Mia & Wilhelm und die magische BOKX
Kapitel 24: Des Rätsels Lesung
Mia und Wilhelm wussten nicht, wie lange sie geschlafen hatten, aber plötzlich waren sie hellwach gewesen. Die Tasche, in der sie saßen, war nämlich geöffnet worden.
Mit einer schwungvollen Bewegung griff eine große Hand hinein. Verschlafen klammerten sich Mia und Wilhelm an das Buch, unter dem sie Schutz für die Nacht gesucht hatten. Leider griff auch die Hand nach genau diesem Buch und es war reines Glück, dass Mia und Wilhelm nicht entdeckt wurden, als man sie nun mitsamt dem Buchs in das unterste Fach eines hölzernen Bücherregals stellte. Wie kleine Lesezeichen waren sie hinter dem Buch her geflattert, während sie sich mit aller Macht an die Buchdeckel geklammert hatten. Wenige Sekunden später wurde die Zimmertür geschlossen und die beiden waren allein. Beide hatten noch ganz verweinte Augen von Vorabend und sahen wirklich elend aus. Eine ganze Zeit lang schwiegen sie sich einfach nur an und ließen ihre Blicke durch den Raum schweifen.
Sie waren augenscheinlich in das Wohnzimmer der Familie gebracht worden. Vor dem Fenster, hinter dem es allmählich dunkel wurde, stand ein riesengroßer Weihnachtsbaum. Er war schon vollständig geschmückt und sah wirklich prächtig aus. Da gab es glänzende Christbaumkugeln in verschiedenen Farben und Größen, goldene Glöckchen, Zuckerstangen und jede Menge Lametta. Auch die roten Kerzen, die in regelmäßigen Abständen über den Baum verteilt waren, brannten bereits. Mia kannte es von Zuhause so, dass man das Wohnzimmer erst dann betreten durfte, wenn die Bescherung anfing. Wäre sie nicht so furchtbar traurig gewesen, hätte sie es schrecklich aufregend gefunden, schon vor der Bescherung in der Nähe des Weihnachtsbaums zu sein.
Offensichtlich war das Christkind gerade erst hier gewesen, denn auch die Geschenke standen schon dort. Es waren unheimlich viele, übereinandergestapelt lagen sie da. Große und kleine, kurze und lange – manche waren in buntes Papier gewickelt und andere mit großen Schleifen verziert. Diese Familie würde sicher ein tolles Weihnachtsfest haben.
Mia dachte daran, dass es Zuhause sicher auch einige Geschenke für sie gab, die heute niemand aufmachen würde. Wieder begann sie zu schluchzen. Wilhelm nahm sie in den Arm. Er wollte sie so gern trösten, aber er fand einfach keine passenden Worte – stattdessen streichelte er ihr nur sanft über den Kopf. Aber als die Kinder der Familie im Nachbarzimmer jetzt begannen, laut und fröhlich Weihnachtslieder zu singen, konnte Mia nicht mehr an sich halten. Sie weinte jetzt so herzzerreißend, dass Wilhelm befürchtete, dass die Familie sie hören und entdecken würde. So winzig wie sie waren, konnten sie das nicht riskieren – man hätte sie zerquetschen können wie arme Eintagsfliegen. Er drückte das Mädchen an sich.
Wilhelm hatte schon gestern so viel geweint, dass er glaubte, sein Körper könne nie wieder eine einzige Träne produzieren. Stumm und hilflos saß er da und betrachtete das kleine Mädchen, dessen Tränen niemals zu versiegen schienen. Es tat ihm unendlich weh, Mia so traurig zu sehen.
Sie hatte jetzt wieder aufgehört zu schluchzen und sah mit leerem Blick auf den Christbaum und die Geschenke darunter, die sie durch ihre Tränen nur verschwommen wahrnahm. Wilhelm brach das Herz. Was könnte er nur tun, damit es dem kleinen Mädchen besser ginge?
„Soll ich dir etwas vorlesen?“, fragte er plötzlich. Die Idee war ihm ganz spontan gekommen. Natürlich könnte er so nicht das Weihnachtsfest retten, aber vielleicht würde er Mia wenigstens ein wenig von ihrer Traurigkeit ablenken können. Sie drehte sich ihm zu. Ihre himmelblauen Augen waren pitschnass und funkelten nicht, wie sie es eigentlich taten. Nur ein trauriger Glanz lag darin. Sie schniefte geräuschvoll, dann nickte sie langsam.
Wilhelm nahm den Rucksack von seiner Schulter. Er öffnete ihn und stellte die BOKX, die ganz oben gelegen hatte, behutsam neben sich auf dem Regalboden ab. Dann nahm er die Schriftrolle heraus. All die seltsamen Schriftzeichen hatten sich inzwischen aufgelöst, aber die Texte der Bücher, die sie besucht hatten, hatten sich kein bisschen verändert. „Welches der Bücher, in denen wir waren, mochtest du denn am liebsten?“, fragte er sanft.
Mia überlegte eine Weile. Eigentlich hatte es ihr in allen Büchern gefallen. Deswegen wollte sie ja auch so dringend lesen lernen. Aber jetzt wünschte sie sich etwas, das ihr ein vertrautes Gefühl gab. „Nils Holgersson!“, antwortete sie. Die Geschichte erinnerte sie an ihre Großeltern in Schweden. Wilhelm lächelte sie an und strich ihr noch einmal übers Haar. Dann rollte er die Schriftrolle aus, bis er die Geschichte des kleinen Nils gefunden hatte. Mia setzte sich vor ihn und schließlich begann Wilhelm zu lesen.
Er konnte wunderbar vorlesen. Er gab jedem Charakter eine eigene Stimme und betonte die Sätze so wohlklingend, dass Mia gar nicht merkte, dass sie gleich aufhörte zu weinen. Gebannt starrte sie Wilhelm an und lauschte seiner warmen, weichen Stimme. Kein bisschen Grummeligkeit war mehr darin zu hören, als die Worte jetzt aus seinem Mund flossen wie süßer Honig. Mia war wie verzaubert.
Es dauerte eine Weile, bis sie bemerkte, dass es um sie herum plötzlich heller geworden war. Sie sah zum Fenster, aber das Licht kam nicht von dort. Draußen war es inzwischen fast dunkel geworden. Mit gerunzelten Augen sah sie wieder zum lesenden Wilhelm zurück, als sie es plötzlich sah. Das Licht kam aus der BOKX!
Fasziniert starrte Mia das kleine Bücherschrankmodell an. Tatsächlich strahlte die BOKX ein warmes Licht aus, das sanft pulsierte. Es war ein goldenes Licht, das immer intensiver wurde, während Wilhelm langsam weitersprach. Eigentlich wollte Mia ihn gern darauf aufmerksam machen, was neben ihm passierte, aber er las so wunderschön, dass sie ihn nicht unterbrechen wollte. Zu selten kam sie überhaupt in diesen Genuss. Und so las Wilhelm Satz um Satz und Mia lauschte ihm noch immer aufmerksam, während das Licht aus der BOKX immer heller und heller wurde. So hell, dass sie irgendwann die Augen zusammenkneifen musste. Dann öffneten sich mit einem leisen Klicken ganz plötzlich die kleinen Acrylglastüren des Miniatur-Bücherschrankes.
Wilhelm hatte das Geräusch auch wahrgenommen. Er hob den Kopf und sah Mias verdutztes und strahlend hell erleuchtetes Gesicht. Jetzt hatte auch er bemerkt, dass Licht aus dem Inneren der BOKX drang. Mit offenem Mund starrte er sie an.
„Sie ist offen!“, sagte er verblüfft.
Mia nickte wortlos und rückte ein Stückchen näher an das kleine Bücherschrankmodell heran. Gleichzeitig streckten Wilhelm und sie ihre Hände danach aus. Ganz so wie bei ihrer ersten Begegnung an jenem Tag, an dem ihre schicksalshafte Reise begonnen hatte, berührten ihre Hände ganz zufällig das gleiche Buch. Diesmal begann nicht nur das Buch zu zittern, die ganze BOKX rüttelte und schüttelte sich, als wolle sie explodieren. Und wieder übertrug sich dieses Zittern auf ihre Hände, dann ihre Arme und schließlich ihre ganzen Körper, während das Licht der BOKX so gleißend hell wurde, dass die beiden ihre Augen schließen mussten. Im nächsten Moment war alles vorbei.
Langsam öffneten die beiden die Augen. Mia hatte es zuerst realisiert. Mit einem lauten Jubelschrei warf sie sich in Wilhelms Arme. Er taumelte und fiel hintenüber in den Schnee, Mia landete auf seinem Bauch. Sie lachte und kicherte wie verrückt. Die beiden hatten ihre ganz normalen Größen zurück. Und vor ihnen stand der Bücherschrank. Genau der, an dem sie sich getroffen hatten. Jetzt hatte es auch Wilhelm verstanden. Jubelnd rollten sich die beiden über den verschneiten Boden, bis sie keine Luft mehr bekamen. Dann rappelte sich Wilhelm umständlich auf.
„Es ist schon dunkel.“, sagte er zu Mia, „Du musst nach Hause! Die Bescherung fängt bestimmt gleich an und die willst du doch nicht verpassen!“. Er grinste sie so breit an, dass sie unwillkürlich an die Grinsekatze denken musste. Sie kicherte. Wilhelm nahm ihre Hand. „Komm, ich bringe dich nach Hause!“, sagte er. Dann machten sich die beiden Hand in Hand auf den Weg zu Mias Haus.
Wilhelm staunte, als er die riesige Villa sah, in der Mia wohnte. Sie hatte schon am Anfang der Straße darauf gezeigt und Wilhelm hatte heimlich befürchtet, sie hätte den Wohnwagen vor dem Anwesen gemeint. Mit einem derart riesigen Haus hatte er nicht gerechnet. Ehrfürchtig blieb er in der Einfahrt stehen. Mia war vor ihm gelaufen und drehte sich jetzt zu ihm um.
„Was ist denn, Willi?“, fragte sie. Er lächelte sie zaghaft an. „Jetzt müssen wir uns wohl verabschieden.“, sagte er leise. Mia lächelte zurück. „Musst du nach Hause?“, fragte sie dann. Er überlegte eine Sekunde. „Ich schätze schon.“, sagte er dann und dachte daran, dass ihn dort nur sein durchgesessener Fernsehsessel erwarten würde. „Komm doch mit!“, sagte Mia mit einem Blick auf das Haus, „Wir haben genug Platz!“. Wilhelm lachte. Aber irgendwie fand er es unpassend, sich am Heiligen Abend bei einer fremden Familie vorzustellen. Deshalb bestand er darauf, sich in der Einfahrt von Mia zu verabschieden.

Die sah plötzlich ganz traurig aus. „Können wir das nochmal machen?“, fragte sie, nachdem sie sich aus einer langen Umarmung gelöst hatten. „Was denn?“, fragte Wilhelm und rückte seine Schiebermütze gerade. „Machen wir nochmal so eine Reise?“, fragte Mia wieder. Diesmal nickte Wilhelm. „Wir treffen uns nächstes Jahr am ersten Dezember am Bücherschrank!“, sagte er in feierlichem Ton, „Vielleicht klappt es ja noch einmal!“. Mia fiel ihm wieder in die Arme. „Jetzt musst du aber los!“, sagte Wilhelm dann, fasste Mia an den Schultern und schob sie in Richtung des Eingangstores. Ihr behandschuhter Finger drückte auf die Klingel und Wilhelm sah noch schemenhaft, wie ihre Eltern zum Tor gerannt kamen.
Wilhelm war schon fast am Ende der Straße, als er hinter sich plötzlich laute Rufe hörte. „Williiii! Wiiiiillliiiii!“, schallte es durch die menschenleeren Straßen. Das war eindeutig Mia. Jetzt hörte man auch zwei erwachsene Stimmen, „Entschuldigung! Warten Sie!“, riefen sie. Wilhelm blieb stehen und drehte sich um. Er blickte in vier strahlende Gesichter. Man sah der Familie an, wie glücklich sie war, wieder zusammen zu sein.
„Bitte, feiern Sie doch mit uns Weihnachten!“, sagte Mias Mutter und lächelte ihn an, „Es gibt sowieso zu viel Essen und zu viele Geschenke, wir können Hilfe gebrauchen!“. „Freunde unserer Tochter sind uns immer willkommen!“, fügte Mias Vater hinzu.
„Du musst uns etwas vorlesen!“, rief Mias Bruder Leon. „Bitte, Williiiii!“, quietschte Mia.
Und natürlich ließ Wilhelm sich nicht lange überreden.
Frohe Weihnachten!
Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder
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