Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 23: Dramatische Entwicklungen

Die Erde bebte so stark, dass unweit von Mia und Wilhelm eine der Steinsäulen mit lautem Getöse in sich zusammenbrach. Ein ohrenbetäubendes Grollen schallte durch die Landschaft, in der Ferne stürzten einige Bäume um. Wilhelm warf sich schützend auf Mia, die panisch schrie. Aber wenige Sekunden später war alles wieder vorbei.

Die Umgebung lag wieder da, als wäre nie etwas passiert. Nur ein paar zertrümmerte Säulen bewiesen, dass es wirklich ein Erdbeben gegeben hatte. Die Sonne strahlte noch immer am Himmel und irgendwo zwitscherten einige Vögel – es war eine völlig surreale Situation. Mia und Wilhelm saßen einige Minuten schweigend da, bis sie sich von dem Schreck erholt hatten. Dann nahm Wilhelm die Schriftrolle zur Hand. Orakel und Erdbeben… Er hatte Angst, sie könnten in einem Buch über griechische Mythologie gelandet sein. Da ging es nämlich ziemlich brutal zu, soweit er informiert war. Er war erleichtert, als er las, wohin es sie tatsächlich verschlagen hatte.

„Von Michael Ende.“, las er vor, „Die unendliche Geschichte.“. Fieberhaft flogen seine Augen über den Text. Den Säulenwald und die Stelle, an der die Uyulála auftrat, hatte er schnell gefunden. Er las auch von Fuchur, dem Glücksdrachen, den sie jetzt wirklich gut gebrauchen könnten. Das Erdbeben wurde jedoch in keiner Zeile erwähnt und das machte Wilhelm Angst. Er rollte die Schriftrolle wieder zusammen und sah sich suchend um. Was sollten sie jetzt tun?

In diesem Moment erzitterte die Erde ein zweites Mal, diesmal noch ein wenig heftiger als zuvor. Wieder hatte Wilhelm sich schützend über Mia gelegt. Durch eine der großen Steintreppen des Säulenwalds zog sich ein gigantischer Riss. Aber den beiden war wieder nichts passiert.

Eilig steckte Wilhelm die BOKX und die Schriftrolle in den Rucksack, dann nahm er Mias Hand. Sie mussten aus diesem Säulenwald verschwinden, denn so lange die Erde bebte, waren sie hier in Lebensgefahr. Er rannte los und schleifte das atemlose kleine Mädchen hinter sich her. Sie rannten über einige der großen Steinterrassen, stolperten lange Treppen hinunter und schlängelten sich zwischen all den Säulen hindurch. Einmal war eine Säule ganz knapp hinter ihnen eingestürzt. Der Staub, der dabei entstanden war, legte sich wie eine graue Decke über sie und bedeckte Haare und Kleidung. Unbeirrt rannten die beiden weiter.

Nur noch eine große Treppe, dann hätten sie den Säulenwald endlich hinter sich gelassen. Wieder erbebte die Erde und gerade, als die beiden einen großen Schritt machten, weil neben ihnen eine weitere Säule nachgab, wurde ihnen plötzlich der Boden unter den Füßen weggerissen. Es war, als hätte sich gleich unter ihren der Erdboden aufgetan und sie einfach verschluckt. Sie fielen und purzelten einen Abhang hinab. Dann wurde es dunkel.

Wieder erzitterte die Erde, aber diesmal fühlte es sich nicht mehr wie ein richtiges Erdbeben an. Es war irgendwie rhythmisch, als würden die Erschütterungen einem regelmäßigen Muster folgen. Um sie herum klapperte es laut und alles wirbelte durcheinander, als wären sie auf einem Haufen Zeug gelandet. Irgendetwas mit einer harten Kante stach Wilhelm unangenehm in den Rücken. Er richtete seine Brille, aber in der Dunkelheit konnte er dennoch nichts sehen. „Mia?“, wisperte er.

„Ja?“, antwortete Mia. Wilhelm fragte sie, ob sie sich verletzt hätte und war froh, als sie verneinte. „Aber ich stecke fest!“, sagte sie dann. Wilhelm wühlte sich durch die Dunkelheit, bis er Mia ertasten konnte. Tatsächlich klemmte ihr linker Fuß irgendwo fest. Er zog daran, aber als Mia ein „Autsch!“ entfuhr, versuchte er es anders. Jetzt zog er an dem, was Mias Fuß einzuklemmen schien. Es funktionierte und Mia kam frei, aber da das rhythmische Beben noch immer anhielt, purzelten die beiden nach kurzer Zeit erneut hilflos umher. Sie fassten sich an den Händen und versuchten sich gegenseitig vor den umherwirbelnden Gegenständen zu beschützen. Plötzlich hörte das Beben auf.

Einige Sekunde später riss mit einem lauten „RATSCH“ der Himmel über ihnen auf. Gleißendes Licht fiel auf die beiden und sie schlugen sich die Hände vor die Augen. Zwischen ihre Finger hindurch erspähten sie einen großen, rechteckigen Gegenstand, der vor ihnen aufragte und versuchten eilig, sich dahinter zu verstecken.

In diesem Moment fuhr etwas Riesiges aus dem Himmel auf sie herab. Sie sahen nicht was es war, aber einmal kurz hatte es Mias Gesicht gestreift. Es hatte sich weich und warm angefühlt. Dann hatte etwas laut geklimpert und aus ihrem Versteck heraus sahen die beiden, wie das riesige Ding rasch wieder am Himmel verschwand und etwas metallisch Glänzendes hinter sich herzog. Noch einmal hörten sie ein lautes „RATSCH“, dann war es wieder dunkel.

Kurz darauf hörten sie, wie ein Schlüssel in einem Schloss herumgedreht wurde. Dann begann das rhythmische Beben erneut, bis es kurz darauf wieder erstarb. Eine weitere Tür wurde aufgeschlossen. Mia und Wilhelm griffen sich noch fester an den Händen. Sie hatten eine schreckliche Befürchtung.

„Bin wieder zuhause!“, ertönte plötzlich eine laute Stimme. Ein Wirrwarr verschiedener Stimmen hatte gleich geantwortet. Es gab eine weitere starke Erschütterung, dann lag alles still da. Mia und Wilhelm trauten sich kaum zu atmen. Dann hörten sie die Stimme erneut. „Rate mal, was mir passiert ist!“, sagte sie diesmal, „Ein richtiges Weihnachtswunder!“. Wieder konnten sie die Antwort nicht verstehen, aber sie hörten, wie sich Schritte von ihnen entfernten und sich ihnen dann wieder näherten. Dann erklang nochmal die erste Stimme: „Ich habe „Die unendliche Geschichte“ im offenen Bücherschrank gefunden!“.

Für Mia und Wilhelm brach eine Welt zusammen. Sie saßen in einer Handtasche fest.
Ängstlich und hoffnungslos klammerten sie sich an den großen Gegenstand, hinter dem sie sich versteckten. Ob es wohl das Buch war, aus dem sie herausgefallen waren? Aber es war keine Tür mehr zu sehen. Hatten sie etwa zusammen mit dem Buch den Wirkungskreis des magischen Bücherschranks verlassen? Ihre Herzen fühlten sich kalt und schwer an.

Mia schluchzte. Sie wollte nicht für immer so winzig klein bleiben. Sie wollte nach Hause, zu ihrem Bruder. Zu ihren Büchern zurück und dann endlich in die Schule gehen. Sie fühlte sich schrecklich und Wilhelm wusste nicht, wie er sie trösten sollte. Auch er hatte alle Hoffnung verloren.

Sie hörten die Stimmen der Familie, in deren Wohnung sie als blinde Passagiere hineingeraten waren. Es schien hier viele Kinder zu geben, denn unentwegt hörte man sie lachen und plaudern und über das Christkind reden. Offensichtlich buken sie in der Küche Kekse für Heiligabend, denn bald schon konnten Wilhelm und Mia den köstlichen Duft warmer Plätzchen riechen. Noch niemals hatte Mia den Geruch frischer Kekse traurig gefunden, aber jetzt war alles anders. Sie dachte daran, dass sie nie wieder die leckeren Drömmar-Plätzchen ihrer schwedischen Großmutter essen würde. Oder die Chocolate Chip Cookies von Jessica, dem amerikanischen Au-Pair-Mädchen. Dicke Tränen kullerten ihre Wangen hinunter. Sie schmiegte ihren Kopf an Wilhelms Schulter und er streichelte ihr tröstend über das Haar. So saßen sie eine lange Zeit nur da.

Irgendwann, als auch die Wohnung um sie herum schon längst im Dunkeln lag, schliefen die beiden vor Erschöpfung ein.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder

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