Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 16: Von Feenstaub und Flugmanövern

Das riesenhafte Krokodil war höchstens fünf Zentimeter von Mia entfernt. Sie zeichnete noch immer mit ihrem Stöckchen Muster in die Sandburg.

Wilhelm hatte noch nie so große Angst gehabt, aber ganz offensichtlich hatte er alles, was es braucht, um ein richtiger Abenteurer zu sein. Denn er lief nicht panisch davon oder verharrte in Schockstarre. Er schrie auch nicht laut, womit er das Krokodil sicher fürchterlich provoziert hätte. Stattdessen tat er in diesem Moment das einzig Richtige.

Blitzschnell griff er nach der Uhr, die neben ihnen im Sand gelegen hatte. Bevor das Krokodil auf seine Bewegung reagieren konnte, hatte er sie mit einer solchen Wucht in seinen Rachen gepfeffert, dass es die ganze Uhr an einem Stück verschluckt hatte. Offensichtlich steckte sie noch in seinem Hals, denn es machte plötzlich ganz große Augen. Dann fing es an, fürchterlich zu husten und zu röcheln.

Rückwärts taumelte es durch den Sand, bis es das Wasser erreichte. Dann spülte es die Uhr mit einem großen Schluck Meerwasser herunter. Offensichtlich war sie intakt geblieben, denn das laute Ticken war aus dem Bauch des Krokodils weiterhin gut zu hören. Als es wieder Luft bekam, sah es Mia und Wilhelm noch einmal an. Dabei bediente es sich eines Gesichtsausdrucks, der am ehesten als „ehrfürchtig“ beschrieben werden kann. So ehrfürchtig, wie es die starren Züge eines Krokodils eben zulassen. Dann schwamm es davon und mit jedem Meter, den es sich entfernte, wurde auch das Ticken der Uhr etwas leiser.

„Meine Güte!“, schnaufte Wilhelm. Er war so voller Adrenalin, dass er jetzt am ganzen Körper zu zittern begann. Mia fiel ihm in die Arme und bedankte sich ausgiebig für die geistesgegenwärtige Rettungsaktion. Sie drückte ihm einen laut schmatzenden Kuss auf die Stirn.

Wilhelm saß noch einige Minuten verdattert im Sand, bis er den ersten Schreck verdaut hatte. „Nach all diesen Schockmomenten wüsste ich gerne, in welchem Buch wir sind.“, sagte er und nahm die Schriftrolle zur Hand, „Ist bestimmt ab 18, so gefährlich wie’s hier zugeht!“. Er begann, die Texte all der Bücher zu überfliegen, die sie bis jetzt betreten hatten. „Peter Pan von James Matthew Barrie.“, las er schließlich vor.

„Ist das nicht ein Kinderbuch?“, fragte Mia verdutzt und Wilhelm nickte. „Eigentlich schon.“, antwortete er mit gerunzelten Augenbrauen. „Scheinbar sind wir hier in der Meerjungfrauen-Lagune.“, berichtete er dann, nachdem er den Text weiter überflogen hatte. „Und hier steht, dass dieser Ort bei Nacht noch gefährlicher ist.“, fügte er hinzu und sah mit prüfendem Blick in den Himmel. Tatsächlich stand die Sonne schon bedrohlich nah über der Meeresoberfläche und tauchte die Umgebung in ein rötliches Licht.

Mia machte ein ängstliches Gesicht. „Keine Sorge!“, sagte Wilhelm, „Wir brauchen nur einen sicheren Unterschlupf für die Nacht.“. Er rollte die Schriftrolle wieder zusammen, verschloss sie mit der roten Schleife und ließ sie in den Rucksack gleiten. Nachdem er auch die BOKX eingepackt hatte, stellte er zufrieden fest, dass ohne die Uhr auch wieder genug Platz darin war. So stopfte er auch noch ihre Wintersachen hinein, die sie hier nicht brauchen würden. Er warf sich den Rucksack über die Schulter, dann nahm er Mias Hand und sie machten sich auf den Weg. Weiter im Landesinneren war ein kleiner Wald zu sehen. Bestimmt gab es dort jede Menge gemütlicher Schlafplätze.

Sie hatten den Strand bereits hinter sich gelassen, den Wald aber noch nicht erreicht, als plötzlich in einigen Metern Entfernung ein kleiner, heller Lichtpunkt vor ihnen auf und ab zu tanzen begann. Dazu schien dieser Lichtpunkt ein Geräusch zu machen, es hörte sich an wie das helle Klingeln eines kleinen Glöckchens. Dann blieb er für einen Moment lang mitten in der Luft stehen, um dann abrupt kehrtzumachen und zwischen einigen Bäumen im Wald zu verschwinden. Mia und Wilhelm sahen sich verwundert an, setzten ihren Weg aber unbeirrt fort. Nur wenige Minuten später allerdings, erspähten sie das Licht wieder. Jetzt saß es am Wegesrand. Es versuchte wohl, sich im Unterholz zu verstecken, was ihm dank seines hellen Leuchtens natürlich nicht gelang. Das schien es aber nicht zu bemerken. Mia und Wilhelm versuchten zu erkennen, was dieses Licht verursachte, aber sie waren noch zu weit weg. Jetzt aber kamen sie immer näher und plötzlich sahen sie im Schein des Lichtpunktes, dass daneben jemand saß. Und zwar ein kleiner Junge, der sie mit frechem Blick durch die Zweige hindurch beobachtete. Jetzt klingelte das Licht wieder und der Junge begann zu kichern.

„Hallo?“, fragte Mia in den Wald hinein. Wilhelm hätte es lieber mit vorsichtiger Zurückhaltung versucht, aber jetzt war es schon geschehen, „Hallo!“, sagte auch er. Der kleine Junge sprang aus dem Geäst hervor und grinste sie keck an. Er trug einen Anzug, der komplett aus Blättern und Zweigen zu bestehen schien. „Wer seid ihr denn?“, fragte er und der kleine Lichtpunkt nahm auf seiner Schulter Platz. Jetzt konnten Mia und Wilhelm erkennen, dass es eine kleine geflügelte Fee war, die dieses Licht verbreitete. Auch sie trug ein Kleid, ein ziemlich Kurzes allerdings, das aus einem gerippten Blatt gemacht war und ihre Körperform betonte. Sie schlug elegant ihre Beine übereinander, machte dabei aber ein ziemlich giftiges Gesicht und kniff feindselig die Augen zusammen.

Der Junge hatte ihre Blicke bemerkt. „Das ist Tinkerbell, sie ist eigentlich ganz nett, nur ein bisschen eifersüchtig.“, lachte er und schnipste sie neckisch an, wobei sie von seiner Schulter herunterpurzelte. Sie flog einen Bogen und landete auf seiner anderen Schulter. Dann zog sie ihn am Ohrläppchen und begann laut und wild zu klingeln. „Das ist Feensprache. Sie nennt mich einen dummen Esel.“, übersetzte der Junge und lachte wieder. Dann streckte er ihnen die Hand entgegen, „Ich bin übrigens Peter Pan!“.

Auch Mia und Wilhelm stellten sich vor und da Peter natürlich wissen wollte, wie sie hier auf seine Insel gekommen waren, setzten sie sich ins Gras und erklärten ihm die ganze lange Geschichte. Erst schien er aufmerksam zuzuhören, dann aber verlor er das Interesse und begann sie mit lauter Fragen zu unterbrechen.

„Woher kommt ihr denn eigentlich?“, fragte er und ließ sich eine Menge über Köln erzählen. „Ihr seid auf Gänsen geflogen?“, fragte er dann und erklärte ihnen stolz, dass er und Tinkerbell auch ganz ohne Hilfsmittel fliegen konnten. Natürlich stellte er das gleich auch unter Beweis. „Das Krokodil hat wirklich eine Uhr verschluckt?“, fragte er als nächstes und konnte kaum aufhören zu lachen. „Und wohin wollt ihr jetzt?“, fragte er schließlich und ließ sich berichten, dass sie bis Heiligabend dringend wieder zuhause sein mussten, jetzt aber erstmal zurück in den Bücherschrank wollten. Dann wollte er auch noch alles über offene Bücherschränke wissen.

Plötzlich aber sprang Peter auf. „Wir bringen euch hin.“, sagte er grinsend, „Tinkerbell und ich wollten gerade nach London aufbrechen, um uns und den Jungs eine Mutter zu holen. Dieser Bücherschrank in Köln liegt ja auf dem Weg zwischen London und dem Nimmerland. Ihr fliegt einfach mit uns!“. „Aber wir können doch gar nicht fliegen!“, gab Mia zu Bedenken, aber Peter schien das nicht zu beeindrucken. Mit zwei Fingern packte er Tinkerbell, die sich augenblicklich klingelnd zu wehren begann, und schüttelte sie über den Köpfen von Mia und Wilhelm. Dabei löste sich etwas glitzernder Feenstaub von ihren Flügeln, der auf die beiden herabrieselte. Sofort erhoben sie sich in die Luft.

Sie flogen zwar nicht so kontrolliert wie Peter, sie traten unkoordiniert in der Luft umher und konnten sich nicht recht ausbalancieren, aber immerhin schwebten sie. Es sah ein bisschen aus, als würden sie in der Luft schwimmen, aber Peter nahm sie beide an die Hand und hob sie mit sich in den Himmel hinauf. Tinkerbell flog auf gleicher Höhe neben ihnen her und so stiegen die vier immer und immer höher in die Lüfte. Mia jauchzte vergnügt und Wilhelm versuchte, sein ängstliches Grunzen zu unterdrücken, während Peter in der Luft wilde Saltos und Schrauben drehte und laut lachte.

Als Wilhelm sich das erste Mal traute, nach unten zu sehen, war das Nimmerland unter ihnen schon winzig klein geworden. Wie ein Sandkorn lag es da, kaum noch zu erkennen. Um die Insel herum schimmerte tiefschwarz das Meer. So flogen sie durch den immer dunkler werdenden Abendhimmel, an dem sich allmählich tausende Sterne abzuzeichnen begannen.

Nachdem es schon zwei Mal erst hell und dann dunkel geworden war, seit sie unterwegs waren, begann Mia sich zu fragen, wie viel Zeit bisher verstrichen war und wann sie endlich ankämen. Das verleitete sie zu einer Reihe von Fragen, die allen Eltern schmerzlich bekannt ist – „Wann sind wir da?“ und „Wie lange noch?“ waren die prominentesten darunter. Wilhelm gab sich alle Mühe, sie mit lustigen Reisespielen auf Trab zu halten, aber für „Ich sehe was, was du nicht siehst“ und andere Klassiker wie „Rote Autos zählen“ flogen sie einfach zu hoch. Entsprechend erleichtert war er, als er nach einigen weiteren Flugstunden endlich Festland am Horizont entdeckte.
„Land in Sicht!“, rief Peter Pan, der die Stimme von Captain Hook imitierte. Mia und Wilhelm konnten das natürlich nicht wissen, sie hatten Hooks Stimme schließlich nie gehört, aber Tinkerbell lachte. Dann erklärte Peter seinen Mitreisenden, dass das vor ihnen Frankreich sei. Das würden sie überfliegen und dann wären sie schon in Deutschland, sie nährten sich also in großen Schritten ihrem Ziel.

Peter wollte gerade einen großen Salto um Mia, Wilhelm und Tinkerbell schlagen, als er plötzlich sah, wie die drei sich ganz plötzlich einfach in Luft auflösten. Er hatte sie genau in diesem Moment angesehen. In der letzten Sekunde waren sie noch dagewesen, aber jetzt – die drei waren einfach verschwunden.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder

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