Unbekannte Flugobjekte

Leon war genervt von dem Hubschrauberlärm. „Wieso wird der nicht leiser?“, er versuchte sich darauf zu konzentrieren eine Lösung zu finden. Doch schon wenige Minuten später sprang er auf und fing an wie ein Rohrspatz an zu schimpfen: „Kein normaler Mensch kann bei einem solchen Krach nachdenken. Nervt euch der Lärm nicht?“

Wilhelm war so in Gedanken vertieft gewesen, dass er gar nichts mehr wahrgenommen hatte. Erst Leons Geschimpfe holte ihn zurück. Manchmal war es doch gut, wenn die Ohren nicht mehr ganz so gut funktionierten. Mia hatte den Lärm ausgeblendet, indem sie sich ganz fest die Ohren zu gehalten hatte. „Ich verstehe nicht, warum der Hubschrauber nicht schön längst außer Hörweite ist.“ schimpfte Leon vor sich hin. Leon hatte Recht. Sie hätten ihn gar nicht mehr hören dürfen.

Jetzt hörte Mia genauer hin: „Es ist merkwürdig, aber ich habe das Gefühl, dass der Hubschrauber sich entfernt und dann wiederkommt. So als ob er im Kreis fliegen würde. Ich glaube, er ist hier im Schrank!“ Leon schaute Mia an, als ob sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte: „Spinnst du? Ein Hubschrauber hier im Schrank. Das geht nicht!“ „Natürlich geht das! Du begreifst es nur nicht.“ beleidigt verzog sich Mia in eine andere Ecke. „Kinder, jetzt hört bitte auf, euch zu streiten. Ich finde auch, dass es sich so anhört, als ob ein UFO im Kreis fliegen würde, und ich stimme Mia zu, es ist hier im Schrank!“

Leon starrte zu Wilhelm hinüber. Ein UFO? „Wieso UFO?“ „Leon überleg doch mal. Wir sind so klein, daher empfinden wir Geräusche viel lauter als sie tatsächlich sind. Es hört sich für uns an wie ein Hubschrauber. Aber draußen scheint man überhaupt nichts zu hören. Zumindest zeigen eure Eltern keine Reaktion, die auf Lärm hindeuten würde.“ Das klang logisch für Leon, aber er wollte Wilhelm nicht sofort zustimmen. „Du hast aber immer noch nicht erklärt, warum es ein UFO sein soll.“ „Ganz einfach! Wir können nicht genau sagen, wodurch der Lärm verursacht wird. Wir vermuten doch nur, dass es ein Hubschrauber ist. Solange wir es nicht klar bestimmen können, handelt es sich um ein unbekanntes Flugobjekt.“ Auch diese Erklärung klang logisch. So musste Leon Wilhelm zustimmen, was ihm gar nicht gefiel. Alle drei verfielen wieder ins Schweigen.

Leon konzentrierte sich jetzt auf dies nervtötende Geräusch. Mia hatte Recht. Das Geräusch kam und ging. Es hörte sich tatsächlich so an. „Tut mir leid, dass ich dich beleidigt habe.“ Mia drehte sich zu Leon um und auf ihrem Gesicht lag großes Erstaunen. Es kam selten genug vor, dass Leon sich entschuldigte. Eigentlich nur, wenn Mama und Papa ihn dazu aufforderten. Aber aus freien Stücken kam es so selten vor, dass Mia es an einer Hand abzählen konnte. „Entschuldigung angenommen!“

„Lass uns doch mal überlegen, ob wir Bücher kennen, in denen Fluggeräte vorkommen.“ Wilhelm und Leon fanden die Idee super. Anstatt weiter darüber zu grübeln, wie sie die Schriftrolle zurückbekommen könnten, grübelten sie jetzt darüber, welche Bücher mit Fluggeräten sie kannten.

„Mir fällt da nur das Buch ein, indem das Fliewatüüt eine Rolle spielt.“ kam es von Wilhelm. „Einem was?“ Leon bezweifelte immer mehr, dass mit Wilhelm alles in Ordnung war. Warum eigentlich? Wilhelm hatte doch bisher recht mit dem, was er gesagt hatte. Sowohl seine Überlegungen zum Lärm als auch die zum „UFO“ waren richtig. Trotzdem kam Leon nicht immer ganz mit. Vielleicht hätte er doch mehr lesen sollen. Ihm wurde immer mehr bewusst, dass er eine ordentliche Leselücke hatte. Aber er konnte niemanden dafür verantwortlich machen. Es hatte ihn nie jemand gezwungen, seine Zeit zwischen Playstation und Fernseher zu verbringen. Da kam ihm plötzlich ein völlig fremder Gedanke. Sollte das die Magie der Bücher sein, dass man so viele Welten entdecken und Abenteuer erleben konnte? Vielleicht sollte er sich einfach auf diese Magie einlassen. Die Welt der Bücher bestand nicht nur aus Winnetou und Old Shatterhand. So plötzlich, wie ihm der Gedanke gekommen war, so schnell war er auch wieder weg.

„Wilhelm, was redest Du denn da? Ein Fliewatüüt gibt es doch gar nicht. Oder habe ich etwas nicht mitbekommen.?“ Trotzig schaute Leon zu Wilhelm. Statt Wilhelm sagte Mia: „Leon ich erkläre es dir jetzt zum hundertsten Mal. In der Welt der Bücher kann alles passieren! Man kann sich darauf einlassen oder auch nicht. Aber ich würde auch gerne wissen, was ein Fliewatüüt ist. Ist das ein Fluggerät?“

Wilhelm atmete noch mal tief ein und überlegte, wie die Geschichte noch mal war. Es war Ewigkeiten her, dass er das Buch vorgelesen hatte. Er konnte nicht mehr sagen, ob er es Benjamin oder Katharina, eines der Kinder seiner Schwester, vorgelesen hatte. Schnell lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Fliewatüüt. „Also das Fliewatüüt ist eine Erfindung eines Jungen Namens Tobbi. Das Besondere an seiner Erfindung ist, dass das Fliewatüüt fliegen, im Wasser schwimmen und auf der Straße fahren kann. Eines Nachts bekommt Tobbi Besuch von Robbi, einem Roboter. Es ist gerade dabei seine Roboter-Prüfung abzulegen. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte Robbi das Fliewatüüt gebaut. So ging es dann auf eine große Abenteuerreise für Tobbi und Robbi im Fliewatüüt. Das Tollste ist aber, dass es mit Himbeersaft angetrieben wird.“ „Das Fliewatüüt fliegt tatsächlich?“ Leon war ganz begeistert von der Idee. „Weißt Du noch, was für Abenteuer sie erlebt haben?“ Da musste Wilhelm passen. Doch er hatte eine Idee: „Leon, was hälst Du davon, dass wir im Bücherschrank nachschauen, ob das Buch drinsteht? Vorausgesetzt wir kommen hier jemals wieder raus.“ Schob er etwas zerknirscht hinterher. „Was machen wir, wenn das Buch nicht in der BOKX ist?“ „Dann gehen wir in die Stadtbücherei und leihen es auch!“ schlug Mia vor. Denn sie wollte auch ganz im Detail wissen, was das für eine Geschichte war.

Nach wie vor hörten sie den Lärm vom „UFO“. Aus irgendeinem Grund war Mia sich sicher, dass es sich bei dem „UFO“ nicht um das Fliewatüüt handelte. Eigentlich schade, denn sie hätte gerne Tobbi kennengelernt. Sie fand einfach großartig, dass jemand vor rund 50zig Jahren schon so umweltbewusst gedacht hatte. So sehr Mia auch nachdachte, es fielen ihr keine Bücher ein, in denen ein Hubschrauber oder ein anderes Fluggerät eine Rolle spielte. Halt, natürlich kannte sie ein Buch, in dem geflogen wurde. Wie konnte sie es nur vergessen. „Könnt ihr euch vorstellen, dass Karlsson vom Dach hier im Schrank herumschwirrt? Das wäre doch „Supercalifragilisticepialigetisch“.“ „Oh, nein! Nicht schon wieder.“ stöhnte Leon. Er konnte es nicht mehr hören. Bis heute konnte er sich nicht erklären, was Mia bloß mit dieser Mary Poppins hatte. „Mia, warum fändest du es so super…und so weiter, wenn Karlsson hier herumschwirrt?“ fragte Leon neugierig. „Das ist doch klar wie Kloßbrühe. Denk doch mal nach! Wir könnten Karlsson bitten uns die Schriftrolle zu holen.“ „Stimmt, aber warum muss es dieser Angeber sein?“ seufzte Leon.

„Kinder, hört ihr das?“ Mia und Leon verstummten und lauschten. „Wilhelm, ich weiß ja nicht, was Du hörst, aber ich höre rein gar nix.“ „Genau Leon, es ist still. Kein Fluggeräusch mehr! Wie wunderbar ist diese Stille. Lasst sie mich bitte genießen!“ Wilhelm schloss seine Augen und genoss einfach die Stille. Mia und Leon wussten nicht, was sie davon halten sollten. Wie konnte man „Stille“ genießen. Mia machte sie Angst und Leon wurde ganz hibbelig.

Jedoch sollte Wilhelm die Stille nicht lange genießen können. Mit einem Mal hörten sie eine Stimme. Sie kam von dem blauen Buch, dass etwas weiter rechts von ihnen im Schrank stand. „Heisa Hoppsasa ihr drei! Es schien mir so als hätte ich meinen Namen vernommen. Wo kommt ihr denn her? Euch habe ich hier im Schrank noch nicht gesehen. Ich bin der weltbeste Leutekenner, den es gibt. Keiner kennt so viele Menschen wie ich.“ Vor ihnen stand ein kleiner, rundlicher Mann. Er hatte so etwas wie einen Propeller auf seinem Rücken.

„Das darf doch nicht wahr sein.“ rief Mia und lachte: „Genau so habe ich mir dich immer vorgestellt!“ Der kleine, rundliche Mann ging auf Mia zu, stellte sich vor sie: „Junges Fräulein, es ist äußerst unverschämt jemanden zu duzen, den man nicht kennt! Du kannst froh sein, dass Du mich getroffen hast. Ich bin der weltbeste Umgangsformen-Kenner.“ „Jetzt warst du selbst unverschämt, denn ich glaube nicht, dass du mich kennst. Also ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber ich kenne dich doch schon seit Ewigkeiten. Du bist Karlsson. Ich bin Mia und der da ist mein Bruder Leon.“ „Das kann nicht sein! Ich kenne alle kleinen Mädchen, die Mia heißen oder Jungen, die Leon heißen. Euch kenne ich aber nicht. Also lügst Du.“ Leon mochte diesen dicken, rundlichen Mann von Minute zu Minute weniger. Mia als Lügnerin zu bezeichnen war sein Vorrecht. Nur er durfte Mia als Lügnerin bezeichnen. „Wage es nicht noch mal meine Schwester zu beleidigen!“ „Oh, ist der kleine Zwerg gekränkt. Das war doch nur ein Spass. Verstehst du keinen Spass? Schade, ich bin der weltbeste Spassmacher. Einen besseren gibt es gar nicht. Aber wer ist der Alte da drüben?“ „Du unverschämter Kerl. Das ist Wilhelm!“ platzte es aus Leon heraus. „Ich und unverschämt? Da irrst du dich aber. Schließlich bin ich der freundlichste Mensch auf Erden. Ihr werdet keinen freundlicheren finden. Zu dem bin ich die Liebenswürdigkeit in Person.“ Mia musste laut lachen, da Karlsson sich genau wie im Buch verhielt. Das dachte Leon auch und fand sich bestätigt in seiner Meinung. Dieser Karlsson war ein Angeber ohne gleichen.

Wilhelm schaute sich den kleinen, rundlichen Mann sehr interessiert an. „Alter“ war zwar nicht die höflichste Anrede, aber er nahm es ihm nicht übel. Vielmehr freute es Wilhelm, dass Leon ihn so verteidigt hatte.

Vielleicht kam dieser kleine nervende Kerl wirklich wie gerufen. Er könnte die Lösung sein, nach der sie die ganze Zeit gesucht hatten. „Karlsson, könntest Du uns helfen?“ fragte Wilhelm. Karlsson strahlte und erwiderte: „Natürlich kann ich euch helfen. Ich bin schließlich der größte, allerbeste Helfer der Welt! Wie kann ich euch helfen?“ „Siehst Du das da?“ fragte Mia, während sie gleichzeitig auf die Schriftrolle zeigte. „Klar, sehe ich das Ding da. Schließlich habe ich die weltbesten und schärfsten Augen, die man haben kann.“ „Dann dürfte es ja kein Problem für dich sein, uns die Schriftrolle zu holen!“ kam es schnippisch von Leon. „Es kann gar kein Problem sein, denn schließlich bin ich der Beste, schnellste und sorgfältigste Holer der Welt!“ Mia klatschte in ihre Hände und bat Karlsson die Schriftrolle zu holen. „Eine Kleinigkeit für den weltbesten Holer.“ sagte Karlsson und drückte auf einen kleinen Knopf neben seinem Bauchnabel. Sofort sprang der Motor auf seinem Rücken an. Wenige Aufgenblicke später schwebte Karlsson über ihren Köpfen. Jetzt war auch definitiv klar, woher der Lärm gekommen war. Der Verursacher war tatsächlich Karlsson gewesen.

Auch wenn Karlsson sich selbst als den besten Holer bezeichnet hatte, glaubte Leon nicht daran. Er traute ihm nicht. Sein Misstrauen wurde im nächsten Augenblick bestätigt. „Es tut mir wirklich sehr leid, aber ich muss jetzt dringend noch meinem Haus auf dem Dach schauen. Mal sollte es nicht glauben, aber es regnet durchs Dach in meinem Haus.“ und weg war er. Sie hörten noch eine Weile das Geräusch des Motors. „Oh, dieser Idiot!“ regte sich Leon auf: „von wegen es regnet durchs Dach! Der wollte uns doch gar nicht helfen.“ Leon konnte sich gar nicht mehr beruhigen. „Ja, wir hätten es besser wissen müssen. Er hat sich genauso verhalten, wie er im Buch beschrieben wird.“ seufzte Wilhelm. Mia hatte beschlossen, dass sie das Buch nicht länger in ihrem Bücherschrank haben wollte. Warum Leon sich so aufregte, verstand sie allerdings nicht. Er hatte schon so oft ein ähnliches Verhalten gezeigt.

Nach diesem kurzen Abenteuer waren sie keinen Schritt weiter. Vielleicht mussten sie das Risiko doch eingehen und die Rolle selbst holen. Es wäre so wunderbar, wenn sie sich die Schriftrolle einfach herbeiwünschen könnte. Doch eine Wunschmaschine hatten sie nicht.