Der Mary-Poppins-Rucksack

Wilhelm schaute sich die Schriftrolle festumklammernd um. Es war so finster, dass er Leon und Mia nichts sehen konnte. Wilhelm hatte irgendwo gelesen, dass man sofort die Orientierung verlor, wenn es überhaupt kein Licht gab. So wie jetzt. Er spürte, dass sie draußen waren, aber es waren weder Mond noch Sterne am Himmel zu sehen. „Wo seid ihr?“, flüsterte er ängstlich, „Bewegt euch auf keinen Fall.“  Er hörte zwei leise Stimmen nacheinander hier rufen. „Mia, hast Du noch die Taschenlampe in deinem Rucksack?“ „Ja!“ flüsterte Mia und fing an in ihrem Rucksack zu wühlen. Endlich ertastete sie die Taschenlampe und schaltete sie ein.

Sie leuchtete Leon direkt ins Gesicht. „Menno““, fauchte er und hielt sich die Hand vor die Augen. „Psst!“, zischte Wihelm, „wir wissen überhaupt nicht, wo wir sind oder ob jemand hier ist. Wir dürfen nicht entdeckt werden. Wir haben keinen Vergessenszauber mehr.“ Ich war ja dafür, dass wir wieder in den Schrank kommen. Mittlerweile habe ich mehr und mehr die Angst, dass wir nicht mehr aus dem Schrank herauskommen.“

Mia leuchtete mit der Taschenlampe dorthin, von wo sie die Wilhelms Stimme gehört hatte. Wilhelm sah, dass ein paar Meter abseits von ihm Leon und Mia saßen. „Also muss ich meine alten Knochen über den Boden schleifen.“, stöhnte er leise und robbte vorsichtig dem Lichtstrahl entgegen. Sofort hielt er Mia die Schriftrolle hin: „Kannst du die bitte in den Rucksack nach ganz unten stecken.“ Sie nahm die Schriftrolle und ließ sie ihm Rucksack verschwinden.

Langsam nahmen sie mehr und mehr ihre neue Umgebung wahr. Es war empfindlich kalt. „Jetzt gehen wir mal davon aus, dass wir tatsächlich endlich in Winnetou gelandet sind. Und es scheint so, dass wir uns in der Prärie befinden. Ich habe mal gelesen, dass es dort nachts sehr sehr kalt wird.“, dozierte Wilhelm. Mia ließ den Lichtstrahl weiter herumschweifen. „Schaut mal“, wisperte sie erregt, „da ist ein Busch oder so etwas ähnliches. Vielleicht können wir uns da verstecken.“ Leon sagte nichts, aber Wilhelm nickte und sie alle drei robbten rüber zu dem Busch, der sich mehr und mehr als ein Gestrüpp herausstellte. „Autsch, das piekst.“ Mia schlug sich mit der Hand auf den Mund, um den Schrei zu unterdrücken. Leise grummelte sie vor sich hin: „Taschentücher, dass ich nicht lache.  Ich hätte ein Messer einstecken sollen, damit wir uns ein Loch in das Gestrüpp schneiden könnten. Stellt euch mal vor, wir hätten ein Zelt, was genau in dieses Gestrüpp passen würde, so dass uns niemand sehen könnte.“ Sie versuchten vorsichtig mit spitzen Fingern die Äste und Zweige zu entfernen, aber in der Geschwindigkeit, wären sie noch in 3 Tagen damit beschäftigt gewesen.

„Au Mann“, sagte sie, „ich wünsche mir wirklich ein Zelt für das Gestrüpp und Decken für uns. Wie sollen wir die Nacht überleben?“ Sie erstarrte, denn sie hatte auf einmal das Gefühl, dass sich der Rucksack auf ihrem Rücken bewegte. Sie holte ihn nach vorne, und steckte ihre Hand hinein und fühlte etwas Weiches. Vorsichtig zog sie es hinaus. Sie zog und zog. „Es ist eine Decke!“. Wieder griff sie in den Rucksack. Eine weitere Decke kam heraus. Erneut griff sie in den Rucksack und brachte eine dritte Decke zum Vorschein. Mia schaute neugierig in den Rucksack und sah ein weiteres Stoffpaket. Sie zog es heraus und während sie daran zog, wurde es immer schwerer und größer. Mia drehte sich zu den anderen und sprach mit leiser, aber doch sehr bedeutender Stimme: „Mary Poppins.“

Sie schaute auf den Rucksack an und sprach: „Ich wünsche mir ein Messer, damit wir das Gestrüpp entfernen können.“ Sie griff hinein und holte ein Messer heraus. „Yippieh “, jubelte sie so leise, wie sie konnte, „Mary Poppins“. Die beiden anderen schauten sie etwas ratlos an. Wilhelm, der vielmehr mit Magie vertraut war als Leon, sagte: „Schnell, lass uns den Weg frei machen und das Zelt in der Mitte des Gestrüpps aufstellen. Wir sollten vom Präsentierteller verschwinden.“

Wilhelm schnappte sich das Messer und bahnte sich einen Weg in das Innere des Gestrüpps. Hinter sich her zog er das schwere Stoffpaket. Er vermutete, dass es ein Zelt war. Als er das Band vom Paket löste, da bewegte es sich und in der Mitte des Gestrüpps baute sich ein Zelt auf. Er musste sich schnell nochmal entfernen, damit das Zelt ihn nicht ins Gestrüpp drückte. „Kommt Kinder, das Zelt steht.“ Leon krabbelte als erster in das Zelt und fragte erstaunt. „Mann, Wilhelm, wie hast du das denn so schnell gemacht?“

„Keine Ahnung. Ich habe das Band gelöst und dann hat es sich selbst entfaltet. Los krabbelt schnell in das Zelt und schließt es. Dann leuchtet ihr mit der Taschenlampe. Ich bleibe draußen und prüfe, ob man uns dann sehen kann!“Leon und Mia krabbelten in das Zelt und schlossen den Reißverschluss. Wilhelm sah überhaupt nichts mehr. „Super“, sagte er, „macht wieder einen Spalt auf, damit ich sehen kann, wo ich hinmuss.“ Gesagt, getan und kurze Zeit später saßen die drei mit ihren Decken in dem doch etwas engen Zelt.

„Ich habe Hunger“, jammerte Leon. „Es sind noch Weihnachtsplätzchen, ein Gouda und etwas Brot im Rucksack.“ Mia holte das Essen aus dem Rucksack und machte deutlich: „Wir dürfen auf keinen Fall das Plastik hier liegen lassen. Stellt euch mal vor, das würde jemand finden und so den Lauf der Geschichte verändern.“ Schweigend aßen sie ihr karges Mahl. „Eine merkwürdige Kombination.“, bemerkte Wilhelm und Mia rechtfertigte sich: „Was anderes habe ich auf die Schnelle nicht gefunden. Ich wollte nicht das Mama mich erwischt, als ich die Sachen in den Rucksack gepackt habe.“

Dann ging ein sehr breites Grinsen über ihr Gesicht und sie sagte zum dritten Mal Mary Poppins. „Boah echt Mia, das nervt.“, schimpfte Leon. „Was soll immer dieses blöde Mary Poppins?“ Mia zog eine kurze Schmollschnute und erwiderte ungehalten „Ich habe mir zu Hause gewünscht, dass mein Rucksack zu einer Mary-Poppins-Tasche wird. In dem Film holt sie eine Lampe aus ihrer Tasche. Naja, du wolltest den Film ja nie sehen, fandest ihn zu „Mädchen“. Siehst du, hättest du es mal gemacht. Ich dachte, das wäre doch total super, wenn wir so eine Tasche dabeihätten, die immer das beinhaltet, was wir gerade brauchen. Siehe da, mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Wünsch dir was und ich hole es aus der Tasche.“ Leon legte seine Stirn in Falten und überlegte genau, was er sich wünschen wollte. „Ich wünsche mir die neueste Playstation mit allen neuen Spielen drauf.“, Leon dachte, er sei schlau. Wenn es schon das letzte Mal nicht geklappt hat, dann doch wohl jetzt. Er schaute gebannt auf den Rucksack. Aber nichts passierte. „Warum klappt das denn jetzt nicht?“, fragte sie. Wilhelm schaute sie an und antwortete, vielleicht kannst nur du dir was von der Tasche wünschen. Mia sprach in einem würdevollen Ton: „Ich wünsche mir die neueste Playstation mit allen neuen Spielen drauf.“ Und… nichts passierte. „Sollte der „Mary-Poppins“-Zauber vielleicht nur dreimal funktionieren?“ Mia war den Tränen nahe. Leon schaute wütend und enttäuscht auf den Rucksack.

Da fiel ihm plötzlich ein, was er die ganze Zeit schon fragen wollte. Die Wut in seinem Gesicht verstärkte sich sogar noch. „Warum habe ich mir denn überhaupt gewünscht, dass wir in den Winnetou kommen, wenn wir Winnetou und Old Shatterhand überhaupt nicht treffen dürfen? Ich wollte doch so gerne wissen, wie die Geschichte weitergeht.“, sprudelte es aus ihm heraus und er blickte noch wütender zu den beiden anderen. Sein Gesicht sah mittlerweile aus wie eine Fratze und Mia musste sich wegdrehen, damit er ihr Grinsen nicht sehen konnte. Sie machte wieder ein ernstes Gesicht und schaute erwartungsvoll zu Wilhelm. Solche Fragen konnte nur er beantworten. „Wie gesagt, wir dürfen die Geschichte der Bücher nicht verändern. Jede Begegnung verändert eine Geschichte. Dumbledore haben wir außerhalb der Geschichte getroffen und magische Wesen können damit umgehen.  Ohne Vergessenszauber möchte ich diese Erfahrung nicht machen.“, fasste Wilhelm zusammen.

Dann gähnte er laut und bemerkte: „Das Problem können wir jetzt nicht lösen. Vielleicht freuen wir uns einfach, dass wir das Zelt und die Decken haben und schlafen ein bisschen. Wer weiß, was der Tag morgen bringt. Wir sitzen hier offensichtlich mitten in der Prärie und haben keine Ahnung, wie wir hier wegkommen oder wie wir wieder aus der Geschichte kommen.“ Eine traurige Mia und ein wütender Leon nickten zustimmend. Jeder schnappte sich eine Decke und sie versuchten beim Liegen ausreichend Platz zu haben.  Die beiden Kinder schliefen sofort ein, so erschöpft wie sie waren. Wilhelm wiederum hing noch eine Weile seinen Gedanken nach. Er versuchte irgendwie sich die Geschichte von Winnetou 2 zusammenzureimen, aber er konnte sich überhaupt nicht mehr an den Inhalt erinnern. Es war einfach zu lange her, dass er das Buch gelesen hatte.

Wilhelm hatte sich in frühen Jahren mit amerikanischer Geschichte beschäftigt und hatte die USA auch schon mal bereist. Ihm machte Sorge, dass es viel Prärie in der gesamten USA gab und er nicht die leiseste Ahnung hatte, in welchem Teil sie gelandet waren. Über dieser ganzen Grübelei fielen Wilhelm auch die Augen zu.

Als die Sonne aufging und der Morgentau langsam am Zelt runterlief, schliefen sie immer noch tief und fest. Sie hörten das Trappeln eines herannahenden Pferdes nicht und nahmen nicht wahr, dass jemand vor dem Gestrüpp vom Pferd stieg.