Wo ist die Schriftrolle?

Hier hinter das große Buch gelang sehr wenig Tageslicht und dementsprechend dunkel war es. Leon konnte es nicht fassen wie viele verschiedene Bücher es gab. Da standen dicke und dünne, große und kleine, mit einfarbigen oder mehrfarbigen Einbänden. Bücher über Bücher! „Mia, hast du schon mal so viele Bücher gesehen?“ Mia sah ihren Bruder an und schüttelte nur den Kopf. Er wusste doch, dass sie die letzten zwei Jahre mit Wilhelm hier im Bücherschrank gewesen war. Außerdem ging sie jede Woche mit Wilhelm in die Stadtbücherei. Am Anfang hatte sie Leon noch gefragt, ob er mitkommen wollte. Aber er war nicht interessiert, denn meistens war er gerade dabei den nächsten Level zu erreichen. So hatte sie ihn irgendwann nicht mehr gefragt.

Und jetzt wollte er tatsächlich wissen, ob sie schon mal so viele Bücher gesehen habe: „Natürlich, und sogar noch viel mehr in der Stadtbücherei. Da stehen alleine in der Kinderbuchabteilung mehr Bücher als hier im Bücherschrank! Aber das kannst Du ja nicht wissen, wenn du immer dem nächsten Level hinterher bist.“ Leon wurde nachdenklich und beschloss, dass er das nächste Mal mitgehen würde.

Wilhelm schüttelte nur den Kopf. Warum mussten sich die beiden bloß immer streiten? Er hatte sich mit seiner Schwester nie gestritten! Bei dieser Erinnerung musste er laut lachen, denn er wusste genau, dass sie sich mehr als einmal gestritten hatten. Manches änderte sich halt nie. „Was hat Wilhelm denn? Ist ihm die Reise in den Schrank nicht bekommen?“, dachte Mia und schaute Wilhelm mit angsterfüllten Augen an.

„Los ihr beiden! Auf in neue Abenteuer!“ „Ja, auf zu Winnetou!“, jubelte Leon, um im nächsten Moment zu verstummen. Es war ja nicht möglich, weil Mia das Buch zu Hause vergessen hatte. Also keine Abenteuer mit Winnetou und Old Shatterhand. Wütend schaute er zu Mia hinüber. „Was ist los mit dir?“ Mia verstand nicht, warum Leon so wütend war, aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie Leon nicht mehr erklären konnte, wie der Spruch auf der Schriftrolle gemeint war. „Leon, erinnerst du dich noch, was auf der Schriftrolle stand?“ „Klar, aber das ändert nichts daran, dass Du das Buch vergessen hast! Wie soll ich denn jetzt zu Winnetou und Old Shatterhand kommen?“ „Mensch Leon, wann kapierst du endlich, dass ich das Buch nicht vergessen habe?“ „Doch du hast es vergessen! Als ich dich vorhin danach gefragt habe, hattest du es nicht!“

Wilhelm wollte nicht, dass dieser Streit eskalierte und mischte sich ein: „Leon, jetzt halte mal die Luft an. Mia hat das Buch mitgenommen!“ „Hat sie nicht.“, widersprach Leon umgehend. Aber Wilhelm merkte ihm an, dass er sich seiner Sache nicht mehr so sicher war. „Leon, in der Schriftrolle stand, dass alles klein wird, was in den Schrank hineinkommt. Schau uns drei doch an! Wir sind nur noch so groß wie Zinnsoldaten. Na, ja vielleicht sind wir auch etwas größer. Aber das war nicht der entscheidende Teil in der Mitteilung. Wichtig ist, was dann folgte:

„Nur Bücher bleiben groß,
dass war schon immer so!“

Das bedeutet, dass irgendwo hier im Schrank dein Buch steht. Wir müssen es nur finden!“ Leon verstummte und dachte über das Gesagte nach. Das hieß, sie mussten nur das Buch finden und er konnte endlich Winnetou und Old Shatterhand treffen. Aber das würde ewig dauern bei all den Büchern, die hier rumstanden.

„Du Wilhelm gibt es einen Weg, wie wir das Buch ganz schnell finden können?“, fragte Leon. Wilhelm musste mal wieder nachdenken und das dauerte ein wenig. „Warum müssen Erwachsene bloß immer nachdenken?“, dachte Leon. Aber da kam endlich die Antwort von Wilhelm: „Ich denke, dass wir uns mit der Schriftrolle zumindest zum Buch wünschen können. Es ist aber auch möglich, dass wir uns direkt ins Buch hinein wünschen können.“ Na, das war doch mal eine klare Aussage! „Dann lass und doch die Schriftrolle nehmen und auf geht es!“ Leon war so voller Vorfreude, dass er es kaum noch aushielt. „Dann gibt mir doch mal die Schriftrolle!“, forderte Wilhelm die Kinder auf. Aber nichts passierte, denn Mia dachte, Leon hätte sie und umgekehrt dachte Leon, Mia hätte sie. Wilhelm wiederholte seine Forderung, aber ihn beschlich ein ungutes Gefühl.

Auch Mia wurde es mulmig, denn ihr war es genau so wie Wilhelm klar, dass der Verlust der Schriftrolle einer Katastrophe gleichkam. Sie würden nicht nur keine Abenteuer in Büchern erleben, sondern sie würden den Bücherschrank nicht mehr verlassen können. Nein, dass durfte nicht sein! Wilhelm schaute von Mia zu Leon und wieder zurück. „Wann hatten wir die Schriftrolle zuletzt?“, fragte Wilhelm mit zitternder Stimme. Mia überlegte: „Das war als uns die Rolle zeigte, was mit Büchern passiert, wenn sie in den Bücherschrank kommen.“ „Und wer hatte sie zuletzt in der Hand?“, fragte Wilhelm als nächstes. „Ich glaube, dass ich sie in der Hand hatte.“, stammelte Leon. Er kannte die Bedeutung der Schriftrolle nicht so wie Wilhelm und Mia. Doch er spürte deutlich, dass das Verschwinden nicht so gut war und sie in ernsthaften Schwierigkeiten steckten. „Und was hast du mit ihr gemacht?“, fragte Mia mit Zorn in der Stimme. „Ich glaube, dass ich sie verloren habe, als wir uns verstecken mussten.“ Wilhelm merkte, dass Mia kurz davor war zu explodieren, und das musste er verhindern. Denn einen erneuten Geschwisterstreit konnten sie in ihrer momentanen Situation nun wirklich nicht gebrauchen. Und bevor Mia etwas sagen konnte, sagte er: „Jetzt haben wir ein ernstes Problem, aber wir brauchen eine Lösung. Ich vermute, dass die Rolle vorne im Bücherschrank liegt. Zum Glück ist sie so klein, dass sie keiner von außen sehen kann. Auf der anderen Seite kann aber keiner von uns dreien sie holen, weil eure Eltern immer noch vor dem Schrank stehen. Sie könnten uns sehen, und dass würde wahrscheinlich nur noch mehr Probleme schaffen! Wir brauchen also Hilfe. Nur weiß ich nicht, wo wir die herbekommen sollen.“

Nach dieser Ansprache setzte er sich auf den Boden des Regales und musste erstmal tief durchatmen. „Vielleicht treffen wir ja jemanden! Denk an letztes Jahr. Da habe ich doch Kalle Blomquist getroffen.“ „Stimmt Mia, aber du vergisst, dass er aus seinem Buch gefallen ist, als jemand das Buch aus dem Bücherschrank nahm. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Figuren ihre Bücher verlassen können.“ Da hatte Wilhelm wohl recht, aber Mia wollte einfach nicht aufgeben. Sie hatten es wieder in den Schrank geschafft. Und sie würden wieder Abenteuer erleben. Daran glaubte Mia ganz fest. Sie war sich sicher, dass der Bücherschrank Hilfe schicken würde.