Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 15: Eine Welle der Entrüstung

„Sieht ruhig aus.“, sagte Wilhelm, nachdem sie einen ersten Blick in das Buch geworfen hatten, „Was meinst du?“. Mia war offensichtlich einverstanden, denn sie war schon einige Schritte über die Türschwelle getreten. Wilhelm folgte ihr und ließ die Türhinter sich ins Schloss fallen.

Vor ihnen lag eine große Lagune. Die Sonne spiegelte sich im klaren türkisblauen Wasser und in Richtung des offenen Meeres sahen sie gerade noch einige Delfine verschwinden. Es war herrlich warm, so dass sie sich gleich ihrer Winterkleidung entledigten, die Wilhelm jetzt über dem Arm trug. Im Rucksack war nun nämlich absolut kein Platz mehr, die große Hobbituhr beulte ihn regelrecht aus.

„Hätten wir mal Badesachen eingepackt!“, lachte Wilhelm. Nachdem er zuletzt so still und nachdenklich gewesen war, schien ein kurzer Karibikurlaub genau das zu sein, wonach ihm jetzt der Sinn stand. Mia fand, dass er gleich etwas entspannter aussah.
Sie zogen ihre Schuhe aus und liefen ein Stückchen ins Meer hinein. Das Wasser umspülte ihre Knöchel, die Sonne kitzelte ihre Gesichter und füreinen kleinen Moment genossen sie einfach die schöne Umgebung, in die sie hier hineingeraten waren. Einige Meter weiter ragte ein kleiner Felsen auf, nicht besonders groß, aber groß genug fürdie beiden. Sie beschlossen, dort hinaufzuklettern, um sich einen Überblick zu verschaffen.

„Und hopp!“, mit diesen Worten hatte Wilhelm Mia auf den Felsen gehievt. Dann gab er ihr den Rucksack hoch und kletterte selbst hinauf. Sie setzten sich an den Rand des Felsens und ließen die Beine über dem Meer baumeln. Ein so strahlend blaues Meer hatten beide zuvor noch nicht gesehen. „Besser als in der Fernsehwerbung!“, sagte Wilhelm zufrieden.

Plötzlich stieß Mia einen spitzen Schrei aus.
„Was ist denn los?“, fragte Wilhelm irritiert. Er folgte mit seinem Blick ihrem Finger, denn sie zeigte in Richtung des offenen Meeres. Dann klatschte sie strahlend in die Hände. „Meerjungfrauen!“, rief sie.

Und tatsächlich, jetzt sah Wilhelm sie auch. Eine Gruppe Meerjungfrauen schwamm in ihre Richtung, ihre bunten Schuppen glitzerten im Sonnenlicht und wurden von der Wasseroberfläche so vielfach reflektiert, dass man kaum hinsehen konnte, ohne geblendet zu werden. Sie schwammen in eleganten, stromlinienförmigen Bewegungen und hin und wieder setzte eine zu einem eleganten Sprung aus dem Wasser an, damit man ihre ganze Schönheit bewundern konnte. Mia war wie verzaubert.

Die Meerjungfrauen waren jetzt so nah, dass sie sie rufen und kichern hören konnten. Sie hatten sich nun in zwei Gruppen aufgeteilt und schwammen in entgegengesetzte Richtungen. Als sie einige Dutzend Meter trennten, hielten sie an und drehten sich einander zu. Mia und Wilhelm beobachteten mit offenen Mündern, wie sich über ihnen nun ein farbenprächtiger Regenbogen zu spannen begann. Es war der schönste und bunteste, den sie je gesehen hatten. Nun tauchten die Meerjungfrauen unter und als sie wieder hochkamen, begannen sie ein wildes Ballspiel, bei denen ihnen schimmernde Blasen aus

Regenbogenwasser als Bälle dienten.
Die beiden Enden des Regenbogens schienen die Tore zu sein, denn dorthin schlugen sie die Bälle mit ihren Fischschwänzen. Zwei Torhüter versuchten, sie mit ihren Händen abzuwehren.
Sie spielten so lange, bis die Blase zerplatzte und dann begann das Spiel von vorne.
Mia ärgerte sich, dass sie noch nicht schwimmen konnte, zu gerne hätte sie mitgespielt. Aber der Arger war nur von sehr kurzer Dauer, denn das Spiel dieser eleganten Wesen war so herrlich zu beobachten, dass sie auch beim bloßen Zuschauen schon riesigen Spaß hatte.

Einmal war eine Blase sehr weit in ihre Richtung geflogen und eine der Meerjungfrauen war ihr hinterhergeschwommen, um sie zu holen. Mia hatte ihr zugewunken und sie angelächelt, aber die Meerjungfrau hatte ihr kaum Beachtung geschenkt. Im Gegenteil, als sie eine Drehung machte, um mit der Blase zu ihren Freundinnen zurückzuschwimmen, spritzte sie Mia und Wilhelm mit ihrer ausladenden Schwanzflosse gehörig nass. Wilhelm glaubte sogar, er habe ein gehässiges Kichern gehört, als sie sich schnell wieder von ihnen entfernte. Auch wenn die beiden sich nicht sicher sein konnten, dass es Absicht gewesen war, versuchten sie vorerst nicht weiter, direkten Kontakt mit den Meerjungfrauen aufzunehmen.

Einige Zeit später hatten diese ihr Spiel beendet. Sie trieben jetzt entspannt an der Wasseroberfläche herum und kämmten sich faulenzerisch ihr langes, glänzendes Haar. Dabei sangen sie leise fremdartige Melodien, die der Wind zu Mia und Wilhelm hinübertrug. Andächtig lauschten die beiden. Sie merkten, dass sie müde wurden, ihre Nacht in Hogwarts lag nun schon wieder eine ganze Weile zurück. Das wohlige Gefühl der warmen Sonne und des leichten Windes machte sie zusätzlich schläfrig und es war Wilhelm, dessen Kopf zuerst auf seine Brust niedersank. Wenige Sekunden später war auch Mia eingenickt.

Etwa eine Viertelstunde später wurden sie unsanft aus dem Schlaf gerissen.
Die Meerjungfrauen, die sie heimlich beobachtet hatten, hatten sich ihnen ganz leise genähert. Die beiden schliefen so selig, dass sie nichts davon bemerkt hatten.

Unter Wasser hatten sie sich ein Zeichen gegeben und waren dann alle zeitgleich vor Mia und Wilhelm aus dem Wasser geschossen. Als sie mit voller Wucht auf der Wasseroberfläche aufprallten, verursachten sie eine so große Welle, dass sie den Felsen, auf dem Mia und Wilhelm saßen fast völlig überspülte. Wilhelm prustete – er hatte mit offenem Mund geschlafen und jetzt eine ganze Menge Meerwasser geschluckt. Dennoch war er geistesgegenwärtig genug, gleich nach Mias Arm zu greifen, denn um ein Haar wäre sie von der Welle ins Meer gezogen worden. Sie kreischte. Bevor die beiden sich überhaupt bewusst werden konnten, was eigentlich passiert war, hörten sie das laute boshafte Lachen der Meerjungfrauen, die in einiger Entfernung wiederaufgetaucht waren.

„Dumme Trullas!“, rief Wilhelm ihnen hinterher. Sein liebevoll gezwirbelter Schnurrbart hing jetzt traurig nach unten und tropfte erbärmlich. Mia war glücklicherweise nichts passiert, sie hatte nicht einmal Wasser geschluckt. Aber mit Meerjungfrauen wollte sie jetzt absolut nie wieder etwas zu tun haben. „Prinzessinnen sind eh viel besser!“, sagte sie trotzig, während sie sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht strich, die an ihrer Wange klebte. Sie schwor sich, das Meerjungfrauen-Poster über ihrem Bett gleich abzunehmen, sobald sie wieder Zuhause war.

Nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hatten, beschlossen sie, sich zum Trocknen an den Strand zu legen. Dort könnten ihnen die Meerjungfrauen nicht mehr gefährlich werden. Also kletterten sie vom Felsen herunter und gingen einige Meter, um sich dann im weißen Sand niederzulassen. Dass der Uhr bei ihrer unfreiwilligen Dusche nichts passiert war, musste Wilhelm nicht überprüfen, denn ihr lautes Ticken war noch immer deutlich zu hören. Zu vollen Stunden schlug sie sogar. Er sah nur nach, ob die Schriftrolle Schaden genommen hatte, aber natürlich hatte sie das nicht – magische Tinte ist schließlich wasserfest. Dennoch war das Papier ziemlich nass, also rollte er sie aus und legte sie, zusammen mit Uhr und BOKX, neben sich in die Sonne.

Bei der Gelegenheit hätte Wilhelm eigentlich gleich überprüfen können, in welchem Buch sie sich gerade befanden, aber Mia hatte bereits mit dem Bau einer großen Sandburg begonnen und forderte dringend Wilhelms Bauaufsicht. „Hilfst du mir, Willi?“, hatte sie gefragt, nachdem sie mit ihren kleinen Händen bereits den halben Burggraben ausgehoben hatte. Wilhelm hatte natürlich lächelnd zugesagt und während die Sonne die beiden und ihre wenigen Habseligkeiten langsam trocknete, wuchs unter ihren Händen ein ganzer Sandpalast in die Höhe, den sie mit Muscheln und kleinen Steinen kunstvoll dekorierten.

Gerade saßen sie sich gegenüber und ritzten mit kleinen Stöckchen konzentriert ein Ziegelmuster in die Dächer ihres Sandschlosses, als Wilhelm im Augenwinkel sah, wie sich hinter Mias Rücken ein großer Schatten aufzutürmen begann. Etwas hatte sich an sie herangeschlichen und sie waren so vertieft in ihr Bauwerk gewesen, dass es ihnen nicht aufgefallen war. Es musste schon ganz nah sein, jetzt fiel ihm auf, dass es ein kehliges, grollendes Geräusch von sich gab.

Erschrocken hob er den Kopf und starrte direkt in ein großes, weit geöffnetes Maul voller spitzer Zähne. Das einzige, was ihn noch von diesem bedrohlich aufgerissenen Schlund trennte, war der einzige lebende Mensch, der ihm etwas bedeutete: Mia.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder