand ihr Prinzip nicht so ganz, doch es hatte nichts mit dem Alphabet zu tun. Er hatte sie gewähren lassen, denn er war so froh, dass sie sich letztes Jahr bei ihrem unerwarteten Abenteuer getroffen hatten.

Sein Blick fiel auf eine Biographie von Astrid Lindgren. Mit ihr hat sich seine Frau sehr beschäftigt und sie hatte all die Bücher von den Heldinnen wie Pippi und Ronja geliebt. Leider hatte er nach dem Tod seiner Frau alle Bücher von Astrid Lindgren weggegeben, denn sie haben ihn immer so traurig gemacht. Das Lieblingsbuch seiner Frau war „Wir Kinder von Bullerbü“ gewesen. Bullerbü war vielleicht das Idyll, was sie sich immer gewünscht hatte, aber sie war in der Stadt aufgewachsen und schon früh war ihr Talent für das Klavierspielen entdeckt worden. Da war dann keine Zeit für Ferien auf dem Bauernhof, mal mit Tieren im Stall schlafen oder barfuß über die Wiesen gehen und große Abenteuer erleben.

Nein, dass mit Mia ließ ihm keine Ruhe. Er hatte sie zu gern, als dass er einen Streit zwischen Ihnen stehen lassen könnte. Er hatte sie hängenlassen und dafür mußte er sich einfach entschuldigen. Schnell zog er seinen warmen Mantel an und die dicken Stiefel, denn es war kalt geworden in Köln. Er machte sich auf zu Mias Haus. Er klingelte an der Tür und Mias Mutter öffnete ihm. „Mia ist nicht da“, gab sie sofort Auskunft. „Sie hat mir einen Zettel hingelegt, dass sie zum Maggie-Schrank gegangen ist. Ich frage mich nur die ganze Zeit, was das ist?“

„Aha, sie hat sich also auf den Weg zum BOKX-Schrank gemacht“, dachte er. Das hätte er sich doch denken können, dieses Mädchen war nicht zu bremsen, das hatte er letztes Jahr gelernt. „Ich vermute, dass sie alleine nicht in den Schrank kommt. Letztes Jahr ging das nur zusammen“, versuchte so seine aufkeimende Angst zu unterdrücken und sagte mit möglichst gelassener Stimme: „Ich denke, sie meint den offenen Bücherschrank. Du weißt ja, sie liebt diesen Ort, und seit sie lesen kann noch viel mehr. Ich laufe rasch hin und werde mit ihr zurückkommen. Dann wisst ihr, dass sie nicht alleine ist. Wenn irgendetwas ist, dann rufe ich an.“ Mias Mutter war beruhigt. Sie hatte Wilhelm so sehr ins Herz geschlossen, dass sie ihm voll vertraute und wusste Mia bei ihm in guten Händen. Wilhelm lief so schnell er konnte zum offenen Bücherschrank. Er war fest davon überzeugt, dass sie vor dem Schrank stehen und verzweifelt einen Weg hinein suchen würde. Sie hatte bestimmt die Schriftrolle mitgenommen, aber seit sie letztes Jahr den Schrank verlassen hatten, war sie leer geblieben. Nach wie vor war er fest davon überzeugt, dass so etwas niemals zweimal passieren kann. Für seinen ständig denkenden Kopf gab es sowieso keine logische Erklärung dafür. Kaum am Bücherschrank angekommen, sah er sich hektisch um. Keine Mia. Jetzt überkam ihn das ungute Gefühl, dass sie es doch geschafft haben könnte. Sie war im Bücherschrank. Aber nun war er wirklich in größter Not. Er hatte überhaupt keine Idee, wie sie das geschafft haben könnte. Vielleicht gab es eine komplett andere Erklärung. Sie war nicht zum Schrank gelaufen, sondern woanders hin, aber das widersprach Notiz auf ihrem Bett. Letztes Jahr waren sie tatsächlich klein im Schrank gewesen, also dachte er, dass er sie vielleicht sehen könnte. Er ging ganz nah an den Schrank und schaute, so gut er konnte, zwischen die Bücher. Er nahm vorsichtig das Buch „Nathan, der Weise“ von Gottfried Ephraim Lessing aus dem Schrank, um auch dahinter zu schauen. „Au Mann, jetzt habe ich diesen kölschen Ohrwurm im Ohr: „, Doch Nathan der Weise, der wusste Bescheid. Der kannte ne Oase und die war nicht sehr weit.… Wie werde ich den jetzt wieder los?“ Wilhelm schüttelte den Kopf.

Irgendwie nahm er an, dass Mia bestimmt nicht genau in dieses Buch gegangen war. Trotzdem Er hatte Angst, dass er sie in Angst und Schrecken versetzte, wenn sich das Buch auf einmal bewegte. Daher war er sehr vorsichtig. Aber sie suchte bestimmt ihre Lieblingsbücher. Dann auf einmal sah er ganz klein aber deutlich sichtbar einen kleinen hellen Schnipsel. Das war bestimmt die Schriftrolle. Es musste einfach so sein. Es war nicht so einfach sie mit kalten und klammen Fingern zu greifen, so klein war sie. Er hatte richtig Angst, sie kaputt zu machen, dann hätte er jeden Kontakt zu Mia verloren. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm, sie vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger zu greifen. In dem Moment machte es ein sehr komisches Geräusch und er spürte ein Zucken in seinen Fingern, so dass er vor Schreck die Augen schloss. Als er sie wieder öffnete, hatte er die Schriftrolle in normaler Größe in der Hand. Einerseits war er sehr erleichtert, denn die Schriftrolle hat letztes Jahr eine sehr wichtige Rolle gespielt, also musste sie es dieses Jahr auch. Die Frage war nur wie?

Ich glaube Abra Kadrabra Simsalabim zu sagen bringt nicht so viel, das kennt man nur aus Büchern. Ein Versuch kann trotzdem nicht schaden, überlegte Wilhelm. Er nahm die Schriftrolle feierlich in seine Hand, schloss die Augen und sprach langsam mit ehrfürchtiger Stimme: „Aaabraa kaadaabraa simmm saalaabimmm.“ Und … nichts passierte. „Ich hab´s ja gewusst.“, schimpfte er leise vor sich hin.

In seiner Verzweiflung sah er sich die Schriftrolle genauer an und dann sah er es. Ganz oben in der linken Ecke standen ein paar Worte. Er musste seine Augen sehr zusammenkneifen. „Ein Königreich für eine Lupe“, stellte er fest und begann laut vorzulesen: „ das Spiel, wo es verboten war, den Boden zu berühren, spielen“. Das war das Einzige, was dort stand. Was genau hatte das jetzt zu bedeuten? Das Spiel bekam ihm bekannt vor, aber wo hatte er davon gehört. Er überlegte angestrengt. Es musste in einem Buch stehen, welches er den Kindern vorgelesen hatte. Und dann machte es Klick bei ihm. Natürlich “Pippi Langstrumpf”. Die war so verrückt mit Tommy und Annika in der Villa Kunterbunt über die Stühle und den Tisch auf Kisten und Schränke zu hüpfen. Vielleicht musste er sich jetzt ganz doll wünschen, zu Pippi Langstrumpf zu kommen. Also sagte er laut: „Ich möchte zu Pippi Langstrumpf“ Er schloss die Augen und wieder passierte nichts. Er hatte keine Idee mehr, was er noch machen könnte, damit er auch in den Schrank kommen könnte. Den Tränen nahe und völlig resigniert, hielt er die Tür auf und lehnte er sich an die Regalbretter des Schrankes mit der Schriftrolle an der Brust und dachte insgeheim, „Am Allerliebsten wäre ich im Bücherschrank.“

Im selben Moment, begann die Schriftrolle heftig zu zittern – Wilhelm war auf einmal ganz aufgeregt. An das Gefühl konnte er sich noch sehr gut erinnern. Erst spürte er das Zittern in den Fingern und dann im ganze Körper. Seine Hände waren wie festgeklebt an der Schriftrolle. Er wollte sie auf keinen Fall verlieren. Ein unglaublicher Sog zog an ihm und aus der Schriftrolle schoss ein Lichtstrahl, der so hell blendend war, dass er die Augen richtig zukneifen musste. Die Welt begann sich schwindelerregend schnell zu drehen. Wie im letzten Jahr fühlte er sich, als würde er auseinandergezogen, hoch in die Luft gewirbelt und schließlich als ob er wieder herabsegeln würden – dann war alles still.