Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 9: Riesenschreck

In dem Geschäft war es ziemlich dunkel, durch das kleine Schaufenster drang nicht viel Tageslicht in sein Inneres. Als sie die Tür geöffnet hatten, hatten Mia und Wilhelm einigen Staub aufgewirbelt, der sich jetzt in langsam kreisenden Bewegungen wieder auf dem Boden absetzte. An allen Wänden des Ladens standen hohe Regale, die bis an die Decke reichten und regelrecht vollgestopft waren mit so vielen Büchern, dass man sie kaum zu zählen vermochte. Einige davon waren winzig klein, andere groß wie Gehwegplatten. Manche in Seide gebunden, manche in Leder und wieder andere in Leinen. Auf einigen prangten große goldene oder silberne Lettern. Die zierliche Person mit dem spitzen Hut, der sie hierher gefolgt waren konnten sie nicht entdecken. Außer dem Knistern und Prasseln eines Kaminfeuers waren auch keine Geräusche zu hören.

„Seid früher hier, als ich dachte!“, donnerte plötzlich eine Männerstimme durch den Raum. Mia und Wilhelm wandten sofort ihre Köpfe und sahen, dass jemand hinter einem großen, hölzernen Schreibpult in der hinteren Ecke des Ladens saß. Schon im Sitzen sah man, dass es sich um einen sehr großen Mann handeln musste und als er jetzt aufstand, war er gut doppelt so groß wie Wilhelm, der sich vor Schreck unwillkürlich auch noch ein wenig kleiner machte. Mia hatte sich sofort hinter ihm versteckt.

„Keine Angst, kleine Lady!“, dröhnte die Stimme wieder, „Ich beiße nicht!“.
Dann ging sie in ein sehr lautes und tiefes, aber ebenso herzliches Lachen über. „Wollte eigentlich noch im Tropfenden Kessel vorbeischauen, aber der Regen hat mich überrascht, deshalb kam ich gleich her.“, sagte der Mann und trat einige Schritte auf sie zu. Er hatte langes, schwarzes Haar, das in Zotteln um seinen mächtigen Kopf fiel und um sein Gesicht wucherte ein struppiger Bart. Zwischen all den Haaren glänzten zwei funkelnde, schwarze Augen und als er jetzt näher an sie herantrat, grinste er sie verschmitzt an.

„Wo sind nur meine Manieren! Ich bin Rubeus Hagrid, aber sagt einfach Hagrid zu mir.“, sagte er dann und streckte Wilhelm seine riesige Hand entgegen. „Ich bin Wilhelm und das ist Mia.“, antwortete Wilhelm, während er dem freundlichen Riesen die Hand schüttelte und wies dabei auf Mia, die sich inzwischen wieder hinter ihm hervorgetraut hatte. Schüchtern lächelte sie Hagrid an.

„Hoffe, ihr genießt eure Reise. Seid ja schon eine Weile unterwegs, hab ich gehört!“, sagte Hagrid und beugte sich zu Mia herunter. Dann griff er in eine der Taschen seines Mantels – der bei genauerer Betrachtung eigentlich ausschließlich aus Taschen zu bestehen schien – und drückte ihr einen Schokofrosch in die geöffnete Hand. Sie starrte gebannt darauf und wusste natürlich nicht, dass sie ihn festhalten musste, also sprang er sofort herunter und verschwand hinter einigen Bücherstapeln. Verblüfft schaute sie ihm hinterher.

„Mein Fehler!“ sagte Hagrid, griff in eine andere Tasche und drückte ihr ein sehr hartes und sehr klebriges Bonbon in die Hand. „Sirupbonbons.“, sagte er, „Wirklich gut! Nur nicht draufbeißen.“. Mia sah Wilhelm fragend an, der ihr ermunternd zunickte. Sie griff dankend zu und steckte sich das Bonbon in den Mund. Es schmeckte herrlich süß.

„Bist du ein Riese?“, fragte Mia mit vollem Mund. Hagrid lachte. „Halbriese!“, antwortete er. Jetzt fing Mia auch an zu lachen. „Halbriese? Du bist so groß wie ein Doppelriese!“, sagte sie glucksend. Hagrid strahlte sie an, hob sie hoch und setzte sie auf seiner Schulter ab.

„Verzeihung, Hagrid, wo sind wir denn hier?“, fragte Wilhelm, als Hagrid sich wieder ihm zugewandt hatte. „Winkelgasse!“, gab dieser knapp zurück. „Aber wir reisen sofort weiter nach Hogwarts, Dumbledore will euch sehen. Hat extra einen Portschlüssel eingerichtet.“, fügte er dann hinzu. Bei Wilhelm warf diese Erklärung mehr Fragen auf, als sie beantwortet hatte. Er sah Hagrid verständnislos an. Mit einem rosa Regenschirm, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, zeigte dieser auf ein silbernes Tintenfass, das auf dem Schreibpult stand. Jetzt sah Wilhelm sogar noch verständnisloser aus. Hagrid warf einen Blick auf eine große Wanduhr, die neben einem der Bücherregale hing. „Wird auch Zeit jetzt!“, sagte er, „Geht ganz schnell und ist wirklich völlig ungefährlich. Wir legen jetzt alle unsere Hände auf dieses Tintenfass und – zack – sind wir in Hogwarts. Und zwar am besten jetzt, denn es geht gleich los!“.

„Hogwarts? Dumbledore? Ich verstehe nur Bahnhof.“, traute sich Wilhelm endlich, seiner Verwirrung Ausdruck zu verleihen. „Ist auch ziemlich viel auf einmal für zwei Muggel wie euch. Erklär ich euch, wenn wir da sind!“, Hagrid sah noch einmal auf die Uhr, dann setzte er Mia vor dem Schreibpult ab. Wilhelm folgte den beiden.

„Hände drauf!“, sagte Hagrid und Mia und Wilhelm taten wie ihnen geheißen. Sofort fühlte es sich an, als wären ihre Hände mit Superkleber an dem Tintenfass befestigt worden. „Die Landung könnte vielleicht ein bisschen unsanft werden…“, hörten sie Hagrid noch sagen, als sie schon ein heftiges Ziehen in der Gegend um ihre Bauchnabel spürten. Dann begann plötzlich alles sich rasend schnell zu drehen. Oder waren es sie selbst, die sich drehten? Sie konnten es nicht herausfinden, denn beide hatten ihre Augen fest zugekniffen. Wenige Momente später purzelten sie auf einen harten, kalten Steinboden.

„Da sind wir schon!“, sagte Hagrid, den die Landung nicht so sehr überrascht hatte. Er stand auf, strich notdürftig seinen Mantel glatt und half Mia und Wilhelm auf. Wilhelm, der sich inzwischen fast an all das Fallen, Fliegen, Wirbeln und Stürzen gewöhnt hatte, hob routiniert seine Mütze auf, die knapp neben ihm gelandet war. „Jetzt seid ihr auch wieder trocken. Angenehmer Nebeneffekt!“, sagte Hagrid und lachte. Tatsächlich war all das Regenwasser in ihrer Kleidung auf der turbulenten Reise getrocknet. Sie zogen ihre Mäntel und Schals aus.

„Wo sind wir hier?“, fragte Mia und sah sich um. Sie standen in einer großen Halle, die mit vier langen Tafeln und Sitzbänken ausgestattet war. Über den riesigen Tischen schwebten hunderte Kerzen. Mia hob ihren Kopf und sah an die Decke. Zu ihrer Verwunderung war da keine – sie sah direkt in den Abendhimmel hinauf. Hagrid hatte ihren Blick bemerkt. „Das ist alles Magie, meine Kleine!“, erklärte er.

Mias Augen wanderten weiter staunend durch den Raum. „Wie alt bist du?“, fragte Hagrid dann und sah sie prüfend an. „Ich bin fast sechs!“, sagte Mia und hob fünf Finger in die Luft. „Dann ist ja noch Zeit. Vielleicht kriegst du ja auch einen Brief, wenn du elf wirst!“, er lächelte sie an, „Aber jetzt mal los!“.

Mit diesen Worten wies er auf das Kopfende des Saals, an dem ein besonders hoher Tisch stand. Hinter dem Tisch, in einem goldenen Stuhl, saß ein alter Mann mit langem, silbergrauem Haar und einem ebenso langen und ebenso grauen Bart. Auf seinem Kopf saß ein spitzer Zaubererhut und über die halbmondförmigen Gläser seiner schmalen Brille hinweg, funkelte ein paar heller blauer Augen. Er nickte den dreien freundlich zu.

„Guten Abend und herzlich Willkommen in der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei!“, sagte er lächelnd, „Mein Name ist Albus Dumbledore, ich bin der Schulleiter.“. Dann stand er auf und ging um den Tisch herum auf sie zu und gab ihnen nacheinander die Hand. „Schön, dass ihr jetzt da seid! Ich hoffe, die Reise hierher war angenehm?“, fragte er, nachdem Mia und Wilhelm sich vorgestellt hatten, „Bei der Benutzung von Portschlüsseln ist die Landung manchmal etwas… abrupt. Später habe ich noch etwas Flohpulver für euch, aber das wollte ich euch erst in Ruhe erklären.“. Wilhelm, der nicht gleich wieder ahnungslos wirken wollte, legte den Kopf leicht schief und nickte zustimmend.

„Ich gehe dann rüber nach Hause, in Ordnung?“, unterbrach Hagrid das Gespräch, seine Stimme klang jetzt ziemlich zerknirscht, „Will nicht unbedingt dabei sein.“. „Gut, Hagrid, ich danke dir nochmal.“, antwortete Dumbledore, seine Stimme klang sanft, aber bestimmt.

Hagrid wandte sich Mia und Wilhelm zu. „War schön euch zu treffen.“, sagte er dann und schenkte ihnen ein schiefes Lächeln. Mia fand trotzdem, dass er traurig aussah, außerdem hatte seine dröhnende Stimme leicht gezittert. Er winkte ihnen noch einmal zu und schlurfte dann mit hängenden Schultern davon. Dumbledore hatte inzwischen auf einer Sitzbank an einem der vier langen Tische Platz genommen und bedeutete Mia und Wilhelm mit einer Handbewegung, sich ihm gegenüber zu setzen.

„Sie haben uns also erwartet?“, fragte Wilhelm, als er und Mia sich gesetzt hatten.
Er fragte sich, bei was genau Hagrid nicht hatte dabei sein wollen. Dumbledore senkte den Kopf und sah ihn über die Ränder seiner Brillengläser hinweg ernsthaft an.

„So ist es, ich habe Hagrid geschickt, um euch abzuholen. Ich habe eine sehr wichtige Bitte an euch. Lasst mich euch erklären, worum es geht.“, er hatte seine Stimme ein wenig gesenkt, obwohl niemand hier war, der ihn hätte hören können. Er beugte sich vor und griff nach einem großen, schwarzen Samtbeutel, der vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte und sah die beiden noch einmal mit ernstem Ausdruck an.

Vorsichtig lockerte er die silberne Kordel, mit der der Beutel verschlossen gewesen war. Dann holte er – ganz behutsam – einen großen Gegenstand daraus hervor, der in rote Seide eingeschlagen war.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder

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