Kalle kommt nach Hause

Mia und Kalle hörten dumpf das Geräusch, als Wilhelms Lederbeutel vor ihre Füße fiel. Dann hörten sie leise eine Stimme und es war nicht die von Wilhelm. „Es ist kein Friede zwischen uns und dem weißen Mann. Wir wollen unseren Bruder Kleki-Petrah rächen. Du wirst am Materpfahl sterben!“ Kalle und Mia sahen sich total entsetzt an. Sie kannten beide diese Geschichte nicht und wussten dahernicht, wie sie weiter gehen würde. Aber offensichtlich hatte Wilhelm sich unfreiwillig in die Geschichte eingemischt. Sie brauchten schnell eine Idee, wie sie hier wieder herauskommen sollten.  Kalle steckte vorsichtig seinen Kopf aus dem Versteck und schaute nach oben, wo er Wilhelm zuletzt gesehen hatte. Jetzt sah er Wilhelm von hinten, und dass seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren.Kalle hörte, wie jemand zu Wilhelm sagte: „Sprich weißer Mann, bist du allein?“ Kalle hörte Wilhelm langsam antworten: „Ja, ich bin allein und ich würde mir so wünschen woanders zu sein. Ich hoffe sehr, dass mein Wunsch erhört wird und ich nicht am Marterpfahl sterben werde.“

Kalle packte Wilhelms Lederbeutel und bewegte sich ganz langsam wieder zurück in ihr Versteck. Mia war noch weiter reingekrochen. Angstvoll sah sie ihn an. „Wilhelm sitzt mit gefesselten Händen an der Kante des Vorsprungs.“, berichtete er Mia fast lautlos, „Aber ersagte laut und deutlich: „, dass er sich wünschte woanders zu sein. Er meinte doch bestimmt, dass wir die Schriftrolle verwenden sollten, oder? Mia nickte und fragte schließlich: „Aber wie sollen wir den Vergessenszauber der anderen Person verabreichen? Wir können nicht unbemerkt da hoch klettern. Aber wir dürfen nicht einfach so verschwinden.“ Kalle dachte nach, was sie am Besten machen sollten. Mia hatte Recht, sie konnten selbst nicht dort hochklettern, um Wilhelm schnell zu befreien, den Vergessenszauber auszuführen und sich aus dem Buch zu wünschen. Was konnten sie tun? Die beiden verharrten für einen Moment reglos. Dann sagte Mia: „Wir könnten uns doch mit der Schriftrolle wünschen, dass die Person, die Wilhelm gefangenhält und was gerade passiert war, vergisst?“ Kalle überlegte kurz. Er erkannte, dass dies vermutlich die einzige Möglichkeit war, die sie hatten. Ich glaube, dass ich an Wilhelms Hand erreichen kann. Dann berühre ich diese und du nimmst meine andere Hand, so bilden wir eine Kette. Du nimmst den Lederbeutel mit der Schriftrolle und sagst die Wünsche.“ „Wie genau soll ich das den sagen?“, überlegte Mia. „Kalle, wie findest du das: „Die Person, die Wilhelm gefangenhält soll vergessen, dass Wilhelm da war, und dass wir drei wieder zurück im Bücherschrank wären?“ Kalle erwiderte: „Ich denke, so haben wir alle wichtigen Dinge im Wunsch. Also los!“ Er schlich ganz leise aus dem Versteck, gut dass er das als Meisterdetektiv viel geübt hatte, und Mia kam leise hinterher. Sie hatte den Lederbeutel mit der Schriftrolle über eine Schulter und ihren eigenen Rucksack geworfen. Kalle schlich über ein paar Felsbrocken, einer von ihnen rutschte unter seinen Füßen weg und machte ein kleines Geräusch. Kalle blieb komplett bewegungslos stehen und starrte hinauf zu dem Felsvorsprung. Auf einmal hörte er Wilhelm sagen: „Hallo, könnte ich etwas zu trinken haben? Ich bin so durstig.“ Die andere Stimme sagte ungehalten: „Nein, der weiße Mann erhält nichts zu trinken. Er ist ein Gefangener.“ Wilhelm war sich sicher, dass die Kinder etwas vorhatten, um ihn zu befreien und dass sie anschließend wieder aus dem Buch herauskamen würden. Er überlegte fieberhaft, wie er sie unterstützen könnte. Das Beste wäre Lärm zu machen, damit man die Kinder nicht hören konnte. Also fing er an zu singen: „Im Frühtau zu Berge wir ziehen, fallera.“ Kalle hörte Wilhelms Gesang und bewegte sich schnell weiter vor. Er reckte sich ganz weit hoch und konnte gerade die Fingerspitzen von Wilhelm berühren. „Wir wandern ohne Sorgen singend in den Morgen“, sang Wilhelm lauthals weiter und freute sich, dass seine Hand berührt wurde. Während Wilhelm weitersang, nahm Kalle Mias Hand und sie sprach feierlich: „Am liebsten wäre mir, dass die Person, die Wilhelm gefangenhält, vergisst, dass Wilhelm da gewesen ist, und wir drei wieder zurück im Bücherschrank wären?“ Zum Glück hatten sie sich gewünscht, dass der Indianer alles vergessen sollte, sonst wäre es in dem Buch durch den Lichtstrahl der Schriftrolle zu größeren Verwicklungen in dem Buch gekommen. So aber waren sie etwas durcheinandergewirbelt wieder im magischen Schrank angekommen.

Wilhelm sagte fluchend: „Wie kriege ich den jetzt diese Fesseln ab? Ganz ehrlich, Kinder, ich habe überhaupt keine Lust mehr auf solche Abenteuer, wo mir Gefahr droht, am Materpfahl zu enden. Ich sehne mich nach Hause in meinen Ohrensessel mit einer heißen Tasse Tee.“ Mia sagte zustimmend, dass sie auch Mama, Papa und sogar Leon sehr vermissen würde. Wilhelm drehte sich zu Kalle und sagte mit etwas trauriger Stimme: „Dann Kalle wird es Zeit, dass wir Tschüss sagen, denn du musst zurück in deine Welt. Aber wie sollen wir dich denn jetzt in dein Buch lesen?“ Wilhelm kratzte sich am Kopf. „Wir müssen uns das Buch klein wünschen, dann kannst du es lesen und Kalle verschwindet hinein. Meinst du nicht, dass das funktionieren würde?“ Mia schaute Wilhelm erwartungsvoll an. Wilhelm nahm die Schriftrolle aus dem Lederbeutel, der noch über Mias Schulter hing und schaute auf die Schriftrolle. Mit Entsetzen sah er, dass der Platz für Wünsche sich nochmal sehr verkleinert hat. Natürlich stand der Wunsch, den Mia ausgesprochen hatte mit großen Buchstaben nun auch drauf. Dann fiel es ihm auf. Die Kinder mussten zwei Wünsche aussprechen, weil sie keine andere Möglichkeit hatten, dem Indianer Winnetou den Vergessenstrank zu verabreichen. Kalle, sagte er entschlossen, du musst den Zaubertrank trinken. Dann brauchen wir nur den Wunsch, dass dein Buch klein wird, so dass ich dich reinlesen kann.“ Mia schluckte bei dem Gedanken. Es war eine so schöne Zeit mit Kalle gewesen. Sie konnte sich nur sehr schweren Herzens von ihm verabschieden. Könnte er nicht vielleicht doch mit uns kommen?“, fragte sie, aber sie wusste die Antwort schon selbst. Wilhelm sagte laut: „Am liebsten hätte ich Kalles Buch passend zum Vorlesen“

Kaum hatte er es ausgesprochen, lag das gelbe Buch auch schon vor ihm. Er nahm es hoch und blätterte es auf. Kalle wollte neugierig hineinschauen, aber Wilhelm drehte ihm den Rücken zu. „Das darfst du nicht! Du darfst auf keinen Fall wissen, wie dein Buch weitergeht.“ Während Wilhelm die richtige Stelle im Buch suchte, holte Mia eine Phiole Vergessenstrank aus ihrem Rucksack. Sie gab Kalle die Phiole und dieser hielt sie gedankenverloren fest. Er freute sich, dass er wieder zurück nach Kleinköping kommen würde. Andererseits er war so unglaublich traurig, dass er Mia, Wilhelm und dieses ganze große Abenteuer komplett vergessen musste. Er hatte die Zeit letztendlich doch sehr genossen. So etwas würde er zu Hause niemals erleben.

Wilhelm sagte auf einmal:“ Ich habe die Stelle gefunden. Anders steht vor der Tür von dem Herrenhaus, in dem ihr Eva-Lotta zurückgelassen hattet und der Mörder steht am Fenster und dahinter Eva-Lotta. Bist du bereit, Kalle?“ Kalle nickte und eine kleine Träne lief ihm über das Gesicht. Mia ging auf ihn zu, drückte ihn ganz fest und sagte: „Ich habe dich so lieb. Dich hätte ich gerne als großen Bruder.“ Jetzt konnte der starke Meisterdetektiv seine Tränen gar nicht mehr zurückhalten. „Mia, ich habe dich auch lieb und es war so schön mit dir.“ Wilhelm nahm den Jungen auch in den Arm und drückte ihn ganz fest. Dann sagte er: „Am besten setzen wir uns alle auf den Boden, Du trinkst den Vergessenstrank und schließt die Augen.“ Gesagt, getan und Kalle sass mit geschlossen Augen vor Mia und Wilhelm. Wilhelm fing an zu lesen:

„Und sie sang dieselbe frohe Melodie weiter – nur der Text war ein wenig verändert. „Mom ö ror dod e ror“.  In diesem Augenblick wurde das Buch ganz hell und und ehe Mia und Wilhelm sich versahen, hatte das Buch Kalle verschlungen., sang sie. Das klang wie ein zusammenhangloser Singsang, wie ihn Kinder sich ausdenken. Anders und Kalle aber wurden stocksteif vor Schreck, als sie es hörten. Sie standen wie angenagelt. Dann aber nahmen sie sich zusammen und kniffen sich wie unabsichtlich ins Ohrläppchen – das geheime Zeichen der Weißen Rose dafür, dass eine Botschaft verstanden worden war. „Na, beeilt euch!“ sagte der Mann am Fenster ungeduldig. Unschlüssig standen die beiden da. Aber plötzlich drehte sich Kalle um und ging mit raschen Schritten auf ein Gebüsch zu, das in der Nähe war.

Mia und Wilhelm wussten gerade überhaupt nicht, wie sie sich fühlen sollten. Einerseits waren sie sehr traurig, weil Kalle nicht mehr da war und überhaupt nichts mehr über sie wissen würde. Andererseits waren sie glücklich, dass das Reinlesen wohl gelungen war. Wilhelm sagte: „Ich lese noch ein Stück weiter“, damit wir sicher sind, dass er wirklich wieder richtig in dem Buch ist.“ Er fuhr also fort:

„„Wo willst du hin?“ schrie der Mann am Fenster. „Willst du nicht dabeisein, wenn es Geld zu verdienen gibt?“ „Na klar“ sagte Kalle ruhig. »Aber deshalb darf man doch die natürlichen Bedürfnisse nicht vergessen, meine ich.“  Der Mann biss sich auf die Lippen. „Beeil dich!“ schrie er. „Ja, ja, werde ich machen“, rief Kalle zurück.

Mia und Wilhelm waren sehr beruhigt, dass die Geschichte von Kalle Blomquist so weiterging, wie Astrid Lindgren es erdacht hatte.