Abschied von guten Freunden

Leon und Flinker Biber gingen in die Hütte und fragten vorsichtig nach, ob was passiert sei. Große Bärin verneinte und sagte, dass sie besorgt sei, weil in 7 Tagen ein Lacrosse Spiel unten in der Ebene stattfinden sollten und es noch so viel vorzubereiten gab. Flinker Biber fing schon wieder an zu tanzen: „Spiele, Spiele, Spiele. Komm, Tanzender Waschbär, mach mit.“ Leon tanzte wild um Mia, Große Bärin und Wilhelm herum. Die drei schauten mit großen Augen auf Leon. „Wir haben meinen Namen gefunden. Ich heiße ab jetzt Tanzender Waschbär.“ Mia schaute ihren Bruder entgeistert an. Wie konnte er diesen Namen gut finden und mit so viel Energie rumtanzen.  Wenn sie ihn so betrachtete, passte der Name irgendwie schon. Sie freute sich für ihn, denn er wirkte wirklich glücklich. „Leon“, sprach sie ihn an, aber reagierte nicht. Er hatte offensichtlich seinen eigenen Namen vergessen. Wieder tauchte bei Mia ein ungutes Gefühl auf, das sie sich nicht erklären konnte. Doch da war es schon wieder verschwunden. „Tanzender Waschbär“, rief sie, „ich freue mich sehr für dich.“ Leon strahlte sie an. Dann sprach sie zur Großen Bärin: „Wie können wir dir helfen?“.

Große Bärin erklärte ihnen allen, welche  Aufgaben zu erledigen waren. In den nächsten Tagen waren alle auf der Ebene, um alles für das große Spiel vorzubereiten. Mia, Leon und Wilhelm waren komplett eingetaucht in die Welt der Pueblo-Apachen. Sie sprachen überhaupt nicht mehr davon, woher sie kamen und ob sie das Dorf wieder verlassen müssen. Leon war die ganze Zeit mit Flinker Biber unterwegs. Mia war die rechte Hand von Großer Bärin bei den Vorbereitungen für das große Spiel. Das Privileg der Alten war, dass sie nicht mehr an den tagtäglichen Pflichten beteiligt waren. Daher verbrachte Wilhelm viel Zeit damit, bei Weiser Adler und den anderen älteren Dorfbewohnern zu sitzen und Gespräche zu führen.

Mia hatte sich an die Fersen von Großer Bärin geheftet. Sie wollte alles von ihr lernen. Sie half Großer Bärin auch in der Hütte, obwohl ihr das überhaupt nicht so gut gefiel, aber dafür brachte Große Bärin ihr bei, wie man verschiedene Spuren lesen konnte und worauf man achten sollte. Die beiden gingen in den Busch und die große Kriegerin zeigte ihr die unterschiedlichen essbaren Beeren, Pilze und Kräuter. Mia war sehr erstaunt, was man alles essen konnte. Einige Kräuter, erklärte ihr Große Bärin, seien auch Medizin. Das könne ihr die Medizinfrau des Dorfes besser erklären. Mia kam auch in den Genuss, lautlos über den Boden zu kriechen. Sie stellte wie Leon fest, dass das furchtbar anstrengend war. Obwohl es die ganze Zeit sehr viel zu tun gab, genoss sie die Zeit sehr. Sie sah Leon immer nur abends, wenn die beiden Jungs von ihren Ausflügen hungrig nach Hause kamen. Wilhelm besuchte sie ab und zu im Kreis der Alten.

Am Vortag des großen Spiels reisten ungefähr 100 Apachen an und bauten ein Zeltdorf in der Ebene auf. Die Pueblo Apachen liefen alle hinunter zur Ebene. Es fanden schon erste Probespiele statt. Leon und Flinker Biber tummelten sich die ganze Zeit zwischen den erwachsenen Männern herum, um zu beobachten, wie sie sich auf das Spiel vorbereiteten. Leon hatte das alles überhaupt noch nicht verstanden. Flinker Biber, der Lacrosse schon mit den anderen Kindern im Dorf gespielt hatte, holte seinen Schläger. Das war ein Stock mit einer geflochtenen Kelle am unteren Ende. Während die beiden zum Spielfeld liefen, erklärte Flinker Biber, dass zwei Mannschaften gegeneinander spielten. Eine Kugel musste  mit Hilfe der Schläger zwischen zwei Pfosten dem gegnerischen Tor, geschlagen oder getragen werden. Die Mannschaft, die als erste 100 Tore erzielte, hatte gewonnen. Leon schaute mit entsetzten Augen zunächst auf das riesige Feld mit den gegenüberliegenden Toren und dann zu Flinker Biber. „Wie können die Spieler diese Strapazen aushalten, das dauert doch Stunden.“ Flinker Biber erwiderte lachend: „Manchmal auch Tage.“ Sie gingen zu den Männern, die um das Lagerfeuer saßen und setzten sich dazu. Es roch herrlich nach gebratenem Fleisch.

Am Abend vor dem großen Spiel versammelten sich die Spieler und Zuschauer auf der Ebene für das große Eröffnungsfest. Große Bärin hatte alles gut organisiert. Die Frauen und Männer des Dorfes waren den verschiedenen Aufgaben zugeteilt worden. So hatte Große Bärin Zeit, sich auf ihre Eröffnungsrede für das große Fest vorzubereiten. Mia sah Große Bärin zum ersten Mal in einem Lederkleid, dass mit Perlen besetzt war und einen Fellkragen hatte. Sie fand, dass es für eine Stammesführerin sehr würdig war. Große Bärin steckte sich zwei Adlerfedern in ihr Haar, damit alle sie als „Häuptling“ erkennen konnte. Doch mit den zwei Adlerfedern signalisierte sie, dass sie den Häuptling während seiner Abwesenheit vertrat, denn sonst hätte sie sich drei Federn ins Haar gesteckt. Mia trug ebenfalls ein Lederkleid, das fast so aufwendig gearbeitet war, wie das der Großen Bärin. Sie fühlte sich geehrt und fast schon als große Kriegerin. Die beiden liefen los zur Ebene. Auf halben Weg sagte Mia: „Große Bärin, ich habe meine Kette vergessen, die du mir geschenkt hattest.“ Mia drehte sich um und ehe Große Bärin etwas sagen konnte, war sie verschwunden. Mia rannte so schnell sie konnte zurück zur Hütte und fing an die Kette zu suchen. Unter der Pritsche fand sie die Kette nicht, aber eine Tasche, die eine sehr ungewöhnliche grelle Farbe hatte. Diese kannte man bei den Indianern nicht. Wie kam diese Tasche unter die Pritsche? Diese Tasche hatte zwei Riemen. Da erinnerte Mia sich mit einem Mal, dass solche Taschen als Rucksack bezeichnet wurden. Mia setzte sich auf die Pritsche und wusste instinktiv, dass dieser Rucksack irgendwas mit ihr zu tun haben musste, aber sie kam nicht drauf was. Sie sagte laut: „ Ich wünschte, ich wüsste, was der Rucksack mit mir zu tun hat.“ Der Rucksack bewegte sich ein bisschen und Mia war ganz erschrocken. Sie öffnete ihn und ganz oben auf lag ein Zettel. Es schien ihr, als ob er ein bisschen leuchten würde. Sie nahm ihn und fing an zu lesen. „Liebe Mia, ich gehöre dir. Ich bin magisch, weil du dir gewünscht hast, dass ich eine Mary-Poppins-Tasche sein soll.  Liebe Grüße dein Rucksack“

Mia schaute ungläubig den Zettel an. Die Fragen drehten sich nur so in ihrem Kopf, aber sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Sie steckte den Zettel ein und dachte, dass sie ihn Wilhelm zeigen müsste. Sie versteckte den Rucksack wieder unter der Pritsche, fand nach kurzer Zeit ihre Kette und rannte los zur großen Zusammenkunft.

Sie traf auf halbem Weg Wilhelm, der gerade mit Weiser Adler und den anderen aus seinem Kreis in Richtung Ebene ging. Mia schaute Wilhelm an und bedeutete mit einer leichten Kopfbewegung, dass er mit ihr kommen sollte. Wilhelm rief den anderen zu, dass er gleich nachkäme und ging mit Mia zurück zu seiner Hütte. Sie zeigte Wilhelm den Zettel und schaute ihn fragend an. „Verstehst du das?“, fragte sie. Wilhelm schaute etwas ratlos, aber er fing sich wieder zu fragen, wo sie herkamen.

„Weißt du was, wenn der Rucksack einen Zettel schreibt, dann könnte er doch noch weiter Fragen beantworten? Oder?. Ich hole ihn mal her.“ Mia flitzte los und kam ein paar Minuten später mit dem Rucksack zurück. „So, welche Fragen stellen wir den jetzt?“ Wilhelm überlegte laut: „Wir sollten uns das gut überlegen, um unser Glück nicht zu strapazieren. Was wäre denn die wichtigste Frage?“ „Wer wir sind? Woher wir kommen? Wohin wir wollten?“, sprudelte es aus Mia heraus. „Ja, das denke ich auch, aber was ist die wichtigste Frage im Moment, Mia?“ Mia überlegte einen Augenblick, dann fragte sie langsam und laut: „Woher kommen wir?“ Der Rucksack bewegte sich nicht. Enttäuscht dachte sie, dass das vorhin wohl Zufall war. „Wie hast du denn vorhin gefragt? Kannst du dich noch daran erinnern?“ versuchte Wilhelm sie zu ermuntern. Mia schloss für einen Moment die Augen und legte ihre Stirn in Falten. Plötzlich entspannte sich ihr Gesicht und sie riss die Augen weit auf: „Ich habe es mir gewünscht! Ich wünsche mir, dass wir wüßten woher wir kommen.“ Tatsächlich bewegte sich der Rucksack wieder ein bisschen. Ein neuer Zettel lag obenauf. Mia nahm ihn heraus und fing hastig an zu lesen: „Liebe Mia, du bist Mia aus Köln. Du bist mit Wilhelm und Leon durch die Schriftrolle im magischen offenen Bücherschrank gelandet. Dort habt ihr Lucy, Herrn Tumnus, Karlsson vom Dach und das Sams getroffen. Dann seid ihr in der Prärie gelandet und Old Shatterhand hat euch zum Pueblo der Apachen gebracht. Lieber Gruß dein Rucksack.“

Die beiden schauten sich etwas ratlos an. Das muss die Wahrheit sein, auch wenn sie sich im Moment überhaupt nicht daran erinnern konnten. Die Frage war ja auch, warum hatten sie es vergessen? Wo ist diese Schriftrolle, von der der Rucksack sprach? Mia fing an, in Wilhelms Sachen herumzusuchen. „Los, Wilhelm, mach mit. Wir müssen diese Schriftrolle finden.“ Sie krabbelte unter seine Pritsche mit der Bemerkung, dass sie unter ihrer Pritsche den Rucksack gefunden habe. Dort lag keine Schriftrolle. Nun fing Mia an die Felle auf Wilhelms Pritsche hoch zu heben und da fanden sie die Schriftrolle. Sie war ausgerollt und etwas verknittert. Sie sahen, das auf der Rolle ziemlich viel stand. Mia las laut den letzten Satz auf der Rolle vor: „Gefahr. Vergessen ist der Preis.“ Wilhelm griff nach der Schriftrolle. Was hatte das zu bedeuten? „Weißt du was, Mia. Ich glaube, das bedeutet, das wir vergessen haben. Ich verstehe nicht warum, aber wir müssen so schnell wie möglich irgendwie aus dieser Situation. Wir gehören nicht hierher. Offensichtich können uns diese Schriftrolle und dein Rucksack helfen. Wir müssen uns auf die beiden Dinge verlassen, dass sie uns dahin zurückbringen, wo wir hergekommen sind.“ Mia hatte ihn die ganze Zeit nachdenklich angeschaut. Sie fand es so schön bei Großer Bärin und sie war schon so weit, eine große Kriegerin zu werden, aber sie wusste, dass Wilhelm recht hatte. „Wir dürfen nicht warten, sonst vergessen wir vielleicht wieder.“ Wilhelm seufzte: „Ich habe mich so auf das Fest und das große Spiel morgen gefreut, aber jetzt ist auch ein guter Moment zu verschwinden. Ich habe dort in der Ecke komische Kleidung und Schuhe liegen, die hat mir eine Dorfbewohnerin vor einigen Tagen dahingelegt. Ich glaube, diese habe ich getragen. Schau doch noch mal in der Hütte der Großen Bärin, ob du auch Kleidung für Leon und dich findest. Ich werde Leon holen. Aber gib mir einen der Zettel und du solltest einen in der Hand behalten, damit wir auf keinen Fall das wieder vergessen.“ Mia gab ihm den ersten Zettel und rief beim Rauslaufen: „Leon zu überzeugen, dass er Flinker Biber und das Fest verlassen muss, wird eine sehr schwierige Aufgabe. Viel Glück.“

Während Mia Leons und ihre Sachen zusammenpackte, lief Wilhelm so schnell er konnte zum Festplatz. Weiser Adler lud ihn ein, sich an ihr Lagerfeuer zu setzen, aber Wilhelm sagte laut später und dachte „Leb wohl.“ Er sah Leon, wie er eifrig mit dem Schläger übte, die Kugel vorwärts zu bewegen. Wilhelm lief auf ihn zu und flüsterte ihm ins Ohr, dass sie unbedingt kurz alleine sprechen müssten „Ist etwas mit Mia?“, fragte er sofort besorgt. Wilhelm beruhigte ihn. Als sie etwas abseitsstanden, zeigte er Leon den Zettel. „Wie, magischer offener Bücherschrank. Was ist das denn für ein Quatsch?“ Leon schaute Wilhelm wütend an. „Leon, ehrlich gesagt, weiß ich das auch nicht so genau, aber ich bin mir sicher, dass wir dorthin zurückmüssen. Und zwar jetzt!“ Leon war den Tränen nahe. „Kann ich nicht hierbleiben. Ich fühle mich so wohl. Ich habe den tollsten Freund auf der Welt. Mich würde doch niemand vermissen.“ Wilhelm schaute ihn mitfühlend an. „Ich weiß, dass du es hier wirklich schön hast. Wir können uns im Moment nicht daran erinnern, aber du hast bestimmt Eltern, die dich vermissen würden. Wir müssen zusammen hier raus. Also los komm.“ „Kann ich mich noch von Flinker Biber verabschieden?“ „Nein, das geht nicht, dann würde er etwas merken und das darf nicht passieren. Schau mal, er ist ganz in ein Gespräch vertieft. Lass uns gehen.“

Traurig schaute Leon ein letztes Mal auf Flinker Biber und stapfte mit hängendem Kopf hinter Wilhelm her. Mia wartete schon in ihrer eigenen Kleidung auf sie in Wilhelms Hütte. Auf der Pritsche hatte sie sorgfältig die Sachen für Leon und Wilhelm bereitgelegt. Schnell zogen er und Wilhelm sich um. „Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Leon, während er seinen zweiten Sneaker anzog. Mia und Wilhelm sagten im Chor: „Kein Ahnung.“ Mia sagte weiter: „Das müssen wir jetzt rausfinden. Wilhelm und ich wissen bereits, dass ich mir etwas vom Rucksack wünschen kann. Auf dem zweiten Zettel stand, dass wir mit Hilfe der Schriftrolle in einen magischen offenen Bücherschrank gekommen sind. Vielleicht sollten wir uns einfach dorthin zurückwünschen.“ Während sie das sagte, schaute sich Wilhelm noch mal in der Hütte um. Er wollte sich verabschieden und kontrollieren, dass sie alles mitnehmen würden. Leon lief eine dicke Träne über die Wange. Wilhelm schaute Leon mitfühlend an. „Irgendwie denke ich, dass es besser ist, wenn wir uns an der Hand nehmen und einen geschlossenen Kreis bilden. Bislang hast nur du dir etwas gewünscht, Mia. Nicht dass du alleine verschwindest.“ Wilhelm griff nach Leons Hand. Mia schnallte sich den Rucksack auf den Rücken und nahm Wilhelms und Leons Hand. Alle drei schlossen die Augen und Mia sprach: „Ich wünsche mir, dass wir in den offenen Bücherschrank zurückkehren.“