Mia & Wilhelm und die magische BOKX

1. Vorwort: Das ist Mia

„Räumt die Legosteine weg, wenn ihr nicht mehr damit spielen wollt!“.
Mit Jessica, dem Au-Pair-Mädchen, das die Zwillinge zurzeit betreute, war nicht gut Kirschen essen. Sie war zwar noch nicht lange hier, aber das hatten Mia und ihr Bruder Leon schon durchschaut.
Wenn ihr die Kinder zu anstrengend wurden, setzte sie sie meist einfach vor den Fernseher und verschwand in einen Nebenraum, um von dort aus mit ihrem Freund in New York zu telefonieren.
Mia wusste, dass das die meisten Au-Pair-Mädchen so machen, denn ihre Eltern holten jedes Jahr eine andere junge Frau nach Köln, die die Zwillinge betreuen sollte.
Anfang August hatte Nanette ihre Koffer gepackt und die Villa verlassen, um zurück nach Frankreich zu gehen. Am nächsten Morgen stellte sich Jessy aus Amerika vor. Seitdem war sie hier und hatte sich noch nicht so recht eingelebt. Ihr Deutsch wurde zwar immer besser, aber sie schien irgendwie kein gutes Händchen für die Kinderbetreuung zu haben. Sie fand einfach keinen richtigen Draht zu Mia und Leon – gab sich, offen gestanden, aber auch keine allzu große Mühe.

„Wollt ihr dann jetzt Fernsehen?“, fragte Jessica die Kinder. Mia zog eine Schnute und schüttelte den Kopf.
„Dann geht doch hoch in euer Spielzimmer!“, schlug Jessy vor und lächelte die Zwillinge an, „Ihr habt doch so viele schöne Spielsachen, beschäftigt euch einfach. Aber seid bitte leise!“. Sie holte ihr Smartphone aus der Hosentasche.
„Hon är urtråkig!“ sagte Mia zu Leon und beide begannen zu kichern.
„Ihr sollt kein Schwedisch reden, wenn ich dabei bin! Hat eure Mutter gesagt!“.
Die Kinder wussten, dass das Jessy verunsicherte. „Ich habe nur zu Leon gesagt, dass du sehr nett bist!“ sagte Mia. Ihre Stimme klang unschuldig, aber sie grinste schelmisch und schob dabei ihre Zunge durch die große Lücke neben ihrem linken Schneidezahn, wo sich vor kurzem erst ein Milchzahn verabschiedet hatte. Jessica schüttelte seufzend den Kopf und die Zwillinge verschwanden, immer noch kichernd, in ihrem Spielzimmer im ersten Stockwerk.

„Urtråkig heißt doch langweilig, oder?“, fragte Leon, als sie die Zimmertür hinter sich geschlossen hatten. „Suuuuperlangweilig!“, antwortete Mia mit einem glucksenden Lachen und kletterte auf ihren Lieblingssessel.
Den hatte sie aus dem letzten Urlaub bei ihren Großeltern in Schweden mitgenommen.
Er hatte ein weißes Holzgestell, pastellblau gestreifte Polster und ihre Großeltern hatten abwechselnd darin gesessen, wenn sie den Zwillingen in den Ferien Geschichten vorgelesen hatten.
Damit die Kinder Opa Ivar und Oma Thea im Alltag nicht so vermissen würden, hatten die Großeltern den Kindern den Sessel geschenkt, die ihn dann mit nach Deutschland brachten.
Opa Ivar hatte allerdings versprechen müssen, dass er sich einen neuen Sessel kaufen würde. Schließlich wollten die Zwillinge auch im Urlaub in Schweden nicht auf einen Vorlese-Sessel verzichten.

Für Mia war der Sessel der beste Platz im ganzen Haus.
Er übte eine magische Anziehungskraft auf sie aus und erinnerte sie jeden Tag an ihr großes Ziel:
Mia wollte lesen. Am liebsten alle Bücher auf der ganzen Welt.
Sogar solche, in denen gar keine Bilder sind. Dicke Bücher, Bücher mit Märchen und Gedichten, lustige, traurige, spannende Bücher…
Dann würde sie nie wieder Langeweile haben! Sie könnte Leon vorlesen und den Großeltern und vielleicht auch den neuen Freunden in der Grundschule. Und irgendwann könnte sie sogar ihre ganz eigenen Bücher schreiben. Sie lächelte.
Dann griff sie nach einem ihrer Bilderbücher, einer schwedischen Ausgabe von Pippi Langstrumpf, und begann, verträumt darin zu blättern.

„LEON!! Hast du Herrn Nilsson diesen Schnurrbart gemalt? Das ist mein Lieblingsbilderbuch!“ eigentlich wollte Mia wütend klingen, aber ihre Stimme zitterte verdächtig.
„Man darf nicht in Bücher reinmalen, du bist so doof!“, – schon rollte ihr eine dicke Träne über die Wange. Sie knallte das Buch auf den Tisch, sprang auf, rannte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Schluchzend klopfte sie an Jessicas verschlossene Tür.
„Jessy!“, rief sie, „Leon hat in mein Lieblingsbuch gemalt!“.
Sie hörte Jessica Englisch reden, während sie auf eine Antwort wartete – wahrscheinlich telefonierte sie wieder mit ihrem Freund. „Ich brauche noch fünf Minuten meine Ruhe, dann kümmere ich mich drum!“, antwortete Jessica genervt. Die Tür blieb verschlossen.

So lange konnte Mia nicht warten.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, die allerdings direkt wieder nachkullerten und nahm ihren dunkelblauen Wintermantel von der Garderobe. Schniefend zog sie sich ihre Wildlederstiefel an und griff nach ihrem gestrickten Set aus Mütze, Schal und Handschuhen.
Sie wollte nur noch weg von hier und sie wusste auch schon ganz genau, wohin sie gehen würde. Es gab einen Ort, ganz nahe bei ihrem Zuhause, der ihr immer Trost spendete – den offenen Bücherschrank. Hierhin ging sie, um ganz in Ruhe und unter freiem Himmel in Büchern zu blättern. Einmal hatte ihr sogar ein älteres Mädchen, das sie dort getroffen hatte, aus einem Märchenbuch vorgelesen. Jedenfalls fühlte sie sich draußen und in der Gegenwart von Büchern immer schnell wieder ein bisschen besser.

Sie schnappte sich ihren Rucksack, den ihre Mutter farblich auf ihre Stiefelchen abgestimmt hatte.
Leise schloss sie die große Haustür hinter sich und rannte durch den großen, gepflegten Vorgarten nach draußen auf den Gehweg.

Geschrieben und illustriert von
Hannah-Katharina Stalder