Verfolgung in Berlin

Schon bevor Kalle die Tür so weit geöffnet hatte, dass sie hindurch gehen konnten, hörten sie, dass sehr viele Menschen dort sein mussten. Schließlich gingen sie durch die Tür und standen auf einem Bahnsteig. Ein Mann rief über die Menge hinweg „Berlin – Zoologischer Garten“. Mia hüpfte vor Freude von einem Bein auf das andere. Es gab doch nichts Schöneres als in einem Zoo zu sein. Wann immer Mama und Papa Zeit fanden, also so gut wie nie, gingen sie mit den Zwillingen in den Zoo. Am liebsten mochte sie die Elefanten. Aber sie hatte noch nie einen Zoo gesehen, der einen eigenen Bahnsteig hatte. Und wenn sie sich das Treiben auf dem Bahnsteig ansah, hatte sie auch nicht das Gefühl, dass die Leute auf dem Weg zum Zoo waren. „Kalle, warum hat der Mann „Zoologischer Garten“ gesagt?“ Kalle hatte nicht zugehört, denn er überlegte, wo Berlin liegt. „Was hast du gefragt?“ „Warum hat der Mann „Zoologischer Garten“ gesagt?“ „Das ist doch ganz klar. Die Station heißt so! Sagt dir Berlin etwas?“ „Kalle, dass weiß doch jeder.“ „Ich bin nicht jeder!“ Mia entschuldigte sich und erklärte ihm, dass Berlin die Hauptstadt von Deutschland sei. So wie Stockholm von Schweden. „Das muss einem auch gesagt werden.“

Hier war es auch viel wärmer als in dem magischen Bücherschrank. Dort hatte er ziemlich gefroren, da er nur ein T-Shirt anhatte. Aber er wollte vor Mia nicht jammern. Warum ist er nicht hier gelandet, als er aus seinem Buch gefallen war? Wieder eine Frage mehr auf seiner Liste mit ungeklärten Fragen. Aber jetzt mussten sie weiterkommen. Denn sie hatten ja nicht ewig Zeit. Wie sollten sie nur diesen Emil finden unter all diesen Menschen. Während er darüber nachdachte, merkte er wie Mia an seinem T-Shirt zupfte und ganz leise fragte „Kalle, warum sind die Menschen hier alle so komisch angezogen?“ Mia hatte recht. Die Leute auf dem Bahnsteig waren schon merkwürdig angezogen. Wie aus einer ganz anderen Zeit. Vielleicht konnten sie so auch Emil finden. „Mia siehst du einen Jungen, der irgendwie anders aussieht wie die anderen?“ Was war das denn schon wieder für eine Frage, aber Kalle wird schon wissen, warum er sie stellte. Also schaute sie sich um und da sah sie den Jungen. Er trug einen feinen blauen Anzug und hatte einen Blumenstrauß in der Hand. „Kalle, meinst du vielleicht den da?“ Sie zeigte mit ihrem Finger auf den Jungen, der einige Meter vor ihnen stand und sich verzweifelt umsah. Er schien jemand ganz bestimmtes zu suchen. Kalle schaute zu ihm hinüber und war sich sicher, dass das nur Emil sein konnte. „Ja, wir müssen aufpassen, dass wir ihn nicht aus den Augen verlieren.“ Gerade noch rechtzeitig merkten sie, wie der Junge seinen Koffer nahm und loslief.

Sie liefen ganz dicht hinter ihm. Eigentlich müsste er sie bemerken, aber er war so sehr auf einen Mann mit einem steifen Hut fixiert, dass er nichts anderes mehr wahrnahm. Kalle fragte sich warum der Mann wohl so wichtig sei. Hatte er ihm etwas getan? Aber als Meisterdetektiv, der er war, wusste er, dass jetzt nicht der Augenblick war, um Fragen zu stellen. Mia bekam es mit der Angst zu tun. Es waren hier so viele Menschen. Was sollte sie machen, wenn sie Kalle verlieren würde. Würde sie wieder aus dem Buch finden. Außerdem war es ihr viel zu warm, aber sie konnte die Jacke nicht ausziehen. „Kalle, ich habe Angst!“ „Du brauchst keine Angst haben. Ich passe auf dich auf. Fest versprochen!“ Das beruhigte Mia nicht sehr, denn sie musste an Eva-Lotta denken. Doch sie wusste, dass Kalle es ernst meinte. Jetzt blieb ihr aber keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn der Junge lief weiter. Sie folgten ihm und schließlich befanden sie sich in einer Straßenbahn. Hier gab es tatsächlich noch Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe, die Fahrscheine verkauften. „Kalle, wir haben kein Geld für Fahrscheine.“ Kalle schaute sie an und Mia wusste, dass er auch keine Lösung hatte. Der Fahrkartenverkäufer war jetzt bei dem Jungen, der auch kein Geld hatte. Aber ein netter Mann bezahlte ihm den Fahrschein. Der Junge stellte sich als Emil Tischbein vor und bedankte sich in einem ziemlich merkwürdigen Deutsch. So sprach doch kein Mensch mehr. Sie mussten ziemlich weit in der Zeit zurückgereist sein. Doch sie wussten jetzt, dass sie dem Richtigen gefolgt waren. Ob der nette Mann ihnen auch einen Fahrschein kaufen würde? Gleich wäre der Fahrkartenverkäufer bei ihnen. Nur noch wenige Schritte. Er drehte sich zu ihnen um, als ob er gleich fragen würde. Aber bevor es dazu kam, hielt die Bahn und Emil stieg aus. Mia und Kalle hinterher. Das war knapp!

Und Emil folgte tatsächlich dem Mann mit dem steifen Hut. Dieser ging jetzt in ein Café und sie mussten ein passendes Versteck finden. Kalle schaute sich um und gerade als er Emil sagen wollte, dass sie sich doch zwischen dem Kiosk und der Litfaßsäule verstecken könnten, lief dieser auch schon darauf zu. In dem Augenblick als Kalle und Mia an der Litfaßsäule vorbeiliefen, meinte Kalle, dass dort ein Satz erschien. Er konnte die Worte Emil und Michel erkennen. Vielleicht war das ja die Antwort auf ihre Frage, warum Emil in Deutschland Michel hieß. Als sie am Kiosk ankamen, wollte er Mia den Satz zeigen. Doch der war inzwischen schon wieder verschwunden. Schon wieder so was Magisches. Langsam hatte er genug davon.

Er war so mit dem Satz beschäftigte, dass er beinahe Emil umrannte. Aber er schien es nicht einmal bemerkt zu haben. Allmählich wurde es Kalle zu bunt. Sätze, die kamen und gingen. Ein Junge, der nicht reagierte, wenn man ihn umrannte. Das konnte doch alles nicht sein. Was war hier schon wieder für eine Magie zugange. Er wollte der Sache auf den Grund gehen. So tippte er auf Emils Schulter, aber Emil kümmerte es gar nicht. Na, der Mann mit dem steifen Hut muss Emil ja ordentlich geärgert haben, wenn er so konzentriert auf ihn war. Jetzt rief Kalle seinen Namen ziemlich laut. Und was machte Emil. Gar nichts! Er stand da mit ihnen im Versteck und schaute die ganze Zeit zur Terrasse des Cafés. Langsam wurde Kalle wirklich wütend. Das war mehr als unhöflich, denn schließlich war Emil doch ein Kollege. Jetzt starrten alle drei auf die andere Straßenseite. Und es passierte nichts. Mia wurde es langweilig, aber sie musste ja bei Kalle bleiben. Plötzlich ertönte hinter ihnen eine Hupe! Alle drei hüpften vor Schreck in die Höhe und drehten sich um. Da stand ein Junge mit einer großen Hupe hinter ihnen und grinste sie an.

Es stellte sich heraus, dass er Gustav hieß und im ganzen Viertel bekannt war. Emil erklärte ihm, dass er hier stand, weil er einen Dieb beobachtete. Als Gustav nicht sofort verstand, erzählte Emil ihm die ganze Geschichte. Gustav war begeistert. Endlich passierte mal was! Na, ja, der Bankraub vor kurzem war auch nicht von schlechten Eltern. Besonders wenn man sich überlegte, dass die Diebe einen langen Tunnel gegraben hatten. Aber das hier war viel besser. Er wollte Emil helfen. Schnell wurde den beiden klar, dass sie es nicht allein schaffen könnten. Daher machte sich Gustav auf den Weg und wollte all seine Freunde zusammentrommeln.

Mia schaute zu Kalle „Wieso allein? Wir sind doch auch da.“ „Ich glaube, dass sie uns nicht sehen können.“ Kalle hatte Recht. „Wie ist das möglich, Kalle?“ Kalle zuckte mit den Schultern und wusste keine Antwort. Wieder eine Frage auf seiner Liste. Er wollte beim Schulministerium anfragen, ob er länger Sommerferien haben könnte. Denn als Meisterdetektiv hatte er noch einiges zu erledigen in diesem Sommer. Aber da fiel ihm auch Eva-Lotta wieder ein. Wenn er weiter so rumtrödelte, wäre alles zu spät. „Du, Kalle“, „Ja, was gibt es?“ Mia wusste nicht so richtig, wie sie anfangen sollte. Ihr war gerade ein Gespräch von Mama mit Susan, dem Au-Pair-Mädchen, eingefallen. Irgendetwas von dem, was sie und Kalle gerade erlebten, war in dem Gespräch auch vorgekommen. Was war es nur noch? „Meine Mama und Susan haben neulich beim Frühstücken über ein Buch gesprochen. Irgendein große Leute Buch, das alle lesen. Ich weiß auch nicht warum…“ Kalle wurde ungeduldig und drängte Mia voran zu kommen. „Also gut, in diesem Buch gab es eine Schale mit Wasser. Da wurde eine Flüssigkeit reingeschüttet und wenn man dann seinen Kopf in das Wasser eintauchte, konnte man die Erinnerungen von anderen sehen, oder so ähnlich.“ „Was ist das den für ein Blödsinn!“ Aber Kalle sah, dass er Mia mit seinen Worten verletzt hatte. Das hatte er nicht gewollt. „Es tut mir leid Mia. Ich wollte dich nicht verletzen. Wieso glaubst Du, dass es uns weiterhilft?“ „Ich dachte, dass wir vielleicht auch nur in einer Erinnerung sind. Und dass der Grund dafür ist, dass uns niemand sieht.“ „Hmm“ Kalle überlegte. Da könnte etwas dran sein. Es ging auf jeden Fall in die richtige Richtung. Aber er kam gar nicht weiter zum Nachdenken, denn da kam Gustav zurück und hinter ihm eine ganze Schar von Jungen. „Schade, dass ich nicht so eine Unterstützung in Kleinköping habe, wenn es drauf ankam.“ Aber im selben Moment war Kalle auch klar, dass Kleinköping nicht Berlin war.

Voller Respekt schaute Kalle dabei zu, wie sich die Jungs organisierten. Das lief ja wie am Schnürchen. Es wurde für Essen gesorgt, eine Zentrale mit Telefon eingerichtet und das weitere Vorgehen geplant. Ja, das waren echte Kollegen. Auch wenn Kalle keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen konnte, vielleicht hatten sie ja irgendeine Idee, die er verwenden konnte. Doch das würde bedeuten, dass sie noch länger hierbleiben müssten. Wenn sie Zeit hätten, würde er solange, bleiben bis der Dieb gestellt war. Denn dass die Jungs ihn fassen würden, daran hatte Kalle gar keinen Zweifel. Wenn er wieder zu Hause in Kleinköping war, musste er das Buch unbedingt lesen. Vielleicht hieß es ja auf schwedisch „Michel und die Detektive“. Aber sie hatten keine Zeit, um nur darauf zu warten, dass vielleicht jemand eine Idee hatte. Sie brauchten Hilfe, und zwar jetzt! So leid es ihm tat, aber es war Zeit zu gehen. Er wandte sich an Mia und sagte nur „Komm!“. Sie fuhren zurück zum Bahnhof, gingen auf den Bahnsteig und da war schon die Tür. Kalle legte seine Hand auf die Tür, schaute sich noch mal wehmütig um und dann ging es zurück…