Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 13: Ein unerwartetes Fest

Wilhelm tippte Mia vorsichtig auf die Schulter. Dabei hielt er sich seinen linken Zeigefinger vor den Schnurrbart, wie um ihr zu sagen, dass sie leise sein solle. Dann zeigte er auf die haarigen Füße, die er da im Türrahmen erspäht hatte. Mia schlug sich ihre kleine Hand vor den Mund, aber ihr unterdrücktes Glucksen war deutlich zu hören. Jetzt schob sich plötzlich ein dunkler Lockenkopf durch die Türöffnung. Für einige Sekunden herrschte Stille, die drei sahen sich nur an.

Der Mann mit den behaarten Füßen war auffällig klein. Zwar war er etwas größer als Mia, aber Wilhelm überragte ihn – trotz gebückter Haltung – um einen knappen halben Meter. Er sah ängstlich aus, aber als er jetzt sah, dass es sich bei den gefürchteten Eindringlingen nur um einen alten Mann und ein kleines Mädchen handelte, entspannten sich seine Gesichtszüge gleich ein wenig. Seine Wangen waren rosig und er sah die beiden mit wachen Augen an.

„Hallo! Bist du Bilbo Beutlin?“, unterbrach Mia plötzlich die Stille und strahlte. Der kleine Mann trat hinter dem Türrahmen hervor. Mia fiel auf, dass seine Ohren nach oben hin leicht spitz zuliefen. Er sah sie noch einige Sekunden unentschlossen an, bevor er antwortete. „Nein, ich heiße Frodo… Aber wer seid ihr und warum seid ihr durch den Kamin gekommen?“, fragte er dann.

Wilhelm stöhnte verdrießlich. „War ja absehbar, dass dieses Flohpulver nicht funktioniert… Wie sollen wir denn jetzt jemals das Haus von Bilbo Beutlin finden?“, er sah gleichermaßen genervt und verzweifelt aus. „Aber so ein Hobbit bist du schon, oder?“, fragte er Frodo. Dieser bejahte. Wie zum Beweis streckte er Wilhelm seine Füße mit dem langen, krausen Haar entgegen. Der merkwürdige Besuch verwirrte ihn noch immer, aber jetzt lächelte er schüchtern. „Ich bin zwar nicht Bilbo, aber ihr seid trotzdem im richtigen Haus. Bilbo ist mein Onkel.“, er freute sich zu sehen, dass sich Wilhelms Mine gleich erhellte. „Seid ihr gekommen, weil ihr beim großen Fest dabei sein wollt?“, fragte er dann.

„Was denn für ein Fest?“, Mia klang ganz aufgeregt. Sie dachte an das Kinderlachen, das von draußen hereindrang und begann gleich sich auszumalen, wie schön es wäre mit den Hobbitkindern zu tanzen, zu spielen und zu toben. Vielleicht würde ihnen ja sogar jemand etwas vorlesen! „Bilbo und ich feiern zusammen unsere Geburtstage, das machen wir jedes Jahr.“, erklärte Frodo. „Und dein Geburtstag ist heute?“, Mia sah ein bisschen erschrocken aus, immerhin war es ja schrecklich unhöflich, wenn man jemandem an seinem Geburtstag nicht gratulierte. „Ja, ich werde zweiunddreißig – Bilbo hat auch heute Geburtstag, er wird schon einhundertzehn Jahre alt!“, er lächelte sie an und Mia staunte, da sie dachte, dass einhundertzehn Jahre sich nach einer ziemlich langen Zeit anhörten.
„Könnten wir denn bitte zuerst mit diesem Bilbo sprechen?“, fragte Wilhelm, nachdem die beiden Frodo gratuliert hatten. Frodo nickte und wies sie an, ihm nach draußen zu folgen, wobei Wilhelm sorgsam darauf achtete, sich nicht wieder den Kopf zu stoßen.

Als sie nun vor dem Haus standen, fiel Mia und Wilhelm auf, dass es von außen mit Erde und Gras bedeckt war, gerade so als wäre es in einen Hügel hineingegraben worden. Tatsächlich sahen die meisten der Häuser hier so aus. Jedes von ihnen umgab ein liebevoll gepflegter Garten. Die Sonne war fast untergegangen und nur noch wenig natürliches Licht erhellte die Umgebung. Hinter einigen Hügeln sah man ganz in der Nähe eine Menge Zelte stehen, die von bunten Lichtern erleuchtet waren. Dort musste das Fest stattfinden, lautes Lachen und fröhliches Geschrei drangen herüber. Auch gleichmäßig stampfende Schritte, Musik und das Geklapper von Geschirr waren deutlich zu hören. Frodo hatte sie aufmerksam beobachtet und ihre staunenden Blicke bemerkt.

„Bilbo ist schon bei der Feier. Wahrscheinlich isst er gerade irgendetwas oder er erzählt mal wieder eine seiner Geschichten, die wir alle schon kennen.“, lachte er. „Kommt mit, ich bringe euch zu ihm!“, sagte er dann und führte Mia und Wilhelm zu den Zelten hinunter.

In den Zelten und dazwischen auf der Wiese standen lange Bänke und Tische, die so reichlich mit Speisen und Getränken gedeckt waren, dass sie sich unter all dem Gewicht bedenklich durchbogen. An ihnen saßen lauter schmatzende, lachende und trinkende Hobbits. Einige sangen laut und schief zu der Musik, die andere auf Flöten, Trompeten und Hörnern spielten. Wieder andere klatschten dazu oder tanzten ausgelassen auf den Tischen. Fast jeder von ihnen hielt ein volles Glas in der Hand oder wenigstens seinen Sitznachbarn im Arm. Es schien ein ausgelassenes Fest zu sein.

Frodo führte sie an einen Tisch in einem der Zelte und zeigte auf einen Hobbit, der einen dunkelgrünen Mantel mit glänzenden Messingknöpfen trug. Sein krauses Haar war schon ziemlich grau, aber an einigen Stellen sah man noch, dass es vorher braun gewesen sein musste. Er lachte und scherzte mit seinem Sitznachbarn – einem Mann, der ihn und die anderen Hobbits um ein schönes Stück überragte. Zu seinem grauen Gewand trug er einen spitzen Zaubererhut und einen langen, grauen Bart. Mia und Wilhelm erinnerte er sofort an Dumbledore.

Offenbar hatte er sie auch bemerkt, denn er hatte Bilbo auf sie aufmerksam gemacht. Dann waren die beiden aufgestanden und zu Mia und Wilhelm hinübergegangen. Der Mann mit dem spitzen Hut hatte sich ihnen als Gandalf vorgestellt. Tatsächlich war er ein Zauberer und ein alter Freund von Albus Dumbledore. Dessen Eule hatte ihm einen Brief gebracht, in dem er im Namen der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei darum gebeten wurde, ein Ei eines großen Adlers des Westens in seine Obhut zu nehmen. Im Sinne der Schülerschaft hatte er das natürlich zugesagt. „Sieht so aus, als wolle einer von Albus‘ Angestellten lieber einen Zoo aus der Zaubererschule machen!“, hatte er gelacht, als er den Samtbeutel mit dem Ei an sich genommen hatte. Behutsam griff er hinein und reichte Bilbo das Buch über Trolle. Mit leuchtenden Augen las dieser den Titel auf dem Einband, dann klemmte er sich das Buch unter den Arm. Ohne sich auch nur bei einem einzigen seiner Gäste zu verabschieden, verschwand er hinter den Hügeln in seinem Haus. Man konnte gerade noch hören, wie in der Ferne eine Tür zuschlug. Mia und Wilhelm sahen ihm verdutzt hinterher.

„Er schreibt ein Buch über eine große Reise, die er gemacht hat.“, erklärte Gandalf. Er rollte die Augen. „Man kriegt ihn kaum noch hinter seinem Schreibtisch hervor, so eifrig arbeitet er daran. Eigentlich ist er ein feiner Kerl und hätte sich bestimmt ausgiebig bei euch bedankt.“, sagte er dann, „Deshalb möchte ich euch in unser beider Namen danken. Esst, soviel ihr könnt und tanzt, so lang euch eure Füße tragen, heute seid ihr unsere Gäste!“. Er lächelte und bot Wilhelm eine lange Holzpfeife an. Als dieser dankend ablehnte, zog er selbst daran und der Rauch, den er ausblies, verformte sich in der Luft zu einem großen, geöffneten Buch, bevor er sich langsam verzog. Mia staunte.

„Das große Feuerwerk wird gleich beginnen, ich muss es jetzt vorbereiten.“, sagte Gandalf dann. „Das wird dir sicher gefallen!“, diesen Satz hatte er an Mia gerichtet, deren Augen beim Wort „Feuerwerk“ gleich angefangen hatten, selbst wie Feuerwerke zu leuchten und zu funkeln. Er wandte sich von ihnen ab und verschwand in die Dunkelheit, die sie inzwischen umgab.

In diesem Moment berührte jemand ihre Schultern. Es war Frodo.
Er hatte bemerkt, dass Bilbo die Feier so eilig verlassen hatte und war ihm ins Haus gefolgt.
„Mein Onkel ist schon ganz in das Buch vertieft, das ihr ihm mitgebracht habt.“, sagte er, „Aber er hat mich gebeten, euch das hier zu geben. Es ist ein Geschenk von ihm. Macht es auf!“. Mit diesen Worten überreichte er Wilhelm ein Paket, das in braunes Papier eingeschlagen war. Darin war eine kleine tickende Standuhr aus dunkelbraunem Holz – eine, wie sie sich ältere Leute auf ihr Kaminsims stellen.
Wilhelm hatte wohl ein bisschen verwirrt ausgesehen, denn Frodo fing gleich an, ihm zu erklären, dass Hobbits an ihren Geburtstagen keine Geschenke bekommen, sondern selbst welche verschenken. Zu diesem Zweck sammelte jeder Hobbit eine ganze Menge Zeug – Kerzenhalter, Glasflaschen, Blumentöpfe… – eben alles, was sie selbst nicht benötigten. All dieses Zeug nannten sie „Mathom“, sie stellten es sogar in Museen aus, sogenannten „Mathomhäusern“. Und Bilbo hatte nun diese Uhr, ein ganz besonders schönes Mathom, für Mia und Wilhelm ausgewählt. Sie bedankten sich und auch wenn sie insgeheim dachten, dass es ganz schön unpraktisch war, auf ihrer Reise eine solche Uhr mit sich herumzutragen, steckten sie sie dennoch in den kleinen Rucksack.

Nur wenige Minuten später schossen die ersten Raketen über ihre Köpfe hinweg. Es war das schönste Feuerwerk, das Mia und Wilhelm je gesehen hatten. Wenn sie im Himmel explodierten, verwandelten sich die Feuerwerkskörper in riesige Schwärme glitzernder Schmetterlinge, die in die umstehenden Bäume zu fliegen schienen oder in riesige, feurige Segelboote, die den Nachthimmel hinabsegelten, bis sie verschwanden. Leuchtende Blumen rieselten auf die Zuschauer herab und goldene Funken regneten so reichlich vom Himmel, dass es taghell wurde. Die Hobbits quittierten die Vorführung mit begeisterten „Oooohs“ und „Aaaahs“ und die Hobbitkinder lachten und kreischten vor Freude.

Gerade war genau über den Köpfen von Mia und Wilhelm eine Rakete explodiert, aus der ein riesenhaftes, grünes Pferd emporgestiegen war. Es blähte seine Nüstern und sprühte bunte Funken über die Zuschauer. Mia hatte Wilhelm an den Händen genommen und tanzte lachend mit ihm durch den Funkenregen. Die beiden hatten gar nicht bemerkt, dass plötzlich ein aufgeregtes Raunen durch die Menge gegangen war. Als ihnen auffiel, dass es um sie herum plötzlich totenstill geworden war und sie sich verwundert umsahen, war es bereits zu spät. Die meisten der Hobbits hatten sich mit dem Gesicht voran, auf den Boden geworden und hielten sich schützend die Arme über ihre Köpfe. Mia und Wilhelm hörten ein lautes Zischen, das von hinten und mit wahnsinnigem Tempo auf sie zukam. Jetzt ging es in ein donnergrollendes Brüllen über.

Sie fuhren herum und sahen mit schreckgeweiteten Augen, wie ein Drache aus rotgoldenem Feuer direkt auf sie zuschoss. Er flog so tief, dass er beinahe die Köpfe der Hobbits streifte, die sich eine Sekunde zu spät in Sicherheit gebracht hatten und er war so schnell, dass Mia und Wilhelm ihm nicht mehr ausweichen konnten.

Laut brüllend riss er sie mit sich in die Höhe. Riesige Flammen loderten aus seinem Rachen, dann vollführte er einen wagemutigen Salto. Mia und Wilhelm schrien vor Angst und die Hobbits schauten dem Feuerdrachen mit weit aufgerissenen Augen hinterher.

Bis er plötzlich – mit ohrenbetäubendem Getöse – am Nachthimmel zerplatzte.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder