Das Sams

Wilhelm, was sollen wir bloß machen?“, fragte Mia. „Mia, wenn ich eine Antwort wüsste, würde ich sie euch sagen. Ich weiß auch nicht, warum in diesem Jahr alles schiefläuft. Ehrlich so habe ich mir das nicht vorgestellt.“ Mia wusste genau worauf Wilhelm hinauswollte. Leon saß abseits von ihnen und wusste nicht so richtig, was er von der Situation halten sollte. Mia hatte nie von Schwierigkeiten erzählt. Es hatte sich immer so einfach angehört.

Wieder saßen sie auf dem Boden. Wilhelm sehnte sich einmal mehr nach seinem gemütlichen Ohrensessel. Doch im Moment gab es wichtigeres. „Warum können wir es nicht riskieren, uns die Schriftrolle selbst zu holen? Wir wissen doch wo sie liegt.“, kam es aus Leons Ecke. Wilhelm wusste, dass sie Leon seine Unwissenheit nicht zum Vorwurf machen durften. Schließlich war der Bücherschrank Leon nicht so vertraut wie ihm und Mia. Mia setzte gerade zu einer Antwort an, die wahrscheinlich nicht sehr freundlich sein würde.

Daher stoppte er Mia mit einem Handzeichen und übernahm die Antwort selbst: „Leon, eine der wichtigsten Regeln der BOKX lautet, dass uns niemand sehen darf, wenn wir in den Büchern sind. Denn sollte uns jemand sehen, würde das Einfluss auf die Geschichte haben. Sie würde ganz anders weiterlaufen, und nicht so wie der Autor sie eigentlich geschrieben hatte. Im letzten Jahr haben Mia und ich diese Regel mehrmals gebrochen. Das Ergebnis war, dass in den Geschichten ein riesiges Chaos ausbrach. Zum Beispiel hatte Herr Tumnus sein Schloss in allen möglichen Farben angemalt, weil er von der Villa Kunterbunt gehört hatte.“

Er fuhr weiter fort: „Für Notfälle hatten wir einen Vergessenszaubertrank von Dumbledore geschenkt bekommen. Dadurch waren wir in der Lage dafür zu sorgen, dass uns einige der Charaktere wieder vergaßen. Trotzdem war das Chaos viel zu groß. Bevor wir Narnia verließen, sicherte mir Aslan zu, dass alles Ordnung käme und wir beruhigt sein könnten. Ich kann nur für mich sprechen, aber ich denke Mia geht es ähnlich. Die blaue Tür, durch die Lucy und Herr Tumnus gelangten, hat mich ziemlich irritiert.“ „Die hätte nicht da sein dürfen!“, warf Mia ein, „Genau die Tür hätte nicht da sein dürfen. Du willst jetzt wissen, was eine blaue Tür mit der Schriftrolle zu tun hat? Ich weiß es nicht!“

Wilhelm schaute zu Leon, der dasaß und auf jedes Wort achtete. Selten hatte er den Jungen so aufmerksam gesehen. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was ist so gefährlich daran, dass wir versuchen die Karte zu holen?“ Wilhelm nickte bevor er fortfuhr: „Lass mich bitte zu Ende reden! Vielleicht verstehst du es dann. Der Punkt ist, dass ich keine Ahnung habe, welche Konsequenzen es haben würde, wenn eure Eltern uns sehen würden. Das macht mir Angst. Ich glaube nicht, dass sie ganz „Cool“ bleiben und uns freundlich zuwinken würden!“ „Nee, die würden anfangen zu schreien und die Polizei holen.“ Leon musste bei diesem Gedanken anfangen zu lachen. „Leon, das ist nicht komisch! Stell dir vor, sie würden nach uns greifen und aus dem Schrank herausholen. Wer sagt dir denn, dass wir außerhalb des Schrankes wieder unsere normale Größe erreichen. Nachher bleiben wir unser ganzes Leben lang so klein wie Zinnsoldaten. Das wäre echt furchtbar.“, sagte Mia leise.

So ähnlich hatte Mia es schon mal gesagt. Genau wie vorhin gefiel dieser Gedanke Leon überhaupt nicht. „Aber warum soll uns jemand helfen? Denkt ihr, dass die Gestalten aus den Büchern nicht gesehen werden können?“ „Leon, dass ist eine sehr gute und berechtigte Frage. Leider kann ich wieder nur eine Vermutung äußern. Ich glaube, dass wir gesehen werden können, weil wir eigentlich zu der Welt außerhalb des magischen Bücherschrankes gehören. Durch die Magie des Schrankes sind seine Bewohner geschützt und werden von der Welt da draußen nur als Schatten wahrgenommen. Da die meisten Menschen, wie auch eure Eltern, nicht an Magie glauben, denken sie über die Schatten gar nicht nach.

Inzwischen denke ich allerdings auch, dass die Bewohner sich auch an Spielregeln halten müssen. Das könnte auch das Verhalten von Lucy und Karlsson erklären. Ich bin überzeugt davon, dass sie uns geholfen hätten, insbesondere Lucy.“ Wilhelm hatte vom vielen Reden schon eine ganz trockene Kehle. Er bat Mia um die Wasserflasche und trank einen ordentlichen Schluck. So lange Monologe waren alles andere als typisch für ihn. Doch die beiden hingen an seinen Lippen. Sie fühlten sich ernst genommen. Es war klar, dass sie ein riesiges Problem hatten, aber Wilhelm behandelte sie als Partner. Nur gemeinsam konnten sie das Problem lösen! „Wilhelm, ich verstehe nicht, warum Lucy und Karlsson uns nicht geholfen haben. An was für eine Regel müssen sie sich halten?“ wollte Lucy wissen. „Da bin ich mir nicht sicher. Im normalen Alltag schauen die Menschen nur kurz in den Schrank. Die Bewohner können sich hinter den Büchern verstecken und werden, wie gesagt, bestenfalls als Schatten wahrgenommen. Aber jetzt stehen eure Eltern vor dem Schrank, haben die Tür geöffnet und schauen ganz genau hin. Um die Schriftrolle zu holen, hätten Lucy und Karlsson in den vorderen Bereich gemusst und hätten so gesehen werden können.

So wie uns die Charaktere in den Büchern nicht sehen dürfen, dürfen sie wahrscheinlich nicht von außen gesehen werden. Das ist meine Hypothese.“ „Deine was?“, riefen die Zwillinge gleichzeitig. Wilhelm grinste sie an: „Meine Annahme!“ „Sag das doch gleich!“ Warum benutzten die Erwachsenen bloß immer Worte, die kein Mensch verstand. Leon war noch nicht so ganz einverstanden mit der Hypodingsbums von Wilhelm. Es hakte irgendwie. „Wilhelm, wieso ist es denn kein Problem, dass wir sie hier treffen?“ „Vielleicht ist der Bereich hier hinten im Regal so eine Art „neutrale Zone.“ Jetzt kam Mia nicht mehr mit. Sie fühlte sich wie in einer Doppelstunde Mathe. Sie war noch nie eine große Theoretikerin gewesen. Theorien sind so was von langweilig. „Eine neutrale Zone? Was bitte schön soll das denn sein?“ „Vielleicht meint Wilhelm mit der neutralen Zone einen Bereich, indem es keine negativen Konsequenzen gibt. Die Geschichten werden nicht umgeschrieben, da ihre Figuren außerhalb ihrer Bücher sind. Die Magie des Schrankes wird nicht verraten, weil wir im Schrank sind und somit ein Teil der Magie sind. Stimmts Wilhelm?“ „Ganz genau, Leon! Ich glaube, du fängst an die Magie zu verstehen.“ Wilhelm freute sich sehr über Leons Antwort. Er hätte es nicht besser sagen können. Inzwischen war Wilhelm auch froh darüber, dass Leon mit dabei war. Es war kein Fehler gewesen ihn mitzunehmen. Man konnte regelrecht dabei zuschauen, wie sich Leon entwickelte.

„Das heißt also, wir bräuchten jemanden oder etwas, das uns die Schriftrolle bringen kann, ohne den vorderen Bereich zu betreten.“ murmelte Mia, „Wilhelm, das kann nicht funktionieren.“ „Mia, ich weiß doch auch nicht, wie das klappen soll!“ Leon war kurz davor zu verzweifeln. Es sollte jetzt endlich weiter gehen. Vor allem wollte er endlich in sein Buch. Er fing an herum zu gehen und leise vor sich hinzufluchen: „In diesem blöden, magischen Schrank musste es doch eine Lösung geben. Einen Umhang, der unsichtbar macht, wäre jetzt nicht schlecht. Ob sie Harry Potter nach seinem fragen könnten. Nee, das ging ja nicht, weil sie ja die Schriftrolle bräuchten, um in das Buch zu kommen. Wir drehen uns die ganze Zeit im Kreis!“

„Es sind drei,
ich esse Brei.
Sind es zwei,
esse ich ein Ei.“

Was war das denn? Sollte sich wieder eine Gestalt sehen lassen? Sie hatten alle drei die Stimme gehört, die den idiotischen Reim gesprochen hatte. Da ertönte die Stimme auf ein Neues:

„Held Wilhelm
trägt einen Helm.
Die kleine Mia
schaut gerne Dia“

Mia lachte: „Ich kenne nur ein Wesen, dass so gerne reimt. Das klingt ganz nach dem Sams!“ Im letzten Januar hatte Wilhelm den Kindern die Bücher vom Sams vorgelesen. Es waren die einzigen Bücher, auf die sich die Kinder einigen konnten. Sie hatten viel gelacht damals. „Ja, aber das Sams kann wesentlich besser reimen.“ Erneut hörten sie die Stimme:

„Finde ich keinen Reim,
gehe ich Heim:
Ich bin kein Eimer,
sondern ein Reimer.“

Das war schon besser. Sie schauten sich in alle Richtungen um, aber konnten niemanden sehen. Leon war jetzt so genervt, dass er einfach laut in den Bücherwald rief, dass sich der Besitzer der Stimme doch zeigen sollte.

„Der Leon ist ein Löwe
und kreischt wie eine Möwe“

„Ich weiß, dass du das Sams bist und ich muss dir sagen, dass deine Reime schon mal besser waren!“, rief Leon wütend. Siehe da, es kam tatsächlich jemand hinter einem der Bücher hervor. Es gab keinen Zweifel. Das Sams höchstpersönlich. „Was gefällt Dir an meinen Reimen nicht?“, fragte es Leon. „Sie sind einfach nicht sehr originell. Du hast schon besser gereimt.“ Das Sams fing an zu schluchzen. „Bitte nicht weinen! Ich habe es nicht böse gemeint. Aber ich bin total genervt.“, versuchte Leon das Sams zu beruhigen.

„Warum bist Du genervt?“ „Seit Ewigkeiten überlegen wir, wie wir an die Schriftrolle kommen können.“ „Wozu braucht ihr die Schriftrolle?“, wollte das Sams wissen, „Damit wir weiterkommen. Im Moment können wir gar nichts tun.“ erklärte ihm Wilhelm. Das Sams schaute von Wilhelm auf Mia. Von Mia auf Leon und wieder zurück auf Wilhelm. „Ich kann euch helfen. Allerdings darf ich euch nicht verraten wie. Darauf müsst ihr selbst kommen!“ Das Sams fing an hin und her zu gehen. „Warum fangt ihr nicht an nachzudenken. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Mein Papa wartet schon auf mich.“ Mia schaute sich das Sams genau an. Etwas stimmte nicht. Was war es nur? Jetzt bleib doch mal stehen!“ „Warum?“  Ungeduldig sagte Mia: „, Weil ich mir wünsche, dass ich dich ganz genau ansehen kann. Irgendetwas stimmt nicht.“ Tatsächlich blieb das Sams vor Mia stehen. Diese betrachtete es sorgfältig und dann wusste sie, was nicht stimmte. „Deine Punkte sind nicht blau, sondern grün!“ Das Sams war begeistert: „Wenigstens Du kannst denken. Sehr schön! Ich glaube, Du bist auf der richtigen Spur.“

Im nächsten Augenblick stand Leon neben Mia. Er hatte sich erinnert, dass das Sams alle Wünsche erfüllte, solange Punkte da waren. „Warum hast du jetzt grüne Punkte und keine blauen mehr?“, wollte Leon wissen. „Ist doch ganz klar. Sobald ich das Buch verlasse, ändert sich die Farbe der Punkte. Das ist eine chemische Reaktion. Schuld daran ist der viele Sauerstoff hier im Schrank.“ „Heißt das, dass wir uns was wünschen können?“,Leon war ganz aufgeregt. „Versuchs doch!“ Leon brauchte nicht lange zu überlegen: „Ich wünsche mir die neuste Playstation mit allen neuen Spielen!“ Das Sams schien von dem Wunsch nicht begeistert zu sein. Trotzdem lag nur einen Augenblick später die gewünschte Playstation vor Leons Füssen. „Warum funktioniert sie nicht?“ Das Sams schüttelte den Kopf „Im Schrank gibt es keinen Strom. Mein Papa ist auch immer so ungenau mit seinen Wünschen.“ Wilhelm konnte es nicht glauben. Natürlich, die Lösung für ihr Problem stand direkt vor ihnen. Er wusste auch, was das Sams gemeint hatte. „Darf ich mir auch etwas wünschen?“, wollte er wissen, „Na, klar. Aber überlege gut, was du dir wünschst. Ich habe nicht mehr so viele Punkte.“ Mia zählte nur noch drei Punkte. Hoffentlich wünschte sich Wilhelm das Richtige!

„Ich wünsche mir, dass ich die Schriftrolle in meiner linken Hand halte.“, Und schon hielt Wilhelm die Schriftrolle in der Hand. Sie waren gerettet! Endlich konnten sie ihre Reise durch die Bücher beginnen. Mia und Wilhelm strahlten sich an. Der Einzige, der nicht glücklich war, war Leon. Er motzte die ganze Zeit vor sich hin, weil seine Playstation nicht funktionierte. „Leon ist halt doch ein Knallkopp.“, dachte Mia. Sie konnte sich doch jetzt auch was wünschen. Nur was? Die Rolle hatten sie endlich. Da hatte sie eine Idee. Warum sollten sie jetzt noch Ewigkeiten nach Leons Buch suchen? Es ging doch viel einfacher, sie sprach laut: „Ich wünsche mir, dass Wilhelm, Leon und ich in Winnetou 2 gelangen!“ Augenblicklich wurde es dunkel und vor Schreck griff Leon nach Mias Hand.