Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 3: Geheimnisvolle Geschenke

Ihre erste Nacht auf einer Sonnenblume hatten Mia und Wilhelm erholsamer erlebt, als sie es sich vorgestellt hätten. Einmal waren sie kurz aufgewacht, als es unter ihnen im Wald zu rascheln und leise zu knacken begann. Nachdem sie aber erkannt hatten, dass der nächtliche Lärm nur von einem harmlos aussehenden, weißen Kaninchen, das eine Weste trug, ausgegangen war, waren sie schnell wieder eingeschlafen.

Die Sonne war bereits aufgegangen, als Wilhelm seinen Kopf von Mias Rucksack erhob, der ihm in der Nacht als Kissen gedient hatte. Mia hatte er mit seinem Wintermantel zugedeckt, denn kalt war es hier im Wunderland auch über Nacht nicht geworden. Der Morgen war noch nie Wilhelms Lieblingstageszeit gewesen, genaugenommen war er sogar ein ziemlicher Morgenmuffel. Er brauchte erst einige Minuten, um wachzuwerden, also saßen sie erst noch einige Zeit gemeinsam in der Sonne und besprachen, welche Richtung sie einschlagen sollten. Schließlich entschieden sie sich, einen kleinen Trampelpfad entlangzugehen, der zwischen einigen Bäumen hindurch aus dem Wald hinausführen würde und machten sich auf den Weg.

Sie folgten dem Pfad einige Zeit lang, als ihre Umgebung sich nach und nach zu verändern begann. Die hohen Bäume und dichten Gebüsche wurden abgelöst von allerlei Blumen und großen Pilzen mit Hüten in allen Farben des Regenbogens. Einer dieser Pilze, einer mit leuchtend orangem Hut und kleinen weißen Punkten, war besonders hochgewachsen. Über ihm stiegen in regelmäßigen Abständen kleine Rauchwölkchen auf.

„Komm mit, Willi!“, sagte Mia, nahm Wilhelm an der Hand und zog ihn in die Richtung, in der der übergroße Pilz stand. Da sie zu klein war, um über den Rand seines Hutes zu schauen, erhaschte Wilhelm zuerst einen Blick auf den Verursacher der Wölkchen – es war eine blaue Raupe, die mit schläfrigem Blick und verschränkten Armen an einer Wasserpfeife zog. Für eine Raupe war sie ziemlich groß, Wilhelm schätzte sie auf ungefähr acht Zentimeter.
Wilhelm hob Mia hoch, damit auch sie die Raupe sehen konnte.

„Hallöchen!“, sagte Mia strahlend und die Raupe schrak zusammen, verschluckte sich am Rauch und hustete kurz. „Da seid ihr ja.“, antwortete sie mit verschlafener Stimme, nachdem sie sich wieder erholt hatte. Dann zog sie erneut an ihrer Wasserpfeife, was ein lautes, blubberndes Geräusch verursachte. Langsam blies sie den Rauch aus und wies dann mit vier oder fünf ihrer linken Beine nach rechts, „Für euch.“. Mia und Wilhelm wandten ihre Köpfe in die angedeutete Richtung und sahen, dass dort einige Gegenstände zu liegen schienen, die von einem weißen Leinentuch bedeckt waren. Wilhelm fragte sich, ob die Raupe von dem Tuch oder den Gegenständen darunter gesprochen hatte. „Nicht das Tuch, Wilhelm. Natürlich nicht das Tuch…“, gähnte die Raupe und Wilhelm fragte sich, ob er seinen Gedanken versehentlich laut ausgesprochen habe, aber auch Mia sah verwundert aus. Er setzte sie auf dem Hut des Pilzes ab und ging einige Schritte um seinen Rand herum. Dann zog er langsam das Tuch vom Pilz herunter.

„Der Bücherschrank!“, rief Mia entzückt, „In Puppengröße!“.
Tatsächlich befand sich unter dem weißen Tuch ein kleines Modell des Bücherschrankes, nicht höher als fünfzehn oder zwanzig Zentimeter. Er sah genauso aus wie der echte und ebenso wie beim echten Bücherschrank konnte man durch die zwei Türen auf gegenüberliegenden Seiten auf die winzigen Bücher im Inneren sehen. Mia griff gleich danach, um die Türen zu öffnen, was ihr jedoch nicht gelang. Wilhelm nahm ihr die kleine BOKX aus der Hand, doch auch er konnte die Türen nicht öffnen – sie bewegten sich nicht einmal ein winziges bisschen. Die beiden sahen erst sich und dann die Raupe fragend an, die inzwischen wieder eingenickt zu sein schien.

Neben der BOKX hatte sich noch ein weiterer Gegenstand unter dem Leinentuch befunden. Es war eine sehr dicke Rolle vergilbten Papiers, das von einer großen, roten Schleife zusammengehalten wurde. Wilhelm hatte den Eindruck, dass es sich um ein besonders altes und wichtiges Dokument handeln musste, denn viele alte, vergilbte Schriftrollen mit großen, roten Schleifen enthalten ganz besonders wichtige Botschaften. Also nahm er sie an sich, löste die Schleife und begann, das Schriftstück zu entrollen. Dann hielt er zögernd inne und fragte Mia, ob sie lieber vorlesen wolle.

„Ich kann noch nicht lesen!“, sagte Mia und klang dabei gleichermaßen knatschig und traurig. „Ich komme erst im Sommer in die Schule und meine Eltern haben keine Zeit, es mir vorher beizubringen.“ Wilhelm merkte gleich, dass er wohl einen wunden Punkt getroffen haben musste und bemühte sich, Mia zu trösten. „Bis zum Sommer ist es doch nicht mehr lang!“, sagte er, „Und außerdem wirst du dann sowieso feststellen, dass viel von dem, was geschrieben wird, einfach Quatsch und Unsinn ist.“. Mia kicherte. „Ich finde Quatsch lustig!“, sagte sie, „Aber was steht denn jetzt da?“.

Wilhelm rollte die Schriftrolle aus und begann, den Text zu überfliegen. „…Kaninchen…wundern…hinunter…Schlüsselchen…“ brabbelte er in seinen Schnurrbart. „Ich glaube, da fehlen ein paar Wörter.“ sagte Mia mit gerunzelter Stirn. Wilhelm sah sie an und rollte langsam mit den Augen. „Ich werde noch genauso verrückt wie diese ganze Reise hier…“, sagte er, „Das ist nur der Text zu ‚Alice im Wunderland‘.“. Seine tiefe Stimme klang ehrlich enttäuscht.

„Sind da denn keine Bilder?“ fragte Mia, die nicht verstehen konnte, weshalb sonst man sich nicht über eine Schriftrolle mit einer Geschichte freuen sollte. „Nein.“, antwortete er, „Und auch sonst nichts. Ich hatte gehofft, dass hier draufsteht, wie wir hier wieder rauskommen.“. Wilhelm rollte die Schriftrolle ein Stückchen weiter aus, aber außer dem bloßen Text von Lewis Carolls „Alice im Wunderland“, konnte er nichts Auffälliges entdecken. Der komplette Text war zeilenfüllend durchgeschrieben, es gab weder fettgedruckte Überschriften, noch Kapitelangaben und nicht einmal Absätze.
Nur unheimlich viele Buchstaben.

Wilhelm sank niedergeschlagen ins Gras, rollte die Schriftrolle wieder ein und sah Mia enttäuscht an, die über den Rand des Pilzes zu ihm heruntersah. „Das hilft uns nicht weiter, wir sehen doch selbst, was hier passiert.“, seufzte er.

Auch die Raupe war inzwischen zum Rande des Pilzes gekrochen und schaute auf Wilhelm herunter. „Du liest es nicht richtig.“, sagte sie verächtlich. Sie zog noch einmal sehr lang an ihrer Wasserpfeife, bevor sie das Mundstück aus dem Mund nahm und gemächlich eine Rauchwolke in Wilhelms Richtung blies, der sich verärgert räusperte und den Qualm mit seiner Hand davonwedelte.

Die Raupe legte das Mundstück ab und kroch langsam von dem Pilz herunter. „Ihr wisst schon, eine Seite macht euch größer, die andere macht euch kleiner.“, sagte sie. Dann gähnte sie ausgiebig und streckte sich. „Ja, das steht ja im Buch, aber wie kommen wir hier raus?“, Wilhelm wurde langsam ungeduldig, weil die Raupe für jeden ihrer Sätze einige Minuten brauchte. „Öffnet die BOKX! Den Schlüssel habt ihr bereits. Und lasst euch nicht zu viel Zeit.“, sagte die Raupe in strengem Tonfall und sah die beiden ernsthaft an. Auch jetzt hatte sie nach jedem Wort eine lange Pause gemacht.

„Geht hier hindurch.“, sie zeigte mit zwei ihrer linken Beine erst auf eine Tür an einem Baum, die Mia und Wilhelm zuvor gar nicht aufgefallen war, weil sie so winzig war, dass gerade eine Maus hindurchgepasst hätte. Anschließend wies sie bedeutungsvoll auf die Rauchwolken, die sich am Himmel langsam verflüchtigten. Als Mia und Wilhelm, die dem Rauch nachgesehen hatten, ihre Köpfe wieder senkten, war die Raupe verschwunden. „Der Piiiilz!“, hörten sie sie noch aus einer Richtung rufen, die sie nicht mehr genau bestimmen konnten.

Wilhelm hob Mia, die noch immer die kleine BOKX in den Armen hielt, von dem Pilz herunter und setzte sie neben sich ins Gras. Dann überflog er eilig die Schriftrolle, bis er in all dem Wirrwarr aus Buchstaben die Szene fand, in der Alice der Raupe begegnete. So wollte er herausfinden, welche Seite des Pilzes sie größer und welche kleiner machen würde. Leider konnte ihm der Text keine Antwort liefern, da Alice selbst es auch erst durch bloßes Ausprobieren herausgefunden hatte.

So brach er also an zwei gegenüberliegenden Stellen ein Stück vom Hut des Pilzes ab und nahm einen winzigen Bissen von einem der Stücke. Glücklicherweise hatte er auf Anhieb die richtige Seite erwischt, denn er wurde sofort ein wenig kleiner. Er brach ein Stückchen ab, das er Mia überreichte und dann noch ein weiteres für sich selbst. Dann wickelte er den Rest und auch das Stück, von dem sie wachsen würden, in zwei Blätter ein, das er von einem blühenden Busch gepflückt hatte. Beide Päckchen, die BOKX und die Schriftrolle steckte er in Mias Rucksack, den er sich anschließend über die Schulter warf. Dann aßen sie so viel von dem Pilz, bis sie durch die Tür hindurchpassen würden. Er schmeckte gar nicht schlecht und unter all diesen merkwürdigen Umständen, in die sie hereingeraten waren, erschien er ihnen wie ein ganz passables, wenn auch ziemlich spätes Frühstück.

„Dann lass uns mal sehen, wohin die führt!“, sagte Wilhelm. Er versuchte zuversichtlich zu klingen, was Mia, die seine Hand festhielt, ihm tatsächlich auch zu glauben schien. Sie drückte beherzt die Klinke herunter und beide machten einen großen Schritt durch die Tür.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder