Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 20: Nachfolger gesucht

Über sich sah er den Kopf eines Mannes. So groß, wie Wilhelm es durch seine Schritte vermutet hatte, war er gar nicht. Genaugenommen war er sogar recht klein. Auf jeden Fall musste er kleiner als Wilhelm sein. Er trug einen großen Zylinder und einen kleinen, pechschwarzen Spitzbart. Obwohl er die beiden mit strengem, prüfendem Blick ansah, funkelten seine Augen. Dann fing er plötzlich an zu strahlen.

„Macht sie los!“, befahl er den kleinen Männern, die seinem Befehl folgten und sofort begannen, die zähen Kaugummifäden um die Körper von Mia und Wilhelm zu durchtrennen. Seine Stimme klang herzlich und hell wie eine Glocke.Mia und Wilhelm schüttelten sich. Die Kaugummifesseln waren eng und unbequem gewesen und es fühlte sich gut an, als das Blut in ihre Arme und Beine zurückkehrte.

Mit unsicheren Gesichtern sahen sie den Herrn mit dem Zylinder an. Tatsächlich war er viel kleiner als Wilhelm, wenn auch er die kleinen Männer um ein ordentliches Stück überragte. Er trug einen pflaumenblauen Frack aus feinem Samt, zu dem er eine flaschengrüne Hose und perlgraue Handschuhe kombiniert hatte. Jetzt machte er ein paar tänzelnde Bewegungen, die gleichermaßen merkwürdig und anmutig aussahen – fast wie Tanzschritte.

„Unverhoffter Besuch!“, rief er aus, „Ihr kommt genau richtig! Willkommen in meiner Schokoladenfabrik!“. Er breitete die Arme weit aus, als würde er auf Applaus warten. „Schokoladenfabrik?“, fragte Mia verdutzt. Sie hatte in einer bekannten Kindersendung mal gesehen, wie Schokolade produziert wurde, aber in dem Bericht hatte es keinen Schokoladenwasserfall und keine köstlichen Grashalme gegeben. Und schon gar keine kleinen Männer mit komischen Haaren, die Besucher mit Kaugummi fesselten. Mit schiefgelegtem Kopf sah sie den Mann mit dem Zylinder an.

„Ja, das hier ist Willy Wonkas Schokoladenfabrik! Und ich bin Willy Wonka!“, sagte er. Offensichtlich war er erstaunt, dass Mia und Wilhelm noch nie etwas von seiner weltbekannten Fabrik gehört hatten, aber er war so erfreut, über den plötzlichen Besuch, dass er es ihnen nicht übelnahm. Er wirkte ganz aufgeregt. „Mit wem habe ich die Ehre?“, fragte er dann und streckte den beiden die Hand entgegen. Sie stellten sich vor und Herr Wonka fand, dass Wilhelm ein ganz besonders schöner Name sei. Er zwinkerte ihm vergnügt zu.

„Ich hoffe, die Umpa-Lumpas waren nicht zu grob zu euch.“, mit dem Kopf wies er auf die kleinen Männer. „Sie machen gerne Späße, aber sie sind großartige Arbeiter. Ich habe sie aus Umpa-Lumpa-Land mitgenommen. Ein sehr musikalisches Volk!“, erklärte er.

„Wie gesagt, es trifft sich ganz hervorragend, dass ihr jetzt hier auftaucht. Ich zerbreche mir nämlich schon seit Monaten den Kopf, wie ich ein Kind finden kann, dass meine Nachfolge antritt. Ich selbst habe nämlich keine Kinder und da ich schon viel älter bin, als ich aussehe“, an dieser Stelle räusperte er sich vernehmlich, „suche ich derzeit nach einem Nachfolger. Und zack, hier bist du.“. Er zeigte mit seinem schwarzen Spazierstock auf Mia und strahlte über das ganze Gesicht.„Vielen Dank, dass Sie sie hergebracht haben!“, sagte er dann zu Wilhelm und verbeugte sich tief.

Mia schossen sofort tausende Gedanken durch den Kopf. Einerseits wäre es natürlich das Allerbeste, das sie sich vorstellen konnte, eine eigene Schokoladenfabrik zu haben. Sie könnte sich den ganzen Tag den Bauch vollschlagen, neue Bonbons erfinden und sich von den kleinen Männern etwas vorsingen lassen.

Aber sie konnte doch nicht hierbleiben. Sie wollte zurück nach Hause – zu Leon, zu ihren Eltern und zu ihren Büchern. Wie sollte sie denn das Lesen lernen, wenn sie nicht in die Schule gehen konnte, weil sie eine Fabrik leiten musste? Und war das nicht sogar verboten?

„Tut mir leid, aber das wird nicht gehen!“, Mia war froh, dass sie Wilhelms Stimme hörte und dass er augenscheinlich nicht bereit war, sie hierzulassen.
„Jeder möchte eine Schokoladenfabrik haben.“, sagte Herr Wonka und sah Mia verständnislos an. „Warum solltest du das nicht wollen?“, fragte er dann.
Mia und Wilhelm erklärten ihm, dass sie von sehr weit herkamen und eigentlich nur zurück nach Hause wollten. „Meine Eltern und mein Bruder würden mich bestimmt vermissen!“, sagte Mia.

Der Mann mit dem Zylinder sah jetzt gar nicht mehr lustig aus. Es war eine Mischung aus Wut und Enttäuschung, die sich auf seinem Gesicht ausbreitete. Einige Zeit lang sagte er gar nichts. „Ich gebe euch eine Nacht Bedenkzeit.“, sagte er dann in strengem Ton, „Ihr werdet es euch sicher anders überlegen.“.
Er wandte sich an die Umpa-Lumpas. „Lasst sie essen, was sie möchten. Seid nett zu ihnen. Aber lasst sie nicht raus!“, sagte er. Die Umpa-Lumpas nickten kichernd.

Dann machte Herr Wonka auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Er bewegte sich flink und geschmeidig und hinter ihm fiel mit einem lauten Klicken die Tür ins Schloss. Wilhelm seufzte und ließ sich ins Gras plumpsen. Eine Nacht in Gefangenschaft war jetzt wirklich nicht das, was sie gebrauchen konnten, schließlich rückte Heiligabend immer näher. Er wollte gar nicht daran denken, was passierte, wenn sie die BOKX nicht rechtzeitig öffnen konnten, aber da Weihnachten jetzt so kurz vor der Tür stand, war der Gedanke unvermeidlich.

Beinahe wären Rauchwolken über seinem Kopf aufgestiegen, so angestrengt dachte er darüber nach, wie sie Willy Wonka überzeugen konnten, sie einfach wieder gehen zu lassen. Mussten denn auch alle diese Buchcharaktere so fürchterlich exzentrisch sein? Und in welchem Buch waren sie hier überhaupt?

Er öffnete den Rucksack. Die BOKX lag zuoberst. Er nahm sie heraus und stellte sie neben sich auf die Wiese. Dann nahm er die Schriftrolle zur Hand. Wieder waren unzählige Textzeilen verschwunden.

Das Buch, in dem sie sich gerade befanden, war von Roald Dahl geschrieben worden. Es hieß „Charlie und die Schokoladenfabrik“. Tatsächlich ging es in dem Buch darum, dass ein gewisser Willy Wonka einen Nachfolger suchte, der seine Fabrik für ihn übernehmen würde. In der eigentlichen Geschichte kam diese ehrenvolle Aufgabe einem kleinen Jungen namens Charlie Bucket zuteil, der sie auch gerne annahm. Mia würde diesen Posten auf gar keinen Fall antreten können, so viel stand fest. Immerhin konnten die beiden ja auch nicht die Geschichten verändern, die bereits geschrieben waren. Aber wie sollten sie das Herrn Wonka erklären? Er wusste ja wahrscheinlich nicht einmal, dass er in Wirklichkeit ein ausgedachter Buchcharakter war.

Auf der Suche nach einer Lösung flogen Wilhelms Augen über dem Text hin und her. Ohne es zu merken sprach er einige Worte laut aus, dann immer mehr und schließlich hatte er einige Sätze vorgelesen. Mia hatte ihm zugehört. Andächtig hatte sie ihre Augen geschlossen, während Wilhelm auf die Schriftrolle sah und so bemerkte keiner von beiden, dass die BOKX, die neben ihnen im Gras stand, sachte zu leuchten begann. Es war ein ganz zartes, warmes Licht, das sanft pulsierte, während Wilhelm sprach.

Nur die Umpa-Lumpas hatten es bemerkt. Wilhelm las weiter und das Licht, das aus der BOKX quoll, wurde langsam heller und intensiver. Er las so wahnsinnig schnell, dass er kaum den Inhalt dessen erfassen konnte, was er da vorlas. Konzentriert klebte sein Blick an den Buchstaben und er bemerkte gar nicht, dass ein flackernder Lichtschein über das Papier in seiner Hand huschte. Dann erlosch das Licht plötzlich.

„Ich weiß!“, Mia hatte Wilhelm unterbrochen. Er hatte völlig konzentriert gelesen und sich über Mias Schrei dermaßen erschreckt, dass er die Schriftrolle weggeworfen hatte wie eine heiße Kartoffel. Jetzt krabbelte er ihr hinterher, um sie wieder aufzusammeln.  „Na, was denn?“, fragte er, als er mit der Schriftrolle wieder zu Mia zurückgekrochen kam. Aber Mia hatte sich schon einem der Umpa-Lumpas zugewandt.

„Entschuldigung, Herr Umpa-Lumpa!“, sagte sie schüchtern, denn sie war sich nicht sicher, wie man einen Umpa-Lumpa korrekt ansprach, immerhin hatte sie noch nie einen getroffen. Aber der Umpa-Lumpa schien mit ihrer Anrede einverstanden zu sein, denn er wandte sich ihr zu und lächelte sie fragend an. „Können sie bitte Herrn Wonka holen?“, fragte Mia höflich. Der Umpa-Lumpa nickte eifrig, dann drehte er um und verließ den Raum durch die Tür, durch die ihn auch Willy Wonka kurz zuvor verlassen hatte. Mia flüsterte Wilhelm etwas ins Ohr. Er nickte anerkennend.

Es dauerte eine ganze Weile, bis der Umpa-Lumpa zurückkam. Willy Wonka folgte ihm. Er sah noch immer so aus, als hätte es ihn fürchterlich gekränkt, dass Mia seine Schokoladenfabrik nicht übernehmen wollte. Einige Schritte von ihnen entfernt blieb er stehen. „Also?“, fragte er und blickte die beiden an, „Du willst meine Fabrik nun hoffentlich doch übernehmen?“. Seine Glockenstimme klang jetzt so bedrohlich, dass Mia schlucken musste.

Todesmutig schüttelte sie den Kopf.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder

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