Mia & Wilhelm und die magische BOKX

Kapitel 6: Alte Bekannte

„Gänse!“, sagte Mia.
Sie hatte sie schon aus einiger Entfernung gehört, ihr Geschnatter aber nicht bewusst wahrgenommen. Das ist natürlich sehr verständlich – wenn man in so kurzer Zeit so viele Wunder erlebt, dann ist man manchmal ein bisschen abgelenkt. Tatsächlich war es eine Schar graubrauner Wildgänse, die da über sie hinwegflog. Sie flogen in zwei langen, keilförmigen Reihen. Eine besonders große Gans, die ganz besonders alt aussah, flog allen voran an der Spitze. In einigen Gänselängen Abstand folgte der Wildgänseschar eine einzige weiße Gans – eine zahme Gans.

Mia war plötzlich ganz aufgeregt. Als sie die weiße Gans entdeckt hatte, hatte sie ihre Kulleraugen weit aufgerissen und ein freudiges Glucksen ausgestoßen. „Ich wusste es, Willi! Wir sind in Schweden! Das sind Martin und Akka von Kebnekajse! Bestimmt ist Nils bei ihnen!“, rief sie. Wilhelm verstand nur Bahnhof.
„Anja von Käsenase? Und was denn für ein Nils?“, fragte er und runzelte seine buschigen Augenbrauen. „Nils Holgersson!“, antwortete Mia strahlend.
Das Buch hatten ihr ihre Großeltern schon zwei Mal vorgelesen, weil es ihr so gut gefallen hatte. Und natürlich, weil es darin um Schweden ging.
Die Autorin, Selma Lagerlöf, war dort sehr berühmt.

Die Gänse hatten sich ganz in der Nähe auf ihrer Seite des Flusses am Ufer niedergelassen. Sie hatten Mia und Wilhelm noch nicht entdeckt, da sie noch immer unter dem schützenden Blätterdach des Baumes standen und die Gänse hier wahrscheinlich auch nicht mit Menschen rechneten.
„Wir müssen den Pilz essen! Den, von dem wir schrumpfen!“, sagte Mia.
Wilhelm, der zwar noch nicht wusste, worauf sie hinauswollte, dem das Mädchen aber ja doch schonmal den Kopf gerettet hatte, begann sofort, im Rucksack nach dem richtigen Stück des Pilzes zu suchen. „So groß müssen wir werden!“, Mia zeigte mit Daumen und Zeigefinger eine Strecke, die – entsprechend ihrer kleinen Hände – sehr kurz ausfiel. Wilhelm brach den Rest des Pilzes in drei Teile, von denen er eines selbst aß und das andere Mia gab, die auch gleich hineinbiss. Sofort begannen sie zu schrumpfen.

„Jetzt sind wir so klein wie Wichtelmänner.“, sagte Mia erklärend, „Die Wildgänse haben nämlich Angst vor Menschen, vor Wichteln aber nicht!“. Nachdem Wilhelm den letzten Rest des Pilzes wieder in Mias Rucksack verstaut hatte, hob er die Schriftrolle auf, die von Wilhelms Schoss ins Gras gerollt war. Er rollte sie so weit aus, bis er das Ende des Textes von „Alice im Wunderland“ gefunden hatte. Tatsächlich begann gleich darunter offensichtlich der Text des Buches „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“.
Wilhelm hatte davon mal gehört, wusste aber nichts über die Geschichte des kleinen Nils. Er rollte die Schriftrolle noch einige Meter weiter aus, dann verschloss er sie schließlich wieder.

„Scheint ein dickes Buch zu sein!“, sagte er und wollte sich Mia zuwenden.
Die hatte sich jedoch schon wieder einige Schritte von ihm entfernt und beobachtete die Gänseschar, die ihr Nachtlager aufzuschlagen schien.
„Da ist Nils!“, flüsterte sie und winkte Wilhelm zu sich, der eilig die Schriftrolle in den Rucksack steckte, sich aufrappelte und Mia folgte, um auch einen Blick auf diesen Nils zu erhaschen. Er konnte ihn jedoch nirgendwo erspähen.

„Er ist genau so klein wie wir – da drüben, bei Martin sitzt er. Das ist der weiße Gänserich!“, wisperte Mia. Jetzt hatte Wilhelm ihn auch entdeckt. Tatsächlich war auch er für einen Menschen winzig klein. Mia, die sich freute, mit ihrem Wissen glänzen zu können, erklärte Wilhelm, dass Nils von einem Wichtelmännchen verzaubert worden war, weil er Menschen und Tiere schlecht behandelt hatte. Dann hatte er sich mit den Zugvögeln – nämlich einer Schar Wildgänse, die von einer alten Gans namens Akka angeführt wurde – auf die Reise gemacht, um mit ihnen nach Lappland zu fliegen. So sollte er lernen, ein besserer Mensch zu werden. „Aber keine Sorge, Willi, am Ende wird er wieder groß!“, fügte sie noch hinzu, was Wilhelm tatsächlich ein bisschen Hoffnung machte. Er lächelte sie an.

Ganz langsam und leise näherten sie sich der Gänseschar und versteckten sich schließlich hinter einem großen Stein. Von hier aus konnten sie die ganze Situation überschauen, waren jedoch noch immer vor den Blicken der Tiere geschützt. „Nils!“, rief Mia leise und lugte hinter dem Stein hervor, aber er schien sie nicht zu hören. Manche der Gänse schnatterten noch miteinander, während sie ihre Schlafplätze einnahmen. Zudem haben winzig kleine Menschen natürlich auch nur ganz feine, leise Stimmchen, die schnell überhört werden.

„Nils! Niiils!“, rief Mia wieder, diesmal etwas lauter.
Und tatsächlich wandte Nils seinen Kopf in die Richtung, in der Mia und Wilhelm sich versteckten. Die Gänse schienen nichts gehört zu haben. Mia trat einen Schritt weiter aus ihrem steinernen Versteck heraus und rief noch einmal. Diesmal hatte Nils sie deutlich gehört, drehte seinen Kopf und entdeckte Mia gleich.
Sie winkte ihm zu.

Nils schien dem weißen Gänserich etwas ins Ohr zu flüstern, dann stand er auf und ging auf Mia und Wilhelm zu. Außer Martin schien keine der Gänse groß Notiz davon zu nehmen. Als Nils nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt war, hielt er sich einen Finger vor den Mund, als wolle er ihnen bedeuten, leise zu sein. Dann verschwand er ebenfalls aus dem Sichtfeld der Gänse hinter den Stein, hinter dem auch Mia und Wilhelm saßen. „Hallo!“ flüsterte er, „Seid ihr Wichtelmänner?“.
„Nein, Nils, wir sind auch Menschen, so wie du!“, antwortete Mia und strahlte Nils an. Genau so hatte sie ihn sich vorgestellt – groß und schlaksig und mit flachsblondem Haar. „Woher kennst du meinen Namen? Wurdet ihr auch verzaubert? Und was macht ihr hier am Ronneby-Fluss?“, fragte Nils, den es verwirrte, andere kleine Menschen zu sehen. Das war ihm schließlich nicht mehr passiert, seit ihn damals ein Wichtelmännchen verzaubert hatte. „Wir sind zufällig hier gelandet.“, schaltete sich Wilhelm in das Gespräch ein. Er reichte Nils die Hand, „Ich heiße übrigens Wilhelm!“.

Nachdem sie einander vorgestellt hatten, erzählten Mia und Wilhelm ihre wunderliche Geschichte. Nils, der ja selbst einige seltsame Dinge erlebt hatte, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Ihr habt einen Pilz, von dem man größer wird?“, unterbrach er plötzlich, als Mia gerade erklärt hatte, wie sie so klein geworden waren, „Kann ich den mal sehen?“. Wilhelm sah Mia zögernd an. Ob es eine schlaue Idee war, in die geplante Handlung eines Buches einzugreifen? Wenn sie Nils den Pilz geben würden, was würde dann mit dem Buch und seiner Geschichte passieren? Würde es vielleicht sogar die Realität beeinflussen?

Aber Mia hatte ihm den Rucksack längst aus der Hand genommen und streckte Nils das Pilzstück entgegen. Ohne zu zögern nahm er hastig gleich zwei so großen Bissen, dass Wilhelm schon befürchtete, dass er nun mindestens sieben Meter wachsen müsse – aber es passierte rein gar nichts.
„Dauert es eine Weile, bis sie wirken?“, fragte Nils, der seit einigen Sekunden gespannt an sich heruntergeschaut hatte. Seine Stimme klang ein wenig enttäuscht. „Hm, eigentlich nicht.“, sagte Mia und schüttelte verständnislos mit dem Kopf. Wilhelm hingegen sah regelrecht erleichtert aus.
„Wir können hier nicht in die Realität eingreifen. So verhindert der Bücherschrank eine Art Großvater-Paradoxon! Das ist genial!“, sagte er. Seine Stimme hatte sich fast überschlagen, weil ihn die plötzliche Erkenntnis in so große Aufregung versetzt hatte. Er wunderte sich sehr, in verständnislose Gesichter zu blicken.

„Was?“, fragten Mia und Nils wie aus einem Munde.
Wilhelm, der noch nie zuvor in die Verlegenheit gekommen war, einem Kind einen komplexen Zusammenhang verständlich erklären zu müssen, dachte einige Sekunden nach. „Wir dürfen keinen Einfluss auf die Geschichten nehmen, die schon fertig sind. Wir können nur unsere eigene Geschichte schreiben!“, sagte er schließlich. Während Mia diese sehr vereinfachte Erklärung zu verstehen schien, sah Nils noch immer niedergeschlagen aus. Aber er wusste ja auch noch nicht, dass seine Geschichte eines der meistverkauften Bücher Schwedens werden und dass sie, auch ganz ohne die Hilfe von Mia und Wilhelm, ein gutes Ende finden würde.

Plötzlich hörten sie von jenseits des Steins ein lautes, aufgeregtes Schnattern.
Obwohl Mia und Wilhelm die Sprache der Gänse nicht verstehen konnten, hörten sie gleich, dass es um Leib und Leben gehen musste. Sofort sprangen die drei hinter dem Stein hervor, um die Situation überblicken zu können. „Smirre, der Fuchs!“, riefen Nils und Mia gleichzeitig. Ihre Stimmen klangen panisch. Da sah auch Wilhelm den roten Fuchs, der gerade dabei war, die Gänseschar anzugreifen, die aufgeregt umherzuflattern begann. Er machte gerade einen großen Satz auf eine der Wildgänse zu, die besonders verschlafen aussah und packte sie am Flügel.

Nils war sofort losgerannt. Er wusste zwar noch nicht, wie er bei seiner winzigen Größe den Gänsen helfen sollte, aber tatenlos herumzustehen, das kam gar nicht in Frage. Er rannte geradewegs zu Martin, seinem zahmen Gänserich, der gleich losflatterte und versuchte, sie beide in Sicherheit zu bringen. Auch die meisten anderen Gänse hatten sich schon in die Luft erhoben und sahen ängstlich zur Erde und auf ihre gefangene Reisegenossin herab.

Sie schrie und schnatterte in Panik. Wie das Jaulen eines angeschossenen Wolfes gellten Nils verzweifelte Schreie durch die Nacht.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder