Herr des Tores

Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Der Fahrer hielt vor einem großen Tor. Dahinter konnte man ein riesiges Fabrikgebäude erkennen. Während die Kinder ausstiegen, zahlte Wilhelm das Taxi und bedankte sich beim Fahrer.

Jetzt standen sie vor dem Tor. „Das ist ja eine riesige Fabrik!“ „Die Fabrik von Willi Wonka ist viel größer.“, meinte Leon. Er hatte Charly und die Schokoladenfabrik schon so oft gesehen, dass er sich seiner Behauptung sicher war.

„Habt ihr schon mal von Sauerlichs Schokolade gehört? Ich kann mich beim besten Willen an keine Marke mit diesem Namen erinnern.“ Mia und Leon schauten ihn mit großen Augen an. Jeder kannte Sauerlichs Schokolade. Vielleicht nicht jeder. Aber alle die TKKG kannten. „Wilhelm, hast Du noch nie von TKKG gehört?“ „Doch selbstverständlich! Ihr hört doch ständig die Hörspiele. Das sind doch die vier Schüler, die einen Verbrecher nach dem anderen dingfest machen. Doch was haben die mit Sauerlichs Schokolade zu tun?“ „Wilhelm, dass ist doch sonnenklar. Sauerlichs Schokoladenfabrik gehört dem Vater von Willi Sauerlich. Willi Sauerlich ist Klößchen!“ Langsam erinnerte sich Wilhelm an die Namen der TKKG Bande. Dann waren sie wohl in einem der vielen Bücher von TKKG gelandet. Doch wie war es möglich, dass Kalle auf dem Plakat erwähnt wurde? Wilhelm konnte sich nicht vorstellen, dass diese Charaktere gemeinsam in einem Band auftauchten. Doch dieses Rätsel musste er später lösen.

Jetzt ging es erst mal darum, dass sie in die Fabrik reinkamen. Dort mussten sie Kalle finden oder einen anderen der Detektive. Neben dem Tor befand sich ein Schild mit der Aufschrift: Wollen sie in die Fabrik hinein, dann müssen sie hier klingeln. Es folgte ein Pfeil nach unten. Folgte man diesem, fand man unterhalb des Schildes einen großen, goldenen Klingelknopf. Bevor Wilhelm etwas sagen konnte, hatte Leon schon geklingelt. Einen Augenblick später öffnete sich eine Klappe im linken Torflügel.

Sie sahen in das mürrische Gesicht eines älteren Mannes. „Noch mehr Kinder! Was wollt ihr?“ „Wir sind auf der Suche nach Kalle Blomquist. Er soll hier sein. Dürfen wir mit ihm sprechen?“, fragte Mia so freundlich wie sie konnte. „Kalle Blomquist? Kenne ich nicht. Los verschwindet.“, fuhr sie der Pförtner an. Nun versuchte Wilhelm sein Glück: „Entschuldigen Sie bitte, aber es ist wirklich sehr wichtig. Wir haben gelesen, dass hier heute ein Gründungskongress stattfinden soll. Kalle ist einer der Organisatoren.“ „Haben sie eine Einladung? Denn ohne Einladung kommt hier keiner rein.“ „Tut mir leid, aber mit einer Einladung können wir nicht dienen, Gibt es vielleicht eine andere Möglichkeit?“ Der Pförtner schaute Wilhelm lange an, bevor er erwiderte: „Guter Mann, sind sie taub? Ohne Einladung geht gar nichts! Jetzt nehmen Sie ihre Enkel und verschwinden. Ich habe besseres zu tun!“, mit einem lauten Knall schloss der Pförtner die Klappe. „Mit dem war aber nicht gut Kirschen essen! Mann, war der mies drauf!“ Wilhelm und Leon hatten dem nichts hinzuzufügen. Jetzt war guter Rat teuer. Sie brauchten einen neuen Plan.

Während sie dort standen und überlegten, wie sie weiter machen sollten, kamen vom linken Ende der Straße vier Kinder in Begleitung eines Hundes auf sie zu. Sie unterhielten sich angeregt und hielten wenige Schritte vor Wilhelm und den Kindern an. Ein etwa 12jähriger Junge mit kurzen blonden Haaren fragte sie, wer sie seien und ob sie auch zum Gründungskongress wollten. Leon war der schnellste: „Hallo, ich bin Leon und das da ist Mia, meine Schwester. Der da ist Wilhelm, unser „Adoptivopa“. Wer seid ihr?“

Bevor einer antworten konnte, flüsterte Mia Wilhelm zu: „Den Hund und das Mädchen mit den kurzen braunen Locken kennen wir doch! Wir haben uns vor dem Kamin bei ihr zu Hause getroffen.“ Wilhelm schaute sich erst das Mädchen an und dann den Hund an. „Mia, du hast mal wieder recht. Doch wir dürfen uns nichts anmerken lassen.“, erwiderte er leise.

„Mein Name ist Julian. Ich bin der Älteste von uns.“ Er zeigte auf das Mädchen mit den langen blonden Haaren: „Das ist Anne meine Schwester und der da,“, Julian zeigt auf einen Jungen, der gerade dabei war, einen Schokoriegel zu vertilgen, „ist mein Bruder Dick. Und schließlich ist da noch meine Cousine Georgina, genannt George mit ihrem Hund Timmy. Zusammen kennt man uns…“ „…als die fünf Freunde.“, beendete Wilhelm den Satz. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht. Wie Worte waren einfach so herausgesprudelt. „Sie kennen uns?“, wollte Julian wissen. Was sollte Wilhelm jetzt nur sagen, aber da fiel ihm ein, dass seine Nichte die „Fünf Freunde“-Bücher regelrecht verschlungen hatte. „Meine Nichte kannte euch sehr gut, und sie hat mir viel von Euch und euren Abenteuern erzählt.“ „Das ist wunderbar dann brauchen wir ja nicht mehr viel von uns erzählen.“, freute sich Anne, die sehr erleichtert erschien. Äußerst mürrisch wand George ein, dass sie noch nie von drei Detektiven namens Wilhelm, Leon und Mia gehört hätte. Mia atmete erleichtert auf. Der Vergessenszaubertrank hatte gute Arbeit geleistet. George hatte tatsächlich keinen Schimmer, wer Wilhelm oder sie waren.

„Wir sind auch keine Detektive. Kalle Blomquist ist ein sehr guter Freund von uns. Auf einem Plakat haben wir von dem Gründungskongress gelesen und sind sofort hierhergefahren. Wir brauchen dringend Hilfe bei einem Rätsel und hoffen, dass Kalle uns weiterhelfen kann.“, erklärte Mia. Dick, der seinen Schokoriegel inzwischen ganz aufgegessen hatte, klatschte in die Hände: „Das ist doch perfekt. Ein Rätsel für den Gründungskongress. Was will man mehr! Die anderen werden sich freuen. Lasst uns endlich reingehen.“ „Das geht nicht. Das mürrische Mondgesicht lässt uns nicht rein.“ „Dein Name war Leon, stimmts? Du musst dir keine Sorgen machen wegen Otto. Willi hat uns erzählt, dass Otto alles hasste, was mehr Arbeit bedeutet. Als er hörte, dass der Gründungskongress hier stattfinden soll, war er total sauer auf den alten Sauerlich, weil er sein Einverständnis gegeben hatte. Es ist gar kein Problem euch mit reinzunehmen. Man braucht nur zu sagen, dass man sich bei Willis Vater beschweren will, dann geht plötzlich alles.“ Nach dieser langen Erklärung drückte Julian den Klingelknopf.

Einen Augenblich später schauten sie in Ottos mürrisches Gesicht. „Hallo Otto, lassen Sie uns bitte rein.“ Otto schaute sich alle ganz genau an. „Ihr vier und der Hund dürft rein, aber die anderen drei bleiben draußen!“ Julian glaubte sich verhört zu haben und Leon dachte nur: „Siehste, habe ich doch gesagt.“ „Otto, Sie lassen uns sofort alle rein oder ich beschwere mich bei Direktor Sauerlich!“, forderte Julian eindringlich. „Jungelchen, dann beschwer dich doch, aber die drei kommen nicht mit rein!“, und schon war die Klappe wieder zu. „Was bildet sich dieser Mann eigentlich ein. Wenn Willi das wüsste.“ Julian konnte es nicht fassen.

„Julian, warum gehst Du nicht allein rein und holst Hilfe? Wir anderen warten hier mit unseren neuen Freunden.“ „George, die Idee könnte glatt von mir sein. Sie ist genial.“ Das fand Wilhelm ein wenig übertrieben, aber er fand die Idee auch gut. Julian drückte erneut den Klingelknopf und wieder öffnete sich die Klappe. „Otto, würden Sie mich bitte rein lassen.“ „Natürlich junger Herr! Selbstverständlich, das ist überhaupt kein Problem.“ Tatsächlich öffnete sich der linke Flügel des Tors. Julian schlüpfte hindurch und rief den anderen noch zu: „Ich komme so schnell wie möglich mit Hilfe zurück!“, und weg war er.

Da Direktor Sauerlich nicht wollte, dass die jungen Detektive in der ganzen Fabrik rumturnten, hatte er dafür gesorgt, dass der Weg zum Kongressraum bestens ausgeschildert war. Selbst ein Maulwurf hätte den Weg gefunden. Julian orientierte sich an den gelben Pfeilen, die auf dem Boden geklebt waren. So war er in wenigen Minuten im Kongressraum. Vorne am Podium standen Kalle und Tim. Sie sprachen mit einem kleinen, runden Mann. Dieser machte einen sehr eleganten Eindruck. Doch am auffälligsten war sein sorgfältig gepflegter Schnurrbart.

Julian schaute sich um, wer sonst noch da war. Am Buffet stand ein Junge, dem man seine Leidenschaft für Essen und gute Schokolade deutlich ansah. Das musste Klößchen von TKKG sein. Dick hatte sich gestern Abend lang und ausgiebig mit ihm unterhalten. Danach hatte er nur noch von seinem Seelenverwandten gesprochen. Genau diesen Seelenverwandten brauchte er jetzt.

„Hallo Willi!“ „Oh, nein bitte nicht. Für Freunde bin ich Klößchen.“ „Na gut, Klößchen. Dein Typ wird verlangt.“ „Tatsächlich, wo brennt es denn? Ist es sehr eilig? Ich wollte gerade noch ein Stück Schokoladentorte verdrücken, damit ich nachher besser denken kann.“ „Du bist genau wie Dick. Ihr könnt nur an Essen denken. Doch die Torte muss warten. Wir haben gerade am Tor einen älteren Herrn und zwei Kinder getroffen. Sie brauchen dringend Hilfe bei einem Rätsel, dass sie nicht lösen können.“ „Wo sind sie? Ich sehe weder einen alten Mann noch zwei hilflose Kinder.“ „Genau darum geht es! Otto will sie nicht reinlassen.“ „Was bildet sich dieses aufgeblasene Mondgesicht ein. Er hat die klare Anweisung, dass er jeden reinlassen muss, der zum Kongress will. Tim, Kalle!“, rief Klößchen durch den ganzen Saal, „wir müssen zur Pforte. Das Mondgesicht macht Ärger!“ „Klößchen, das schaffst Du locker allein. Kalle und ich haben keine Zeit.“ „Komm Julian, die Herren haben besseres zu tun.“ Klößchen verließ mit Julian den Kongressraum.

Fünf Minuten später standen sie bei Otto in der Pförtnerloge. „Otto, warum lässt Du die drei nicht rein?“ „Sie haben keine Einladung, junger Herr.“ „Na und, die Anweisung meines Vaters ist doch ganz klar.“ „Die Anweisung lautet, dass ich alle Kinder und Jugendliche reinlassen soll. Aber der Herr vor der Pforte ist ein Großvater mit seinen zwei kleinen Enkelkindern. Definitiv keine Detektive. Also kommen sie nicht rein!“ „Was glaubst Du, wieviele Menschen hier in Hamburg Kalle Blomquist kennen? Die kannst Du an deiner linken Hand abzählen. Wenn also jemand sagt, dass er Kalle sprechen muss, dann lässt Du ihn gefälligst rein. Oder muss ich erst meinen alten Herrn holen?“ „Nein, junger Herr! Selbstverständlich lass ich sie umgehend hinein. Otto drückte auf einen Knopf und der linke Flügel des Tores öffnete sich.

Klößchen ging auf Wilhelm zu, um ihn herzlichst zu begrüßen: „Tut mir leid, dass Sie nicht sofort Einlass gefunden haben, aber Otto nimmt sich leider öfters für wichtiger als er ist. Gutes Personal ist nur schwer zu finden.“ „Macht nichts, jetzt sind wir ja drinnen und können zu Kalle. Ich bin übrings Wilhelm und du darfst mich duzen.“ „Das macht die ganze Angelegenheit gleich viel leichter. Wie heißen deine Enkelkinder?“ „Welche Enkelkinder?“ „Na, die zwei da.“ „Ach so, du meinst Leon und Mia. Sie sind nicht meine Enkel. Ich bin so was wie ihr „Ersatzopa.“ Nun begrüßte Willi auch noch Mia und Leon. Zusammen gingen alle Richtung Kongressraum und ließen einen wutschnaubenden Otto zurück.