Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 10: Ein (bisschen) Zauberei

Was Dumbledore da aus dem Samtbeutel herausgezogen hatte, sah eigentlich aus wie ein gewöhnliches Vogelei. Es hatte eine helle, fast weiße Schale mit verschiedengroßen graubraunen Sprenkeln und wäre eigentlich völlig unauffällig gewesen – wenn es nicht so unglaublich groß gewesen wäre. Dumbledore brauchte beide Hände, um es sicher zu halten.

„Ist das ein Straußenei?“, fragte Mia und streckte schon ihre Finger danach aus. Sie hatte zwar noch nie ein Straußenei gesehen, aber sie hatte im Kinderfernsehen mal gehört, dass Strauße diejenigen Vögel sind, die die allergrößten Eier legen. Dumbledore lächelte sie an, schüttelte dann aber den Kopf. „Es ist ein Adlerei.“, sagte er schließlich.

„Ein Adlerei ist ungefähr sieben Zentimeter lang.“, Wilhelm versuchte weder skeptisch noch belehrend zu klingen, aber es gelang ihm nicht so gut. Dumbledore ließ sich nichts anmerken und legte das Ei vorsichtig auf dem Samtbeutel ab, der noch vor ihm auf dem Tisch lag. „Nun, es ist auch kein ganz normaler Adler.“, erklärte er dann, „Es ist ein Adler der Herren des Westens. Ein sogenannter großer Adler.“

Wilhelm war sich noch nicht sicher, was er von diesem ganzen Hokuspokus halten sollte, beschloss aber, sobald sich ein ruhiger Moment ergab, mithilfe der Schriftrolle herauszufinden, in welchem verrückten Buch sie hier gelandet sein konnten. Zurzeit überschlugen sich die Ereignisse so sehr, dass er noch nicht einmal daran gedacht hatte. „Und was sollen wir mit diesem Ei? Sollen wir es etwa ausbrüten?“, fragte er dann, nachdem er das Ei noch einige Sekunden betrachtet hatte.

„Ganz im Gegenteil.“, Dumbledore lachte, „Ich möchte euch bitten, dass ihr es hier wegbringt, bevor das Küken schlüpft.“. Wilhelm schluckte.
„Ist der Adler etwa gefährlich? Wenn ja werden sie verstehen, dass wir das Ei natürlich nicht mitnehmen. Ich habe die Aufsicht für ein Kind!“, sagte er und zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf Mia. Dumbledore schloss für einige Sekunden die Augen, dann sagte er „Das Ei ist erst wenige Tage alt. Das Küken ist noch gar nicht bereit zum Schlüpfen, es braucht noch mehrere Wochen, um sich so weit zu entwickeln. Diese großen Adler sind auch nicht unbedingt gefährlich, hier in Hogwarts ist nur einfach gerade kein Platz für noch mehr magische Kreaturen.“. Er machte eine kurze Pause und rollte mit den Augen.

„Hagrid bringt ständig irgendwelche Eier mit, aus denen dann riesige Wesen schlüpfen, die uns alle Haare vom Kopf fressen und manchmal tatsächlich auch gefährlich sind. Er hat ein so großes Herz, dass er einfach alle Tiere retten möchte, die er findet… Jedenfalls kann der Adler hier nicht bleiben.“, seufzte er. „Außerdem habe ich Flohpulver für euch, das ist ein bequemes Transportmittel, mit dem ihr gleich zu dem Ort reisen könnt, an den ihr das Ei bringen sollt. Ihr werdet also nicht lange damit unterwegs sein.“, fügte er noch hinzu.

„Ich finde überhaupt nicht, dass sich das gefährlich anhört. Das können wir doch machen, Willi, oder nicht?“, fragte Mia und nickte dabei eifrig. Wilhelm, der eigentlich noch immer widerwillig war, überlegte einen Moment. Dann seufzte er und nickte ebenfalls.

Dumbledore lächelte die beiden an. „In dem Beutel ist außerdem noch ein Buch über Trolle. Der alte Freund, dem ihr das Ei bringen werdet, hat mich danach gefragt, weil einer seiner Freunde gerade selbst ein Buch schreibt. Darin kommen auch Trolle vor und er braucht dieses Buch hier für seine Recherche.“, sagte er. Behutsam hob er das Ei hoch und übergab es Mia, die es zaghaft mit beiden Armen umklammerte, während Dumbledore ein weiteres Mal in den Samtbeutel griff und einen zweiten Gegenstand herausholte. Weil Wilhelm merkte, dass Mia Schwierigkeiten hatte, das Ei festzuhalten, nahm er es ihr kurzerhand ab, wickelte den roten Seidenstoff wieder darum und legte es vorsichtig zurück in den Beutel.

Das Buch, das Dumbledore in seinen Händen hielt, sah sehr alt aus. Der rotbraune Ledereinband war schon spröde und rissig geworden und einige seiner vergilbten Seiten schauten an verschiedenen Stellen weiter heraus als die anderen. Die großen, goldenen Buchstaben auf dem Einband waren so verschlungen, dass Wilhelm sie gar nicht auf Anhieb entziffern konnte. Dumbledore öffnete das Buch und blätterte kurz hindurch. Der Text in seinem Inneren war offensichtlich von Hand geschrieben worden, auch einige Zeichnungen waren darin. Er klappte das Buch wieder zu. Dann schob seine Brille nach oben, die über seine lange, krumme Nase heruntergerutscht war und räusperte sich. „Ich bin euch wirklich dankbar, dass ihr das für mich und für Hogwarts tut! Eine Schule sollte doch für all ihre Schüler ein sicherer Ort sein.“, sagte Dumbledore ernst.

„Wenn das hier eine Schule ist, wo sind dann eigentlich die Kinder?“, fragte Mia plötzlich. Diese Frage hatte ihr schon einige Zeit unter den Nägeln gebrannt, aber sie hatte das ernste Gespräch der Erwachsenen nicht unterbrechen wollen. Sie freute sich schon so auf ihre eigene Einschulung, aber eine Schule hatte sie sich ganz anders vorgestellt. „Es sind gerade Ferien.“, antwortete Dumbledore, „Die Schüler sind zuhause bei ihren Familien.“.

Er ließ seinen Blick durch die große Halle schweifen, bis er plötzlich innehielt. „Ihr müsst bestimmt hungrig sein, oder nicht?“ fragte er Mia und Wilhelm und sah dabei ehrlich besorgt aus. Er wies mit ausgestrecktem Arm auf drei goldene Tischgedecke, die einige Plätze neben ihnen auf dem Tisch bereitstanden. Mia und Wilhelm nickten energisch und die drei wechselten ihre Plätze.

Als sie wieder saßen, holte Dumbledore einen Zauberstab aus der Tasche seines Gewandes heraus und schwang ihn einmal kurz durch die Luft. Die Blicke von Mia und Wilhelm waren seiner Bewegung gefolgt und als sie jetzt wieder auf den Tisch heruntersahen, war dieser so reich gedeckt, dass den beiden sogleich das Wasser im Mund zusammenlief. Es gab so viele verschiedene Gerichte in riesigen Schüsseln, dass sie niemals alles hätten aufessen können. Vorspeisen, Herzhaftes, Nachtisch – sogar ein großes Glas Pfefferminzbonbons stand dort auf dem Tisch.

„Lasst es euch schmecken!“, sagte Dumbledore und legte ein großes Lammkotelett auf seinen Teller. „Guten Appetit!“, antworteten Mia und Wilhelm gleichzeitig, aber sie waren sich gar nicht sicher, ob Dumbledore sie überhaupt gehört hatte, denn ihre Mägen hatten in diesem Moment sehr laut geknurrt. „Danke, das sieht köstlich aus!“, sagte Wilhelm noch, bevor eine große Gabel goldbrauner Bratkartoffeln unter seinem Schnurrbart verschwand. Für einige Zeit hörte man nur noch emsiges Schmatzen und das Klimpern und Klappern des goldenen Bestecks.

Sie hatten so viel gegessen, dass Mia und Wilhelm plötzlich schrecklich müde wurden. Seit sie im Bücherschrank verschwunden waren, hatten sie nur kurze und wenig erholsame Nächte erlebt. So nahmen sie dankend an, als Dumbledore ihnen schließlich anbot, die Nacht im Schlafsaal des Gryffindor-Hauses zu verbringen. Da dort während der Ferien alle Betten leer standen, könnten sie es sich dort gemütlich machen und sich ordentlich ausschlafen, bevor er ihnen am nächsten Morgen erklären würde, wie das Flohpulver zu verwenden sei, mit dem sie weiterreisen sollten. Er führte sie durch das große Schloss – über Treppen, die sich wie von selbst drehten und bewegten und vorbei an großen Ölgemälden, deren Motive wie lebendige Menschen umherliefen und gestikulierten, bis sie schließlich den Gryffindor-Turm erreichten. Wären Mia und Wilhelm nicht so schrecklich satt und müde und erschöpft von all den neuen Eindrücken gewesen, wären sie aus dem Staunen sicher kaum herausgekommen.

Vor dem Eingang zum Turm hing ein Bild, das eine sehr dicke Frau in einem rosa Seidenkleid zeigte. Dumbledore murmelte etwas, woraufhin das Portrait zur Seite schwang und den Weg durch eine dahinterliegende Tür frei gab, die wiederum zu einer Wendeltreppe führte. Als sie diese erklommen hatten, standen sie endlich im Schlafsaal. Sie wünschten Dumbledore noch eine gute Nacht, dieser erwiderte den Wunsch und sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließen sie sich jeweils in eins der fünf großen Himmelbetten sinken, die mit dunkelroten Samtvorhängen verkleidet waren. Wilhelm war sofort eingeschlafen und sein leises Schnarchen und das gemütliche Prasseln des Kamins wirkte auf Mia so beruhigend, dass auch sie gleich von ihrer Müdigkeit übermannt wurde.

Die Betten waren herrlich bequem und wunderbar warm und die beiden schliefen so tief, dass sie nicht einmal träumten.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder