Das Geschichten-Durcheinander

Ja, Wilhelm hatte Recht. Um irgendwie weiterzukommen mussten sie herausfinden, wo sie waren. Es musste ein wunderbares Land sein mit so viel Schnee. In Köln gab es nur ganz selten Schnee, und wenn, war er ziemlich schnell grau und matschig. Mia dachte mit Wehmut an Schweden, wo ihre Familie einmal Weihnachten bei den Großeltern verbracht hatte. Da hatte sie zum ersten Mal richtigen Schnee erlebt. Doch jetzt war keine Zeit, um in alten Erinnerungen zu schwelgen. Sie wandte sich an Wilhelm: „Wilhelm, wie sollen wir herausfinden, wo wir sind? Es sieht nicht so aus, als ob gleich ein Auto um die Ecke kommen würde, so dass wir den Fahrer fragen könnten.“ Fuhren bei dem Schnee überhaupt Autos? So saßen die drei auf ihren Baumstümpfen mitten im Wald und dachten angestrengt über eine Lösung nach.

Da hörten sie ein Geräusch näherkommen. Es hörte sich so an, als ob mehrere Reiter unterwegs seien. Mia und die anderen waren zwar durch die Äste von oben geschützt, aber man konnte die kleine Lichtung von außen sehen. „Kommt schnell, wir müssen uns verstecken!“ „Warum?“, fragte Kalle, der nur zu gern gesehen hätte, wer da kommt. „Sie dürfen uns nicht sehen. Das ist Gesetz!“, erwiderte Wilhelm ungeduldig und mit Angst in der Stimme. „Welches Gesetz! Ich kenne kein Gesetz, dass ich andere Leute nicht sehen darf.“ „Kalle, komm jetzt!“, Mia zog an seinem T-Shirt, aber Kalle sah gar nicht ein sich zu verstecken. Jedoch überlegte er sich, dass er dann vielleicht gar keine Möglichkeit mehr hatte in sein Buch zurückzukommen. Ob man ihn schon vermisste in Kleinköping? „Wo soll ich mich denn verstecken?“ „Hinter einem Baum. Es stehen doch genug herum.“ Zu Mias Erleichterung machte Kalle sich auf den Weg und versteckte sich hinter dem dicksten Baum, den er fand. Keine Sekunde zu spät, denn da kamen sie schon.

Mia sah vier Reiter auf den schönsten Pferden, die sie je gesehen hatte. Wie gerne würde sie die Tiere streicheln, aber es ging nicht. Sie alle mussten in ihren Verstecken bleiben, bis die Reiter wieder außer Sichtweite waren. Doch was war das? Sie hielten an und sprangen leichtfüßig von ihren Pferden. Es waren zwei junge Männer und zwei junge Frauen. Mia musste an ihre Märchenbücher denken, denn so hatte sie sich immer Prinzen und Prinzessinnen vorgestellt. Sie hatten so edle Gewänder an und waren einfach wunderbar anzusehen. Aber im selben Moment, wie die Reiter, sah Mia es. Man sah im Schnee deutlich die Fußspuren. Die von Wilhelm, von Kalle und von ihr. Warum bloß hatten sie daran nicht gedacht! Man konnte deutlich sehen wohin sie führten und wo sie endeten. Die beiden Männer zogen ihre Schwerter und folgten Wilhelms Spur. Wahrscheinlich, weil er die größten Füße hatte. Als sie vor seinem Versteck standen, rief der größere von ihnen: „Wer da? Zeigt Euch, ihr habt nichts zu befürchten!“ Als Kalle sie hörte, fing er an zu lachen, aber bevor man ihn hören konnte presste er seine Hand gegen seinen Mund: „Was war das denn für eine geschwollene Sprache? Konnten die nicht vernünftig reden?“

Wilhelm stand hinter seinem Baum und wusste nicht, was er tun sollte. Er wusste, dass sie das Gesetz nicht brechen durften. Aber er wusste auch, dass die Fremden nicht eher Ruhe geben würden, bevor sie sich zeigten. Es war zum Haare raufen! Er könnte jetzt so gemütlich vor dem Fernseher sitzen und eine heiße Schokolade trinken. Warum hatte er sich nur hinreißen lassen zum offenen Bücherschrank zu gehen? Hatte er sich nicht fest vorgenommen, dass er nicht mehr im Bücherschrank landen wollte? Und im Gegensatz zum letzten Jahr, kam er jetzt von einer brenzligen Situation in die nächste. So nahm er seinen Mut zusammen und zeigte sich den beiden Fremden.

„Werte Herren, tut uns nichts. Wir führen nichts Böses im Schilde und haben nur den einen Wunsch, wieder nach Hause zu kommen.“ Mit großem Erstaunen betrachteten die vier Reiter Wilhelm. Ein Adamssohn, aber warum war er so merkwürdig gekleidet. Und warum suchte er mitten im Wald einen Weg nach Hause. Er war Meilen von der Hauptstadt entfernt. Hatte er sich verirrt. „Sprich, edler Herr. Wer ist noch bei dir?“ Wilhelm drehte sich um und rief: „Mia, Kalle kommt raus aus euren Verstecken! Wir sind aufgeflogen. Langsam kamen beide aus ihrem Versteck und gingen zu Wilhelm. Mia war zuerst bei ihm: „Mia, wir haben ein riesiges Problem. Wir haben erneut das Gesetz gebrochen und ich weiß nicht, welche Folgen das haben wird.“ Mia nahm ganz fest seine Hand und flüsterte: „Es wird gut gehen!“

Nun standen sie also alle auf der Lichtung und sahen sich mit Erstaunen, Neugier und Verwunderung an. Als erster öffnete Wilhelm seinen Mund: „Sagt, wer seid ihr?“. Die kleinere der beiden Frauen sprach: Der große, breitschultrige da ist König Peter der Prächtige. Neben ihm seht ihr König Edmund den Gerechten. Zu meiner Rechten steht Königen Susan die Sanftmütige und zu guter Letzt noch mein Name. Man nennt mich Königen Lucy die Tapfere.“ Wilhelm erstarrte: „Soll das etwa heißen, das wir uns in Narnia befinden?“ „Natürlich in Narnia, wo denn sonst!“, sprach König Peter und fuhr fort: „Oder folge ich daraus, dass ihr aus der Fremde kommt? Und wenn ja, wie seit hier nach Narnia gekommen?“

Wenn die Situation nicht so kompliziert gewesen wäre, hätte Wilhelm sich riesig gefreut. Er wusste noch zu genau, wie er damals die Narnia Bücher verschlungen hatte. Es sah so aus als hätten sie sich in den zweiten Band verirrt. Zu gern hätte er genaueres von dem Sieg über die weiße Hexe gewusst. Oder was genau beim steinernen Tisch passiert war. Er hatte diese Stelle immer wieder gelesen, aber richtig verstanden hatte er es nie.

Diesmal sprach Mia: „Wir sind durch eine Tür gekommen. Eigentlich wollten wir wieder in den magischen Bücherschrank, aber wir haben nicht aufgepasst und sind hier gelandet. Unsere Namen sind Wilhelm“, sie zeigte auf Wilhelm, „der mit dem blau-weißen T-Shirt heißt Kalle und ich bin Mia! Wilhelm und ich wohnen in Köln am Rhein“. Jetzt fing sie an zu flüstern, damit Kalle sie nicht hören konnte: „Kalle kommt aus einem Buch, das in Kleinköping spielt, aber die Stadt gibt es gar nicht. Die hat sich Astrid Lindgren ausgedacht.“ Trotz aller Vorsicht hatte Kalle sie gehört. „Was erzählst du denn da für einen Blödsinn!“, Kalle war außer sich vor Wut, „Natürlich gibt es Kleinköping. Pass besser in Erdkunde auf! Und ich will endlich nach Hause! Ich habe genug von dieser ganzen Magie! Ich muss Eva-Lotta retten! Aber das scheint hier außer mir niemanden zu interessieren.“ Oje, was hatte Mia da nur angerichtet. Alle starrten auf Kalle! Kannte der Adamssohn denn kein Benehmen? So einen Ausbruch hatten die Könige noch nie erlebt. Oder vielleicht doch? Königin Susan musste gerade an etwas denken. Aber so wie der Gedanke gekommen war, war er auch schon wieder verschwunden. Sie sah Kalle voller Mitleid an. Sie glaubte, dass es dem armen Adamssohn so schlecht ging, weil er fror. „Wieso hatte er auch keinen Mantel an?“, dachte sie und zog ihren eigenen aus und gab ihn dem Adamssohn namens Kalle. Kalle war dankbar dafür und zog ihn sofort an. Bei dieser Kälte konnte ja der größte Meisterdetektiv nicht richtig denken. Aber mit Mia würde er kein Wort mehr sprechen.

Wilhelm wollte die ganze Situation entspannen und fragte: „Wie geht es Prinz Kaspian? Und ich würde so gerne mal die „Morgenröte“ sehen.“ Jetzt sprach Edmund: „Werter Herr, wir kennen keinen Prinz Kaspian. Wer ist das? Und wenn ihr die „Morgenröte“ sehen wollt, braucht ihr nur rechtzeitig aufstehen. Die Morgenröte Narnias ist einfach unglaublich.“ Er wandte sich zu Peter und sprach weiter: „Hoheit, meint ihr nicht auch, dass „Morgenröte“ ein wunderbarer Name für unser neues Schiff wäre.“ Wilhelm biss sich auf die Lippe. Langsam fing er an zu begreifen, warum es nicht erlaubt war in die Geschichten einzugreifen. Prinz Kaspian spielte erst in einem späteren Buch von Narnia eine Rolle. Aber woher sollten die vier hier das wissen! Und auf keinen Fall durften ihr Schiff auf den Namen „Morgenröte“ getauft werden. Wie sollten sie das bloß wieder hinbiegen. Soviel Trank des Vergessens hatten sie auf gar keinen Fall.

Daher unternahm er einen weiteren Versuch und fragte: „Bitte edle Herren und edle Damen, was macht ihr hier im Wald?“ „Wir bekamen heute Morgen Besuch von unserem alten Freund Herrn Tumnus. Er erzählte uns von dem „Großmummerich“ und nun sind wir auf der Suche nach ihm.“ Kalle glaubte sich verhört zu haben. Das war nicht möglich! „Was habt ihr mit dem Großmummerich zu tun? Der kann niemals hier sein. Denn der liegt in Stockholm im Labor der Staatspolizei!“ Man konnte es richtig mit der Angst bekommen. Mit so einer kalten Stimme sprach er. Oh, war Kalle wütend! Mia war froh, dass ein gewisser Abstand zwischen ihnen war. „Aber Kalle, du hast doch gesagt, dass der Großmummerich in der Hand der weißen Rose sei.“ Das hätte Mia lieber nicht sagen sollen, aber es war ihr so rausgerutscht. „Kannst du nicht einmal die Klappe halten? Du nervst!!“ Wilhelm merkte, dass die Situation immer mehr aus dem Ruder lief und versuchte sie zu beruhigen: „Kalle, Mia kann nichts dafür und du bist ungerecht. Ich weiß, dass es schwierig ist für dich. Und ich verspreche dir, dass Alles gut wird. Es bringt uns wenig, wenn wir uns gegenseitig anschreien.“ Peter hatte sowohl Kalle und Wilhelm aufmerksam zugehört. Irgendetwas an dem, wie die Beiden sprachen erinnerte ihn an etwas. Aber genau wie Königin Susan hatte er auch sofort den Gedanken vergessen.

Sie mussten irgendwie weiterkommen und versuchen, das ganze Chaos, welches entstanden war, wieder hinzubiegen. Wilhelm sah ihre einzige Chance darin, dass sie sich alle zusammensetzten und vernünftig miteinandersprachen. Dabei war es aber wichtig, dass sowohl er als auch Mia nichts mehr sagen durften, was die Geschichten veränderte. Wo sollten sie beginnen. Vielleicht bei dem Großmummerich. Und so fragte Wilhelm, ob Herr Tumnus wirklich von einem Großmummerich gesprochen habe. Die vier Reiter sahen sich an und schließlich sagte König Edmund: „Es klang so, wobei man nicht vergessen dürfe, dass Herr Tumnus dazu neige undeutlich zu sprechen. Zudem hatte er auch heute morgen seine Pfeife im Mund.“ Das klang zwar ehr nach Bilbo Beutlin, aber das sagte Wilhelm nicht. „Wäre es möglich, dass wir gemeinsam euren werten Freund aufsuchen, um nachzufragen?

Es schien zwar unmöglich, aber Wilhelm hatte den Eindruck, dass er und Mia gerade einige Bücher durcheinanderwarfen. Aber auch diesen Gedanken behielt er für sich. Er musste nur aufpassen, dass Mia nicht etwas sagte, was nur der Leser eines Buches wissen konnte.

„Ich denke es ist an der Zeit zu Herrn Tumnus zu gehen. Vielleicht bekommen wir dort ja auch einen heißen Tee und vielleicht einen Happen zu essen. Da alle mit dem Plan einverstanden waren gingen sie los.