Leben wie Indianer?

Wilhelm schlug die Augen auf und sah direkt in die Augen von Weiser Adler. Starr vor Schreck dachte er: „Wo bin ich? Was war passiert?“ Langsam kamen seine Erinnerungen wieder: „Wir sind bei den Apachen und haben Old Shatterhand getroffen.“ Weiser Adler strahlte ihn an: „Wir feiern heute ein Fest und ihr seid unsere Gäste.“ Wilhelm setzte sich auf und ehe er sich versah, legte Weiser Adler ihm eine silberne Kette um den Hals. „Jetzt gehörst du auch zu den Weisen.“, erklärte Weiser Adler. Er ging zur Tür und sagte: „Es geht bald los.“ Wilhelm rief hinterher: „Wo sind Mia und Leon?“ Von Ferne hörte er nur noch: „Bei Großer Bärin.“ Wilhelm streckte alle viere von sich. Er konnte jeden Muskel des menschlichen Körpers studieren, denn er spürte jeden einzelnen. Er stand auf, ging vorsichtig raus und schaute sich um. Wie sollte er bloß Mia und Leon finden?

Mia und Leon hatten ebenfalls nach der ganzen Anstrengung tief und fest geschlafen. Beide wachten zeitgleich mit einem Bärenhunger auf.  „Wie passend“, dachte Mia. „Wir sind bei der Großen Bärin und haben Bärenhunger.“ Sie schmunzelte ein bisschen und setzte sich auf ihrem Bett auf. „Große Bärin“, fragte sie schüchtern, „könnten wir bitte etwas zu essen haben?“ Große Bärin ging an den großen Topf, der über dem Feuer hing und schöpfte mit einer Art Holzkelle etwas Dampfendes auf einen Holzteller. Mia schaute sich etwas argwöhnisch das Essen an. Dann sagte sie erfreut: „Das sind ja Kartoffeln, Bohnen und Kürbis.“ Große Bärin schaute sie verwundert an. „Das essen wir jeden Tag. Schon immer. Aber iss nicht zu viel. Wir haben nachher noch unser Fest mit allen“. Mia dachte nur: „Mütter sind überall gleich.“ Große Bärin bereitete für Leon auch einen Holzteller mit Essen vor, und als er sich endlich aufgesetzt hatte, gab sie ihm diesen. Er hatte das Gefühl, dass er schon seit Wochen nichts mehr gegessen hätte.

Große Bärin fragte die beiden, woher sie kamen. Mia und Leon schauten sich an und beide wussten, dass sie die Wahrheit nicht verraten durften. Mia stammelte: „Wir … wir …waren mit unserem Freund Wilhelm alleine in der Prärie. Wir waren auf dem Weg von  Gettysburg zu eurem Pueblo. Unterwegs sind die Pferde mit der Kutsche durchgegangen. Zum Glück hat Old Shatterhand uns gefunden. Wo ist Wilhelm überhaupt?“ fragte sie schnell hinterher, um vom Thema abzulenken. Große Bärin sagte mit ruhiger Stimme, „Er wohnt in einer Hütte etwas oberhalb. Weiser Adler hat ihn dort hingebracht. „Können wir zu ihm?“, fragte Mia. „Flinker Biber wird euch zu ihm bringen.“ Mia holte noch schnell die Schriftrolle aus ihrem Rucksack und versteckte sie unter ihrem T-Shirt, während große Bärin einen Teller mit Essen für Wilhelm füllte. „Bitte tragt das vorsichtig zu ihm.“ Die drei Kinder gingen los. Leon und Flinker Biber lachten zusammen und zeigten immer auf verschiedene Dinge. „Jungs“, dachte Mia, während sie versuchte schnell zu gehen und den Teller gerade zu halten.

Wilhelm stand vor seiner Tür, als Mia, Leon und Flinker Biber dort ankamen Mia hatte sich den Weg von der Hütte der Großen Bärin zu Wilhelms Hütte gemerkt. Auf die Idee war Leon gar nicht gekommen. Er war zu beschäftigt gewesen. Es war für Mia nicht einfach gewesen. Alles war so verwinkelt und die Pfade zwischen den Hütten waren eng. Flinker Biber lachte, hob die Hand zum Gruß und verschwand. Endlich waren die drei alleine. Sie waren ein bisschen ausgeruht und hatten etwas gegessen. „Wie kommen wir hier wieder weg? Wie können wir die Indianer verstehen? Was passiert, wenn wir die magische Regel brechen?“ Mia wiederholte diese Fragen. Leon sagte trotzig: „Ist doch egal, mir gefällt es hier.“ Er war sich sicher, dass er eine tolle Zeit mit Flinker Biber haben würde. Aber die Frage, wie man mit den Indianern kommunizieren könnte. die fand er auch wichtig. Auf Dinge zeigen, war doch etwas anstrengend.

Habt ihr die Schriftrolle, fragte Wilhelm. Mia holte sie unter ihrem T-Shirt hervor. Vorsichtig rollte sie die Schriftrolle aus. „Es steht nichts Neues drauf“, bemerkte sie enttäuscht. Wilhelm runzelte die Stirn: „Vielleicht dürfen wir nicht fragen, sondern müssen es uns wünschen. Ich wünsche mir, dass wir mit den Indianern sprechen und sie verstehen können.“

Mia, die die Schriftrolle immer noch in der Hand hielt, schaute gespannt drauf.  Tatsächlich erschien langsam eine Zeile:

Sprache ist eins: Verstehen

„Das bedeutet, dass wir ab jetzt die Apachen verstehen können?“, Leon hüpfte vor Freude. Wilhelm nickte. Leon schob direkt die Frage hinterher: „Was passiert, wenn wir die magische Regel brechen und uns in die Geschichte einmischen?“ Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, kam Flinker Biber wieder in die Hütte. Wilhelm gab Mia die Schriftrolle und sie versteckte sie hastig hinter Wilhelms Pritsche, unter einem der Felle, so dass man sie nicht sehen konnte. Auf der Schriftrolle erschien:

„Gefahr! Vergessen ist der Preis.“

Keiner der drei hatte es bemerkt oder gar gelesen.

„Das Fest geht los.“, schrie Flinker Biber ganz aufgeregt. Leon antwortete: „Ich freue mich.“ Selbstverständlich antwortete Flinker Biber: „Ich mich auch.“ Ihm fiel gar nicht auf, dass er und Leon sich ohne Probleme verstehen konnten. Die beiden Jungs liefen aus der Hütte und verschwanden.  Mia und Wilhelm schauten sich an und gingen hinterher. Aus allen Hütten strömten die Bewohner zu einem großen Platz in der Mitte des Dorfes. In der Mitte des Platzes brannte ein großes Feuer, über dem zwei Leute ein riesiges Stück Fleisch drehten. Alle anderen saßen in einem großen Kreis um das Feuer.

Mia und Wilhelm sahen Leon und Flinker Biber bei Old Shatterhand und Großer Bärin sitzen also gingen sie auch dorthin. Da stellte sich Weiser Adler in ihren Weg und bat Wilhelm bei den Ältesten Platz zu nehmen. Er folgte Weiser Adler und Mia ging zu den anderen.

Kaum hatte sich Mia hingesetzt, begannen die Trommeln und einige Männer gruppierten sich im Kreis um das Feuer. Sie begannen einen Tanz. Große Bärin übertönte die Trommeln: „Dieser Tanz ist die Geschichte der großen Jagd nach Büffeln. Wir erzählen uns unsere alten Geschichten am Feuer oder wir tanzen sie. Büffel sind sehr gefährlich, die Jäger müssen in der Gruppe jagen und jeder hat seine jeder einzelne hat seine Rolle und Aufgabe. So können die Kinder und die jungen Männer und Frauen lernen, wie man einen Büffel jagt.“ Mia schaute Große Bärin an: „Mädchen und Frauen jagen auch?“ „Selbstverständlich.“ Old Shatterhand drehte sich zu Mia um: „Große Bärin gehört zum Rat des Stammes und ist Oberhaupt, solange Winnetou nicht da ist. Ihr Wort ist Gesetz. Es ist eine große Aufgabe.“ Mia war zutiefst beeindruckt. Davon hatte sie noch nie gehört. Plötzlich verstummten die Trommeln um mit einem anderen Rhythmus weiter zu machen. Nun tratten einige Frauen in den Kreis. Auch sie gruppierten sich um das Feuer und fingen an zu tanzen. „Das ist ein spiritueller Tanz. Er segnet euch, uns, Mutter Erde und alle Lebewesen.“, erklärte Große Bärin.

Flinker Biber hatte sich zu Leon gedreht. „Morgen üben wir Lacrosse Spiel. Du kommst aus der Stadt, nicht wahr? Ich zeige dir, wie man in der Prärie Spuren liest. Wir finden für dich einen Indianischen Namen. Welches Tier magst du gerne? Leon überlegte und ihm fiel auf die Schnelle nichts ein. Vor allem musste es doch ein Tier sein, dass in der Prärie von Amerika vorkam. Er musste seinen neuen Freund irgendwie auf morgen vertrösten und Wilhelm fragen. „Ich habe eine Idee. Wir machen das ganz feierlich morgen. Richtig Blutsbruderschaft.“, sprach er mit andächtiger Stimme. Flinker Biber war sofort Feuer und Flamme.

Als die Tänze beenden waren, wurden große Holzteller verteilt auf denen sich Fleisch, Bohnen, Mais, Kartoffeln und sogar Tomaten befanden. Um jeden Holzteller saß eine Gruppe. Es wurde still und alle aßen versunken. „Gefräßige Stille“, schmunzelte Wilhelm in sich hinein. Er hatte die ganze Zeit alles von seiner Position mitten unter den älteren Bewohnern des Dorfes beobachtet. Er hatte auch Weiser Adler ausgefragt, warum er nicht bei den Kindern sitzen sollte. „Das ist bei uns so. Wir haben unsere Arbeit getan. Wir dürfen ausruhen.“ Wann kann ich zu den Kindern, fragte Wilhelm. „Wann immer du willst. Du bist ein freier Mann.“, antwortete Weiser Adler.

Old Shatterhand erklärte Mia und Leon, dass er im Morgengrauen aufbrechen werde, um Winnetou zu suchen. Er wollte nicht ein halbes Jahr im Pueblo warten. „Wenn Ihr zurück nach Gettysburg möchtet, dann sagt der Großen Bärin Bescheid. Sie wird euch unterstützen, dass Ihr sicher zurückkommt.“, Die beiden verabschiedeten sich höflich von ihm, aber es kam ihnen nicht der Gedanke, dass es eventuell nicht gut sei, dass Old Shatterhand wegreitet, bevor er sie vergessen hatte. Sie stellten sich nicht mehr die Frage, was es bedeutet hatte, dass sie ihm begegnet waren. Das Vergessen hatte begonnen.

Als alle mit dem Essen fertig waren, fingen die Trommeln wieder an. Bis auf die Alten des Stammes standen alle auf und fingen an sich in dem Rhythmus zu bewegen. Selbst Leon, der tanzen zu „Mädchen“ fand, hüpfte mit Flinker Biber wild umher. Mia versuchte die Bewegungen von Großer Bärin zu kopieren. Sie bewegte sich flink und lautlos, das imponierte Mia.

Wilhelm war sehr dankbar, dass er sitzen bleiben durfte. Er spürte jeden einzelnen Knochen in seinem Körper nach diesem langen Tagesritt. Wo waren sie nochmal hergekommen? Es fiel ihm nicht mehr ein, aber in diesem Moment sah er kein Problem darin. Das konnte er sich morgen noch überlegen. Er klopfte mit seinen Händen den Rhythmus der Trommeln auf den Boden.

Später am Abend löste sich die Gesellschaft auf und alle gingen in ihre Hütten. In der Hütte von Großer Bärin warf Mia gedankenlos ihren Rucksack hinter das Bett, so dass er aus ihrem Blickwinkel verschwand. Sie legte sich hin und schlief sofort ein. Leon legte sich zwischen sie und Flinke Biber und grübelte über fieberhaft über seinen neuen Namen nach. Er dachte an ein Tier mit einer großen Mähne, aber ihm fiel der Name nicht mehr ein. Sie werden schon einen schönen Namen für ihn finden. Dann war er im Reich der Träume verschwunden. Das Vergessen legte sich wie ein Schleier über sie. Sie schliefen noch tief und fest, als Old Shatterhand das Pueblo verließ.