Der Aufbruch

Mia wachte aufgeregt auf. In ein paar Stunden würde sie sich mit Wilhelm treffen. Und sie wollte auf jeden Fall gut vorbereitet sein. Sollte sie Bücher mitnehmen? Was könnte hilfreich in den Geschichten sein? Sie brauchten auf jeden Fall eine Taschenlampe. Die hatte sie letztes Jahr schon eingepackt, aber dann total vergessen. Mama würde jetzt fragen: „Hast du auch Taschentücher dabei?“ Mia grinste bei dem Gedanken und holte eine Packung aus dem Badezimmer. Sie stand vor ihrem Schrank und überlegte, welche Tasche wohl am besten wäre. Sie entschied sich für den pinken Rucksack, der groß genug und gut auf dem Rücken zu tragen war.

Es würde allerdings sehr lustig aussehen, wenn Wilhelm ihn tragen würde. Wieder musste sie grinsen. Sie packte die Taschenlampe und die Taschentücher in den Rucksack, dabei murmelte sie vor sich hin: „Ich wünschte, dieser Rucksack wäre eine Mary-Poppins-Tasche! Dann müsste ich mir überhaupt keine Gedanken machen, was ich mitnehme. Die Tasche würde uns immer das geben, was wir gerade brauchen.“ Wer weiß, vielleicht würde sich dieser Wunsch ja im Schrank erfüllen. Wilhelm und sie hatten in den letzten 2 Jahren gelernt, dass Magie war unberechenbar war. Man konnte nie vorhersagen, was passieren würde.  Dann fing sie an zu singen:

Supercalifragilisticexpialigetisch.
Dieses Wort klingt durch und durch furchtbar, weil synthetisch.
Wer es laut genug aufsagt, scheint klug und fast prophetisch.
Supercalifragilisticexpialigetisch.

Sie liebte den Film „Mary Poppins“ und besonders dieses Lied. Sie hatte lange geübt – zum Leidwesen der restlichen Familie – um „Supercalifragilisticexpialigetisch“ richtig aussprechen zu können. Das Geheimnis lag darin, ganz langsam und einzeln anzufangen. „Super-cali-fragi-listic-expiali-getisch.“, sagte sie noch mal ganz schnell.

Sie dachte weiter darüber nach, was sie sonst noch mitnehmen sollte. „Essen“, schoss es ihr durch den Kopf, „wir brauchen auf jeden Fall etwas zu essen!“ Mia machte sich auf in die Küche, um zu schauen, was es dort so alles gab. Im Flur klingelte das Telefon. Mia nahm es aus der Station und sagte: „Hallo, hier ist Mia.“. „Hallo, Mia! Ich bin es, Wilhelm.“, hörte sie die vertraute Stimme auf der anderen Seite. „Wir treffen uns in einer Stunde am offenen Bücherschrank. Hatten wir nicht noch Vergessenszaubertrank von Dumbledore übrig? Vergiss nicht ihn einzustecken und natürlich die Schriftrolle.“ Mia antwortete: „Alles klar, mache ich!“. Sie war froh, dass Wilhelm sie noch mal daran erinnert hatte. „Also, dann bis gleich am Bücherschrank“, sagte sie und legte das Telefon wieder auf die Station zurück. Dann ging sie weiter in die Küche und packte Weihnachtsplätzchen, etwas Brot und einen Gouda in den Rucksack. Anschließend ging sie wieder zurück in ihr Zimmer und schloss die Tür, um den Vergessenszaubertrank und die Schriftrolle aus ihrem Versteck zu holen.

Sie hatte nicht bemerkt, dass Leon ihr Telefonat mit Wilhelm belauscht hatte. Plötzlich flog die Tür zu ihrem Zimmer auf und knallte an die Wand. „Ich komme mit!“, schrie Leon wild entschlossen und lachte über das ganze Gesicht. Mia schaute ihn etwas verwirrt an, „Wohin denn?“, fragte sie. „Iiin deen offenen Bücherschraaank!“, antwortete Leon und zog dabei die Worte auseinander, als ob das seinen Entschluss deutlicher machen würde. Mia strahlte ihn an. „Super. Ich freu mich wie ein Schnitzel!“, das sagte Mama manchmal und Mia wusste bis heute nicht, wie sich ein Schnitzel freut. „Du kannst mir helfen den Rucksack fertig zu packen.  Wir brauchen unbedingt noch Streichhölzer und etwas zu trinken!“ Leon lief los und kam wenige Minuten später mit einer Flasche Wasser in der einen Hand und einem Buch in der anderen Hand zurück. Die Streichhölzer hatte er vorher schon in seiner Hosentasche verstaut. Er gab Mia die Flasche Wasser und das Buch.

Es war der zweite Band von Winnetou, eines von den Büchern, die Papa ihm gegeben hatte. Den ersten Band von Winnetou hatte er schon ganz gelesen. Er dacht nochmal darüber nach, dass dieses Buch doch manchmal ganz schön gruselig war. Wahrscheinlich hatte Papa vergessen, dass die Geschichten nichts für schwache Nerven waren. Sonst hätte er sie bestimmt nicht Leon gegeben. Schließlich war der Junge erst sieben. „Was willst du mit dem Buch?“, fragte Mia erstaunt. „Ich möchte es mitnehmen! Wäre es nicht super, wenn ich in das Buch gehen könnte?“ Es wäre einfach unglaublich, wenn er Winnetou und Old Shatterhand treffen könnte. Mia nahm das Buch und packte es zu den anderen Sachen in den Rucksack.

Jetzt fehlten nur noch der Vergessenszaubertrank und die magische Schriftrolle. Doch Mia wollte erst einmal nicht, dass Leon etwas von ihnen erfuhr. „Geh doch schon mal deine Jacke anziehen. Aber sei leise! Mama und Papa dürfen nichts mitbekommen.“ Denn was den offenen Bücherschrank betraff, waren die Beiden ein wenig empfindlich. Leon stürmte aus ihrem Zimmer und fing an, seine Jacke zu suchen. Schnell holte Mia den Vergessenszaubertrank und die Schriftrolle aus dem Versteck und stopfte sie auch noch in den Rucksack. Es passte nichts mehr hinein, und so entschied Mia sich kein Buch mitzunehmen. Im offenen Bücherschrank gab es ja genug Bücher. Sie schaute sich noch einmal um, bevor sie den Reisverschluss zuzog.

Da hörte sie Leon laut rufen: „Mama, weißt Du, wo meine Jacke ist?“ Oh, dieser Idiot! Er würde noch alles kaputt machen, bevor es losging. Mama antwortete: „Da, wo Du sie hingeworfen hast. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass Du deine Jacke an der Gardrobe aufhängen sollst!“

Da hörte Mia auch schon, wie Mama von Leon wissen wollte, was er vorhabe. Worauf er antwortete: „Das ist ein Geheimnis! Und manchmal sei es besser, wenn Eltern nicht wüssten, was ihre Kinder vorhaben.“ Mia erstarrte zur Salzsäule. „Wie bescheuert konnte man eigentlich sein?“, dachte Mia. Sie musste jetzt schnell reagieren. Also lief sie mit dem Rucksack in den Flur und zog sich ihre Jacke an. Zu Mama sagte sie: „Wir wollen nur schnell zu Wilhelm und ihm ein Buch vorbeibringen.“ Mama schaute sie zwar fragend an, aber schien sich mit der Antwort zufrieden zu geben. Sie ging wieder in die Küche, wo sie beim Plätzchen backen war. Inzwischen hatte Leon seine Jacke gefunden und angezogen. Warm eingepackt machten sie sich auf den Weg zum offenen Bücherschrank.

Sie bemerkten nicht, wie Mama ihnen durchs Küchenfenster nachschaute. Als sie sah, dass die Beiden nach links abbogen, bekam sie Panik. Könnte es sein, dass sie tatsächlich zu Wilhelm gehen würden? Aber nicht zu seiner Wohnung, denn die lag in der anderen Richtung. Und heute war der 1. Dezember.

Hysterisch rief sie nach Papa, der sofort aus dem Wohnzimmer angestürmt kam. „Was ist los? Brennt es?“ „Nein, es brennt nicht. Aber die Kinder sind mit Wilhelm verabredet und wie es aussieht, treffen sie sich am offenen Bücherschrank. Papa sah den Kalender an der Küchenwand mit dem Datum. Er begriff sofort, was das hieß. Er war schon fast aus der Haustür, als er Mama zurief: „Komm endlich! Wir müssen hinterher!“

Währenddessen hatten Mia und Leon schon die Hälfte des Weges zurückgelegt. Da vorne war der offene Bücherschrank und Wilhelm war schon da. Er winkte den Beiden fröhlich zu und sie fingen an zu rennen. Als sie Wilhelm erreichten, strahlte er sie mit seinem breitesten Lächeln an: „Hallo, ihr zwei! Leon, ich freue mich sehr, dass Du dabei bist!“ Worauf Mia einwarf, dass Leon ein Idiot sei, weil er fast alles verraten hätte. „Ich bin kein IDIOT!!! Was kann ich dafür, wenn Mama mich fragt. Schließlich darf ich sie doch nicht anlügen.“ „Ach, ja? Und warum lügst Du dann immer, wenn es darum geht, wie lange du schon mit deiner Playstation gespielt oder Fernsehen geschaut hast?“  „Das ist was ganz anderes, aber das verstehst Du nicht!“ Wilhelm hörte sich das Geplänkel an und beendete es schließlich: „Hört auf zu streiten. Jetzt sind wir hier kurz vor unserem neuen Abenteuer!“ Während er das sagte, schaute er besorgt die Straße zurück. Aber niemand war zu sehen und es schien alles in Ordnung zu sein.

Was er nicht sah, war, dass Mama und Papa sich hinter der Litfaßsäule versteckt hatten, dem einzigen möglichen Versteck zwischen Wohnung und dem offenen Bücherschrank. Es war gar nicht so einfach sich dort zu verstecken, ohne gesehen zu werden. Sie standen da, wie zwei „Ölsardinen in einer Dose“. Zudem war ihnen auch bitterkalt, denn sie waren ohne Jacken und in Hausschuhen rausgelaufen. Und ausgerechnet heute gab es zum ersten Mal Minustemperaturen. „Wo war den die Klimakrise, wenn man sie brauchte?“, dachte Papa und wusste sofort, dass dies ein ganz dämlicher Gedanke gewesen war.

Die Beiden beobachteten, wie Mia eine Rolle aus dem Rucksack nahm.

Mia gab sie Wilhelm, der die Rolle ein wenig auseinanderrollte. Leon verstand nicht, was das zu bedeuten hatte, aber es schien so, dass die Beiden auf etwas warteten. Doch es passierte überhaupt nichts. Wilhelm kratzte sich am Kopf und schien nachzudenken. „Warum funktioniert es nicht, Wilhelm?“ fragte Mia ängstlich. Wilhelm war sich nicht sicher, aber er hatte eine Theorie. „Vielleicht merkt die Schriftrolle, dass Leon dabei ist. Da sie ihn nicht erkennt, könnte das der Grund sein, dass sich die Magie der Schriftrolle verschließt.“ „Aber es muss doch einen Weg geben, dass wir zu dritt in den Schrank gelangen können.“, erwiderte Mia. So fingen alle drei an zu überlegen, welche Möglichkeiten sie noch hatten. Da fing Mia vorsichtig an zu sprechen: „Wenn wir Leon in unsere Mitte nehmen, und jeder von uns Beiden jeweils eine Hand von Leon nehmen bilden wir eine Kette. Dann könnte die Schriftrolle doch merken, dass Leon kein Fremder für uns ist und gibt ihre Magie wieder frei.“ Wilhelm dachte über Mias Worte nach und nickte: „Mia, vielleicht hast Du Recht. Lass es uns versuchen!“

Papa schaute vorsichtig hinter der Litfaßsäule hervor. „Was machen sie?“, wisperte Mama. Zähneklappernd beschrieb Papa, was er sah: „Leon steht jetzt zwischen Mia und Wilhelm. Und jetzt nimmt jeder von den Beiden eine von Leons Händen. Jetzt lugte auch Mama hinter der Litfaßsäule hervor: „Warum machen sie das?“. Aber darauf hatte Papa keine Antwort.

Da standen die Drei nun. fassten sich an den Händen und Wilhelm umklammerte mit seiner freien Hand die Schriftrolle. Sie schauten in den offenen Bücherschrank, aber wieder passierte nichts. Was war nur los? Warum funktionierte es nicht? Doch da war plötzlich eine Bewegung im Schrank. Ein kleiner Mann in einer braunen Kutte lief durch den Schrank. Er schien ein wenig verwirrt zu sein und etwas zu suchen. „Wer ist das?“, fragte Leon. Mia schüttelte nur den Kopf. Dieser Figur war sie noch nicht begegnet. Wilhelm schwieg und schien nachzudenken. Schließlich meinte er, dass ihn die Figur an jemanden erinnern würde. Aber er kam nicht darauf, an wen. Doch da hatte er plötzlich einen Namen: „Ja, er sieht aus wie Catweazel“. Gerade wollte Mia fragen, wer das denn sei, als sie bemerkte, dass sich etwas verändert hatte. Ja, tatsächlich! Sie waren im offenen Bücherschrank.

Zum wiederholten Mal schaute Papa aus seinem Versteck heraus und bekam den Schreck seines Lebens. „Susanne, sie sind weg!“ Jetzt kamen Mama und Papa hinter der Litfaßsäule hervor und rannten zum offenen Bücherschrank, wo vor nicht mal einer Minute noch Wilhelm mit den Kindern stand. „Sebastian, das kann doch nicht wahr sein! Wo sind sie hin?“ Papa hatte keine Antwort und beide fingen an zu suchen.