Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 2: Die Reise beginnt

Mit einem leisen Klicken fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss.
Hier war es ein wenig dunkler als vorher im verschneiten Bücherschrank.
Wilhelms Augen brauchten einige Sekunden, um sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Dann stellte er zu seiner Freude fest, dass er und Mia wieder ihre gewohnten Körpergrößen erreicht hatten. Weniger erfreut stellte er außerdem fest, dass sie sich jetzt in einem Wald befanden. Um sie herum wuchsen allerlei Bäume und merkwürdige Pflanzen, wie sie keiner von beiden je zuvor gesehen hatte. Wilhelm streckte seine Hand nach einer Ranke aus, die von einem bunt blühenden Baum herabhing. Ihre großen, gefächerten Blätter waren fast durchsichtig und die runden, leuchtenden Knospen erinnerten Wilhelm an asiatische Lampignons. Als er sie berührte, änderten sie ihre Farbe von einem hellen Türkis zu einem satten Dunkelrot. Wilhelm zog die Hand weg und starrte mit weit aufgerissenen Augen erst auf das Gewächs und dann auf seine Finger.

Mia war in der Zwischenzeit einige Schritte vorgelaufen. Wilhelm, der Angst hatte, sie zwischen all den Bäumen zu verlieren, wandte seinen Blick schnell von der wunderlichen Pflanze ab und eilte ihr hinterher. „Lass uns zurückgehen.“, sagte er, als er sie eingeholt hatte, „Mir kommt das hier alles ziemlich merkwürdig vor. Ich möchte lieber wieder nach Hause.“.

„Aber ich finde es schön hier! Können wir nicht noch ein bisschen bleiben?“, Mia sah Wilhelm mit großen Kulleraugen an. Der wollte sich nicht schon wieder umstimmen lassen und bemühte sich, schnell wegzusehen. Er nahm das Mädchen an die Hand und ging mit ihm die wenigen Schritte dorthin zurück, wo sie den Wald kurz zuvor durch die Tür betreten hatten.

Zu ihrer großen Verwunderung war von dieser Tür jedoch weit und breit nichts zu sehen – stattdessen stand dort nur ein ganz besonders dicker, hoher Baum mit krummen Ästen. „Hier muss es gewesen sein…“, Wilhelm sah sich mit aufgerissenen Augen in alle Richtungen um. Er rieb sich ungläubig die Schläfen und schloss seine Augen. Dann schaute er sich noch einmal hektisch um. Einen Moment lang schien er nach Luft zu ringen. „Die Tür ist weg!“, fasste er die Situation folgerichtig zusammen, wenn auch man seiner Stimme anhörte, dass er selbst kaum glauben konnte, was er da sagte.

Mia schien es leichter zu fallen, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. Sie nickte. „Dann gehen wir da lang!“, sagte sie schließlich und zeigte nach links, wo in einiger Entfernung eine Lichtung zu sein schien. Schon lief sie los und drohte wieder zwischen den Bäumen zu verschwinden, also hastete Wilhelm ihr hinterher. Vielleicht war es ja an der Zeit für ein Abenteuer?

Sie gingen einige Minuten und blieben hier und da stehen, um sich über allerlei Dinge zu wundern. Einige Pflanzen leuchteten und schimmerten, andere schienen leise zu klingeln und zu klimpern. Jedenfalls sah die Natur ganz anders aus, als sie es vom Kölner Grüngürtel kannten – der Wald erstrahlte in tausend bunten Farben und einfach alles hier schien sich zu bewegen. Einmal schreckte sie ein hektisches Trappeln auf, das sich ihnen von hinten näherte. Als sie sahen, dass es sich nur um ein kleines Ferkel handelte, das eines dieser Spitzenmützchen trug, die man eigentlich Babys aufsetzt, lachten sie laut über ihre Schreckhaftigkeit. Als das Ferkel an ihnen vorbeirannte, nieste es kräftig, störte sich aber nicht weiter an ihnen und verschwand dann in einem Gebüsch.
Kichernd setzten die beiden ihren Weg fort.

Bald erreichten sie die Lichtung. In ihrer Mitte stand eine riesengroße Sonnenblume und je näher sie ihr kamen, desto besser konnten sie es hören: Diese Sonnenblume schnurrte. Ganz genau wie eine Katze. „Hörst du das, Willi? Ich weiß, dass Katzen schnurren… Wir haben zwar keine, aber meine Großeltern haben einen Kater. Er heißt Findus. Wenn man ihn hinter den Ohren krault, schnurrt er auch. Aber eine Blume?“, Mia kicherte.
„Ich finde…“ setzte Wilhelm zu einer Antwort an, brach allerdings abrupt wieder ab. Er hatte nämlich soeben bemerkt, dass das Schnurren nicht von der Sonnenblume ausging – sondern von einer großen Katze, die auf einem ihrer Blätter saß und sie beobachtete.

„Hallo ihr Zwei!“, sagte sie, als sich ihre Blicke trafen, „Ich wusste schon, dass ihr hier vorbeikommen würdet.“. Mia und Wilhelm beiden schauten sich verdutzt an. „Wir? Hierher? Wo sind wir denn überhaupt?“, fragte Wilhelm. Er dachte noch immer sehnsüchtig an seinen Fernsehsessel.
„Naja, wo wärt ihr denn gern?“, antwortete die Katze mit einer Gegenfrage.
Sie legte den Kopf schief und sah dabei erst Wilhelm und dann Mia an.

Noch bevor die beiden ihre Frage beantworten konnten, war sie plötzlich verschwunden. Sie schauten sich verwundert um, konnten sie aber nirgendwo entdecken. Mia lief sogar einmal ganz um die Sonnenblume herum, aber die große Katze schien sich einfach in Luft aufgelöst zu haben. „Ergiebiger Gesprächspartner, besten Dank!“, grummelte Wilhelm kopfschüttelnd, als die beiden sich gerade ins Gras sinken lassen wollten.

Da erblickten sie plötzlich, auf einem tiefer gelegenen Blatt der Sonnenblume, ein beeindruckend breites Grinsen, bestehend aus vielen spitzen Zähnen, das in der Luft zu schweben schien. Zur ihrer großen Verwunderung, erschien – um das Grinsen herum – sogleich die Katze. Erst der Kopf, dann die spitzen Ohren, der Körper und zuletzt schließlich die Schwanzspitze. Da war sie also wieder. Und grinste so breit, wie es kein Mensch je gekonnt hätte.

„Ich weiß, wer du bist!“, rief Mia plötzlich. Sie grinste jetzt auch.
„Willi, Willi!“, sagte sie dann und ihre Stimme überschlug sich fast, „Das ist Smilkatten!“. „Wer?“, fragte dieser zurück, obwohl auch er inzwischen eine leise Vermutung hatte, in welchem Buch sie hier gelandet waren. Er befürchtete das Schlimmste. „Ich weiß nicht, wie sie auf Deutsch heißt, ich kenne die Geschichte nur auf Schwedisch.“, sagte Mia und sah plötzlich ein kleines bisschen traurig aus.
„Das ist die Katze von Alice – die, die immer grinst!“, bei diesen Worten erhellte sich ihr Gesicht gleich wieder. „Alice im Wunderland? Um Himmels Willen!“, stöhnte Wilhelm – er hatte für Verrücktheiten schließlich nicht allzu viel übrig.

„Ihr solltet euch lieber beeilen, ihr werdet erwartet.“, sagte die Grinsekatze, die in der kurzen Zwischenzeit ganze drei Mal verschwunden und an einem anderen Ort wieder aufgetaucht war und nun direkt vor ihnen saß. Sie wies mit ihrer linken Pfote erst gen Süden, dann nach Osten und schließlich undeutlich in eine nordwestliche Richtung, „Macht euch lieber auf den Weg!“.
„Wir? Werden erwartet?“, fragte Wilhelm verdutzt, „Wir sind doch nur zufällig hier gelandet!“. Die Katze sah ihn mit strengem Blick an. „Dann würdest du nicht erwartet!“, belehrte sie ihn. „Die Zeit ist genauso verrückt wie ihr und ich und all die anderen hier. Ehe man sich versieht, ist schon wieder gestern.“, sagte die Katze, „Also macht euch lieber auf den Weg!“.

Noch während sie die letzten Worte sprach, begann sie wieder zu verschwinden. Diesmal ganz langsam – erst die Schwanzspitze, dann der Körper, zuletzt der Kopf und dann die Ohren. Auch ihre Stimme wurde leiser. Nur ihr Grinsen schwebte noch eine ganze Weile in der Luft, auch als Mia und Wilhelm schon damit beschäftigt waren, sich den Kopf zu zerbrechen, wer sie hier erwarten könne und ob sie vielleicht wirklich verrückt geworden waren. Es dauerte einige Minuten, bis auch der letzte spitze Zahn nicht mehr zu sehen war.

Da es allmählich dunkel wurde und sie nicht wussten, was sie in diesem Wald noch erwarten würde, beschlossen sie, erst einmal auf den großen Blättern der Sonnenblume zu übernachten. Am nächsten Morgen könnten sie dann entscheiden, wo lang sie gehen sollten. Von dort aus sollten sie schließlich eine gute Aussicht auf die Umgebung haben. Wilhelm hob Mia auf das unterste Blatt, dann kletterte er selbst hinauf. Dann hob er Mia auf das nächsthöhere Blatt und wieder kletterte er hinterher. So machten sie es, bis sie das oberste Blatt erreicht hatten.

Sie machten es sich gemütlich und noch bevor sie darüber nachdenken konnten, in welches Abenteuer sie hier hineingestolpert waren, waren die beiden tief und fest eingeschlafen.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder