Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 17: Herausgelesen

Mia und Wilhelm war ein wenig schwindelig. Ganz plötzlich hatte sich auf einmal ihre Umgebung völlig verändert. Gerade waren sie doch noch über Frankreich geflogen, wie waren sie jetzt hier gelandet? Und vor allem wo?

Scheinbar hatte sie ihr Flugvermögen verlassen, denn die beiden waren unsanft auf knarrende Holzdielen gepurzelt. Mia hatte sich den Kopf an einem Stuhlbein gestoßen. Sie war gleich auf dem Boden sitzen geblieben und rieb sich die Stirn. Tinkerbell war nach wie vor bei ihnen, ihr goldenes Licht war kaum zu übersehen. Nachdem ein kleineres Licht sofort erloschen war, als sie hier aufgetaucht waren, war sie die einzige Lichtquelle. Nervös flatterte sie hin und her.

„Fenoglio!“, hörten sie plötzlich ein heiseres Flüstern. Aufgeregt hatte es geklungen, fast ungläubig. „Fenoglio, sieh doch!“, sagte die Stimme noch einmal. Mia und Wilhelm sahen sich erschrocken an. Wer sprach da? Die orientierungslose Tinkerbell flog noch immer aufgeregt herum und plötzlich fiel ihr Lichtschein auf ein blondes Mädchen, das die drei mit großen, himmelblauen Augen anstarrte.
Es musste etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt sein, schätzte Wilhelm. In seinen Händen hielt es ein Buch, auf dessen Einband „Peter Pan“ stand.

Wilhelm räusperte sich leise und das Mädchen wich einige Schritte zurück. Es sah völlig verblüfft aus. „Guten Abend!“, flüsterte Wilhelm, „Nicht erschrecken!“. Für diesen gutgemeinten Rat war es eindeutig zu spät, aber das Mädchen verstand, dass Wilhelm ihm signalisieren wollte, dass sie ihm nichts tun wollten. Es rüttelte an einem alten Mann, der schlafend neben ihm auf einem Bett lag.

Mia und Wilhelm fiel er erst jetzt auf. Der Mann richtete sich langsam auf und Wilhelm beobachtete, wie das Mädchen ihm etwas zuflüsterte und er eine Antwort zurückwisperte. Leider konnte er nichts verstehen. Er räusperte sich noch einmal und die beiden wandten ihm ihre Köpfe zu.

„Wer seid ihr?“, zischte das Mädchen. „Wir sind Mia und Wilhelm und das ist Tinkerbell.“, antwortete Mia, lächelte schüchtern und zeigte der Reihe nach auf sich und die anderen beiden. „Ja, Tinkerbell kenne ich, aber woher kommt ihr?“, fragte das Mädchen weiter. Verwirrt sah es auf das Buch, „Peter Pan“, das es auf den Schoß des Mannes gelegt hatte. „Nun, das ist eine lange Geschichte und wahrscheinlich werdet ihr sie uns sowieso nicht glauben.“, fing Wilhelm an, „Ich weiß, es klingt verrückt, aber wir sind versehentlich in Peters Geschichte hineingeraten…“. Vorsichtig sah er das Mädchen an. Er rechnete damit, dass sie ihn des Lügens bezichtigen würde, schließlich hätte er nicht anders reagiert, wenn ihm jemand vor etwas mehr als zwei Wochen eine solche Geschichte hätte auftischen wollen.

Zu seiner Überraschung passierte jedoch das Gegenteil. Die Züge des Mädchens hatten sich sofort entspannt. Seine misstrauisch zusammengezogenen Augenbrauen glätteten sich und die himmelblauen Augen, die von langen, dunklen Wimpern umrahmt wurden, leuchteten auf. „Wurdet ihr etwa hereingelesen?“, fragte es. Wilhelm wusste nicht genau, wie er die Frage verstehen sollte, aber er dachte es wäre das klügste, einfach zu nicken, also tat er genau das. Er hatte ohnehin keine Zeit, immer wieder die ganze Geschichte zu erzählen, wenn er und Mia bis Heiligabend diese verflixte BOKX öffnen wollten.

„Ich bin übrigens Meggie.“, sagte das Mädchen dann, „Meggie Folchart. Und das hier ist Fenoglio.“. Sie zeigte auf den Mann, der sich inzwischen aus dem Bett erhoben hatte und sie verschlafen und verwundert, aber herzlich anlächelte. „Ich befürchte, ich habe euch zusammen mit Tinkerbell aus „Peter Pan“ herausgelesen.“, sagte Meggie dann. Sie blickte Tinkerbell einige Sekunden lang hinterher, die immer noch wie aufgescheucht durch den Raum flog. Wilhelm glaubte, in ihrer Stimme so etwas wie Scham, Reue oder Bedauern gehört zu haben, aber er kannte Meggie nicht gut genug, um es genau zu deuten.

„Herausgelesen?“, jetzt musste Wilhelm doch zugeben, dass er keine Ahnung hatte, was Meggie damit gemeint hatte. „Ja.“, antwortete sie, „Das ist auch eine ziemlich lange Geschichte… Offensichtlich bin ich eine Zauberzunge, genau wie Mo, mein Vater. Wir können Dinge und auch Menschen aus Büchern herauslesen, so wie es mir jetzt mit euch passiert ist. Und mit ihr.“. Sie zeigte auf Tinkerbell, die immer wieder gegen das Fenster flog, als würde es ihr irgendwann einfach Platz machen, um sie durchzulassen. „Aber wir haben keine Zeit zu reden.“, sagte Meggie schließlich und warf einen eiligen Blick zur verschlossenen Zimmertür. „Wenn ihr nicht Bekanntschaft mit Bastas Messer machen wollt, müsst ihr schleunigst hier weg!“, sie sah die beiden ernsthaft an. „Messer?“, fragte Mia erschrocken. Meggie nickte düster. Hektisch griff Wilhelm in Mias Rucksack und holte die Schriftrolle heraus. Vielleicht konnte sie ihm verraten, wo sie sich befanden, was hier gerade passierte und wer dieser Basta war, dessen Name so gefährlich nach unwiederbringlichem Ende klang.

Unter den staunenden Blicken von Meggie und Fenoglio rollte er die enorme Schriftrolle bis zum Ende aus, wo schon längst nur noch weißes Papier zu sehen war. Dann wanderten seine Augen auf dem Papier nach oben, bis er den Punkt fand, an dem die seltsamen Schriftzeichen in leserliche Buchstaben übergingen. Fasziniert beobachteten Meggie und Fenoglio, wie sich die magische Tinte langsam auflöste – wie sie kurz aufleuchtete und dann Wort für Wort verschwand. „Tintenherz – von Cornelia Funke!“, las Wilhelm schließlich vor.

„Das stimmt nicht! Ich habe Tintenherz geschrieben!“, Fenoglio hatte leise gesprochen, aber man hörte, dass er aufgebracht war. Er war hinter Wilhelm getreten und versuchte, über seine Schulter hinweg mitzulesen. Dann runzelte er die Stirn.

„Was sind das für komische Zeichen?“, fragte er. „Ach, die da unten?“, Wilhelm wies auf den unteren Teil der Schriftrolle, „Das weiß ich auch nicht.“. Fenoglio schüttelte energisch den Kopf. „Ich bin Autor, normale Buchstaben kann ich natürlich lesen!“, er klang ein wenig gekränkt, „Die hier oben, meine ich!“. Mit seinem Zeigefinger tippte er genau auf die Zeile, die Wilhelm zuletzt gelesen hatte. „Capricorns Männer lachten, während die Bücher langsam zu Staub zerfielen.“, las Wilhelm vor und sah Fenoglio irritiert an. Er dachte einen Moment nach, dann riss er die Augen weit auf. „Sehen sie da unten etwa normale Buchstaben?“, fragte er.

„Natürlich?“, Fenoglios Verwunderung über die merkwürdige Frage hatte seine Antwort wie eine Gegenfrage klingen lassen. Noch verwunderter war er, als er jetzt sah, dass Wilhelm ihn mit offenem Mund anschaute. „Sie etwa nicht?“, fragte er seinen überraschten Gesprächspartner. Wilhelm schloss den Mund, dann schüttelte er den Kopf. „Für mich sind es unverständliche Schriftzeichen.“, antwortete er und erklärte ihm, dass er nur den oberen Text lesen konnte – den Teil, der wiederum für Fenoglio unverständlich war und dass es sich ganz offenbar um eine magische Schriftrolle handelte.

„Das ist ja wirklich erstaunlich!“, sagte Fenoglio und winkte Meggie zu sich heran, die seiner Geste gleich folgte. „Kannst du lesen, was hier steht?“, fragte er und zeigte auf eine Stelle im Text, an der Wilhelm nichts als geheimnisvoller Schriftzeichen entdecken konnte. Meggie strich mit leuchtenden Augen über das leicht vergilbte Papier, das zur Antwort leise raschelte. „Klar und deutlich!“, antwortete sie nach einigen Sekunden.

Mia fand es ja grundsätzlich schlimm, noch nicht lesen zu können, aber jetzt gerade störte es sie ganz besonders. Alle steckten ihre Köpfe über der Schriftrolle zusammen und jeder konnte wenigstens Teile davon entziffern. Nur für sie bestand der ganze Text aus unergründlichen Schriftzeichen. „Was steht denn da?“, fragte sie ungeduldig.

Wilhelm war nicht sicher, ob es wirklich gut sei, auf diese Weise einen Blick in ihre Zukunft zu wagen, aber wieder einmal hatte Mia ihm eine Entscheidung abgenommen. „Es sind Gedichte.“, sagte Meggie. Ihr Blick klebte an den verschlungenen Buchstaben. Jetzt begann er gleichmäßig von links nach rechts zu wandern, denn Meggie fing an vorzulesen.

„Ich bin mir meiner Seele – von Heinrich Heine.“, las sie. Sie hatte erst wenige Worte gesprochen, aber Mia fand schon jetzt, dass sie noch nie jemanden so schön hatte vorlesen hören. Verträumt schloss sie die Augen, als Meggie weiterlas.

„Ich bin mir meiner Seele
In deiner nur bewußt,
Mein Herz kann nimmer ruhen
Als nur an deiner Brust!
Mein Herz kann nimmer schlagen
Als nur für dich allein.
Ich bin so ganz dein eigen,
So ganz auf immer dein.“

Meggie hatte Schritte vor der Tür gehört, aber sie wollte die letzte Zeile noch zu Ende lesen. Als sie die letzte Silbe sprach, hatte sich die Schriftrolle in ihren Händen plötzlich in Luft aufgelöst. Ungläubig hob sie den Kopf und stellte sie fest, dass nur Tinkerbell und Fenoglio ihr noch zugehört hatten.

Mia und Wilhelm waren nirgends mehr zu sehen.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder